Geruhsam und bester Stimmung geht Pagel dem Walde zu, in den Wald hinein, den Gendarmen nach, auf den Zuchthäuslerfang. Ein Rittmeister von Prackwitz konnte ihm die Laune lange nicht mehr verderben. Was für ein Kind, solch ein Mann, ein törichtes, unüberlegtes Kind! Da kam er von seiner Reise zurück, mit einem krachneuen Auto, und das erste war, daß er dem jungen Mann den Herrn zeigte! Der junge Mann machte sich nichts daraus, er ging gerne in den Wald; es lag ihm nichts daran, auf dem gleichen Büro mit solchem Brötchengeber zu sitzen. Es gefiel ihm sogar besser im Walde!
Eine ulkige Kruke, solch Chef! Grobste einen Mann an, der doch jeden Augenblick den Finger heben, auf das Auto zeigen und fragen konnte: »Na – und meine zweitausend Goldmark?«
Nicht, daß man das grade täte! Studmann würde schon dafür sorgen, daß man eines Tages zu seinem Gelde kam, wenn man es brauchte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte man zum Rittmeister gesagt: »Ach, lassen Sie doch diesen Kram! Ich will das Geld ja gar nicht wiederhaben!«
Damals war der Rittmeister rot angelaufen und hatte sehr erregt von »Ehrenschulden« gesprochen. Zeit war seitdem ins Land gegangen, einiges hatte sich geändert, man hatte Briefe geschrieben und empfangen. Jetzt dachte man über Geld sehr anders, seitdem man von einem kleinen monatlichen, gnädigst vom Rittmeister bewilligten (obwohl man ja eigentlich noch gar nichts leistete), seitdem man also von einem jämmerlichen Taschengeld Briefmarken und Schuhsohlen, Wäsche, weiße Kragen und Zigaretten bezahlen mußte. Jetzt wäre einem eine kleine Abschlagszahlung manchmal ganz zupaß gekommen. Aber hätte man jetzt einen Ton davon geäußert, so wäre der Rittmeister wiederum rot angelaufen und hätte erregt gerufen: Aber, Pagel, Mensch, Sie wissen doch, wie meine Finanzen grade jetzt stehen!
Trotzdem hielt ein funkelnagelneues Auto vor der Tür! Trotzdem wurde man wie ein dummer Junge in den Wald geschickt. Wahrhaftig, putzige Kruke!
Pagel schlendert unter diesen Gedanken immer weiter durch den Wald. Er hat keine Ahnung, in welchem Jagen die Gendarmen treiben. Er war nicht dabei, als das auf dem Büro besprochen wurde. Aber wenn er sich nur auf den Kartoffelschlag zu hält, wird er sie schon finden!
Vorläufig geht er also weiter und denkt nach. Ganz gemütlich und zufrieden. Es wäre wirklich falsch, zu glauben, er habe einen Ärger auf den Rittmeister. Nicht die Spur! Die Menschen sind so, wie sie sind. Die närrischen Menschen geben einen ausgezeichneten Hintergrund für Petra ab. Je närrischer die andern sind, um so klarer hebt sich dies Mädchen von ihnen ab. Mit einem Gefühl tiefverbundener Zärtlichkeit denkt Wolfgang an seinen Peter. Dies Gefühl wird immer stärker. Es ist nicht soviel Sehnsucht und Verlangen darin wie Freude, seit er von Minna erfahren hat, daß er Vater werden wird. Es ist ein seltsames Gefühl. Es ist eine verdammte Zeit, ein Vierteljahr noch, genau vierundneunzig Tage, bis sie ihm erlaubt, zu ihr zu kommen! Mittlerweile denkt er darüber nach, was sie alles schon gemeinsam erlebt haben, wie das war und was dann geschah. Eine gute Sache! Aber auch komisch! Als er mit Petra zusammen lebte, da hat er eigentlich wenig an sie gedacht, da drehte sich alles um das Spiel. Nun er in Neulohe wohnt, lebt er eigentlich hauptsächlich bei der Pottmadamm. Komisch! Ob wohl einmal eine Zeit im Leben kommt, wo man das Gefühl hat, Erleben und Dabeisein fallen zusammen –? Wo man spürt: Jetzt bist du so glücklich, wie du in deinem ganzen Leben nicht wieder sein kannst? In der Sekunde des Erlebens! Nicht so, daß man erst hinterher entdeckt: Damals war ich glücklich! Wie wir einst so glücklich waren –? Nicht so!
Komisch und gefährlich! Pagel flötet nachdenklich vor sich hin. Einen Augenblick lang überlegt er, ob es gut für den Fang von Zuchthäuslern im Walde ist, wenn man dabei flötet? Ob sie vor seinem Flöten ausreißen oder ob sie eine Attacke auf ihn machen werden, sein Geld, seine Kleidung, seine Pistole zu erobern?! Das Gesicht Marofkes mit den zitternden Hängebacken erscheint einen Augenblick. Aber dann denkt er trotzig: Laß die Brüder nur kommen! Er umfaßt den Kolben seiner Pistole in der Hosentasche und flötet lauter.
Jawohl, es ist komisch und gefährlich, immerzu nur an die Liebste zu denken, sie mit allen andern zu vergleichen – und nur zu ihrem Vorteil! Pagel fragt sich wieder einmal, ob das Bild, das er sich jetzt von Peter macht, überhaupt noch stimmt? So ganz in Gold, das geht doch auch nicht! Sie muß auch Fehler haben, und wenn er sucht, findet er sehr wohl welche. Da ist zum Beispiel ihre Neigung, stumm zu werden, wenn ihr etwas nicht paßt, wenn etwas sie ärgert. Er fragt sie, was ihr ist? Ihr ist nichts. Aber er sieht doch, sie hat etwas! Hat er was falsch gemacht? Nein, ihr ist bestimmt nichts. Eine Viertelstunde muß man auf sie einreden, man kann rasend dabei werden, tobsüchtig von ihrem ewigen »nichts«, man sieht es doch! – Nun schön, da hätten wir einen Fehler. Übrigens wird er ihn ihr abgewöhnen. Ein Mädel wie Peter darf überhaupt keine Fehler haben. Mit ihm ist es eine andere Sache, er ist so fehlerhaft, daß es das Anfangen mit Ausbessern nicht verlohnt …
Pagel ist in Gedanken weiter und weiter gegangen. Längst ist er über den Kartoffelschlag hinaus, er dringt in immer fernere, fremdere Bezirke des Waldes vor. Von den Zuchthäuslern hat er nichts gesehen, und von den Gendarmen hat er auch nichts gesehen. Nicht einmal einen Laut hat er von ihnen gehört. Aber er geht trotzdem weiter, er beschließt bei sich, einen netten Spaziergang zu machen, statt sich diesem albernen Treiben anzuschließen. Denn es muß albern sein, entscheidet Pagel, selbst auf die Gefahr hin, dem großen Oberlandjägermeister zu nahe zu treten, falls dieses Treiben dessen Erfindung sein sollte. Wälder über Wälder, stundenauf, stundenab, verwachsene Dickungen, Schonungen aus Tausenden von kleinen, sperrigen Fichten, anderthalb Mann hoch, einen Mann hoch, über Hunderte von Morgen hin, Tannenschluchten so dunkel, daß man am hellerlichten Tage kaum seine Hand vor Augen sehen kann – und in dieser Wildnis soll man fünf Männer finden, gewitzte, zu allem entschlossene Männer, die ihren ganzen Witz auf den einen Punkt konzentrieren werden, sich nicht finden zu lassen! Unsinn! Barer Unsinn – hier im Walde sieht man erst, wie unmöglich die Durchführung einer solchen Aufgabe ist. Pagel wird schön allein weitergehen, statt mit denen zwischen Dornen und Wacholder herumzukriechen!
Also geht er schön allein weiter, und wie er um die nächste Ecke geht, sagt er: »Hoppla!« und ist nicht mehr allein. Denn da kommt ein kleiner Mann im Gehpelz auf ihn zugegangen, das heißt, zugegangen ist nicht ganz das richtige Wort. Das Männlein hat eine Art Triller im Gehen, ein Staccato; jetzt geht es grade und finster auf Pagel zu, und nun – hupf, mein Madel! – jodelt es ein bißchen mit den Beinen.
»Verdammte Wurzeln!« sagt es zu laut und geht finster und grade weiter. Aber da war keine Wurzel. Einen Schritt vor Pagel bleibt das Kerlchen stehen, mit einem so plötzlichen Ruck, daß es fast gefallen wäre.
Grade hält Wolfgang es noch fest. »Hoppla, Herr Meier!« sagt er freundlich. »Der Deutsche sagt nicht Kognak, er sagt Weinbrand.«
Negermeier betrachtet seinen Nachfolger im Dienst mit kleinen, geröteten Augen. Plötzlich erleuchtet sie der Schein des Erkennens; mit einem breiten, frechen Grinsen kräht er: »Ach, Sie sind das! Ich dachte schon … Na laß, ich hab ’nen Zacken … Haben Sie nich mein Auto irgendwo gesehen?«
»Was?!« fragt Pagel, und ein Verdacht steigt in ihm auf. »Haben Sie jetzt auch ein Auto, Herr Meier? Was machen Sie denn mit einem Auto heute in unserer Forst?«
»Sagen Sie jetzt auch ›unsere‹ Forst?« lacht Meier, »das ist hier jetzt wohl so Mode! Der Förster sagt: meine Forst, der Rittmeister sagt: meine Wälder, die gnädige Frau geht mal ein bißchen in ihrem Wald spazieren, die Weio geht auf Anstand zu ihrer Jagdkanzel, und wem er wirklich gehört, der olle Geheimrat, der redet immer nur von ein paar Kiefernkuscheln!«
Meier lacht, und aus Höflichkeit lacht Pagel mit, aber die Anwesenheit dieser Leuchte der Landwirtschaft grade heute hier in der Forst bleibt ihm weiter verdächtig. »Wo haben Sie denn Ihren Wagen stehenlassen, Herr Meier?« fragt er.
»Wenn ich Hornochse das bloß noch wüßte!« ruft Meier und schlägt sich mit der Hand vor den Kopf. »Darauf zu steht er also nicht?« Pagel schüttelt den Kopf. »Na, denn wollen wir mal hierauf gehen.«
Meier scheint es als selbstverständlich anzusehen, daß ihn Wolfgang begleitet, und dies zerstreut ja ein wenig den Verdacht Pagels, daß Meier ein Bundesgenosse der entsprungenen Zuchthäusler sein könnte.
Meier bummelt jetzt ganz gemütlich und auch ziemlich senkrecht neben Pagel her. Und dabei brabbelt er weiter, anscheinend froh, daß er einen Zuhörer gefunden hat.
»Wissen Sie, ich hab nämlich ’nen Zacken! Ich hab da mit ’nem Freund was gefeiert; eigentlich ein Freund is er nich, aber er denkt, er is es, na, laß das Kind die Bulette. Und dann bin ich hier raus, ich weiß nicht mehr, wie das hieß, es war hier wo, aber ich komm noch drauf. Ich hab ein wunderbares Ortsgedächtnis …«
»Stimmt!«
»Jetzt gehen wir hier die Schneise links rauf. Ihren Namen weiß ich auch nicht mehr, man lernt zu viele Leute im Leben kennen, und nun grade die letzten Wochen, man muß sich doch erst einarbeiten, aber gut ist mein Namengedächtnis, das sagt der Oberst auch immer …«
»Was für ’n Oberst? Sind Sie denn jetzt beim Militär?«
Ein wacher, argwöhnischer, nicht die Spur betrunkener Blick trifft Pagel. Der ist nicht so knille, wie es scheint, denkt Pagel. Achtung!
Aber es ist nur ein Augenblick, Meier lacht schon wieder und sagt schlagfertig: »Sind Sie denn beim Militär und sagen doch zu Ihrem Chef ›Rittmeister‹?! Hat sich ’nen feinen Wagen gekauft, das Aas, habe ihn heute in Frankfurt Probe brausen sehen, nobel muß die Welt zugrunde gehen. Was macht denn die kleine Weio?«
»Hier scheint Ihr Wagen auch nicht zu stehen.«
»Ziehen Sie bloß kein Gesicht, dann muß ich nur lachen! Sie sind wohl auch abgehängt, ist der Leutnant immer noch der Erste? Jottedoch, so ’n Kind! Muß Liebe schön sein. Na –«, in einem ganz andern Ton, drohend: »Jetzt wird der Herr Leutnant abgehängt, dem wird einiges sauer aufstoßen! Der soll sich auch lieber die Brust waschen, der wird erschossen!«
»Sie sind wohl mächtig eifersüchtig, Herr Meier?« erkundigt sich Pagel freundlich. »Das war wohl wegen des Leutnants, daß Sie damals in der Nacht so geschrien haben? Ihre Briefabschrift habe ich übrigens im Kreisblatt gefunden.«
»Ach, die dußlige Briefabschrift! Die dürfen Sie sich von meinswegen sauer kochen. Mit solchen Kleinigkeiten geben wir uns jetzt nicht mehr ab. Jetzt haben wir andere Kisten! Na ja, davon versteht so ’n junger Mensch vom Lande nichts. Sie haben keine Ahnung, was ich für Geld verdiene!«
»Aber das sieht man doch, Herr Meier!«
»Nicht wahr? Sehen Sie mal die Ringe, alle echt, schöne Steine. Ich hab einen Bekannten, da kriege ich sie zum halben Preis. Und wo ich überhaupt nur in Devisen zahle …«
Wiederum brach er plötzlich ab, wiederum mit dem tiefen, argwöhnischen Seitenblick. Aber Pagel hatte das verräterische Wort überhört, Pagel spürte auf einer andern Spur.
»Ist das aber nicht ein bißchen gefährlich, Herr Meier?« fragt Pagel. »Hier so ganz alleine mit soviel Schmuck und Geld im Walde spazierenzugehen? Es kann Ihnen doch mal was passieren!«
»I wo!« lacht Meier verächtlich. »Was soll mir denn passieren? Mir ist noch nie was passiert! Haben Sie ’ne Ahnung, Mensch, was ich schon alles erlebt habe – und mir ist noch nie was passiert. Hier«, sagt er und stampft mit dem Fuß auf den Waldboden, »hier, in diesem Wald ist mal einer hinter mir hergegangen, eine Viertelstunde lang, immer den Revolver an meiner Birne – und hat mich totschießen wollen. Na, hat er mich totgeschossen –?«
»Dolle Dinge erleben Sie!« lacht Pagel etwas ungemütlich. »Sollte man gar nicht glauben … Er wird’s wohl nicht so im Ernst gemeint haben …«
»Der –? Der hat das ernst gemeint! Das Ding war geladen, und er hat mich nur darum immer weitergehen lassen, daß er an eine Stelle kommt, die ein bißchen versteckter ist. Daß sie nämlich meine Leiche nicht gleich finden …«
Etwas Finsteres, Grausiges geht von diesen Worten aus. Pagel sieht den kleinen Mann von der Seite an; es braucht nicht wahr zu sein, was der sagt, aber der kleine Mann glaubt daran, daß es wahr ist … drohend bewegt er die Lippen …
»Aber ich kriege den Hund! Wenn ich Angst gehabt habe, der soll hundertmal soviel Angst haben! Und wenn ich weggekommen bin, der soll nicht wegkommen …«
»Nun, Herr Meier«, sagt Pagel kühl, »sollte der Herr Leutnant irgendwo tot gefunden werden, Sie dürfen sicher sein, in der ersten Stunde erfährt die Polizei von mir …«
Meier fährt herum und starrt Pagel finster an. Plötzlich aber ändert sich sein Gesicht, seine dicken Wulstlippen verziehen sich, seine Eulenaugen lächeln höhnisch: »Und Sie glauben, ich bin so dusselig und schieß auf den Kerl?! Schieß womöglich vorbei, und der Hund schlägt mich tot? Das wär mir ’ne schöne Rache! Nein, Mensch, wer Meier sagt, sagt richtig! Angst soll er haben, der Hund, hetzen tu ich ihn, seine Ehre nehm ich ihm, anspucken sollen ihn alle – und dann, dann, wenn es gar keinen Ausweg mehr für ihn gibt, dann soll er sich selber abknallen, der Hund! So – und nicht anders!«
Er steht triumphierend vor Pagel, fast zitternd, von Rausch ist nichts mehr zu merken, höchstens, daß der Alkohol seine Rachsucht noch stärker angefacht hat, ihn ausschwatzen läßt, was er sonst still bei sich herumträgt. Pagel sieht ihn an. Er nimmt sich in acht, den Ekel vor diesem Kerl sichtbar werden zu lassen; er hat das bestimmte Gefühl, hinter all dem Geschwätz steckt viel, was es gut wäre zu wissen. Man muß klug sein, ihn aushorchen, den Meier.
Aber dann bricht doch Wolfgangs Jugend bei ihm durch, der Abscheu der Jugend vor Krankem, vor Laster und Verbrechen. Er sagt verächtlich: »Ein schönes Stückchen Scheiße sind Sie!« Und wendet sich, um zu gehen.
»Na, und wenn?!« ruft Meier herausfordernd. »Geht Sie das was an? Hab ich mich gemacht? Haben Sie sich gemacht? Ich möcht mal wissen, wie Sie aussehen würden, wenn man Sie immer als Dreck unter den Schuhen behandelt hätte, wie man’s bei mir getan hat! Sie sind doch ein feiner Mutterjunge, das sieht man, höhere Schule und alles, was dazu gehört …«
Er beruhigt sich ein wenig.
Pagel sagt: »Wenn Sie glauben, daß die höhere Schulbildung einem den schlimmeren Schweinehund austreibt –? Aber manche fühlen sich eben im Dreck wohl.«
Meier sieht ihn einen Augenblick böse an, dann aber lacht er: »Wissen Sie was, was sollen wir uns darüber streiten? Ich denk immer: Man lebt so kurz und ist so lange tot, da muß man sehen, daß man auch ein bißchen gut lebt. Und weil zum Gutleben Geld gehört und ein armes Luder auf anständige Weise nicht zu Geld kommt …«
»So machen Sie’s auf unanständige. Ich verstehe nur nicht, Herr Meier, warum Sie da so hinter dem Leutnant her sind. Wenn der hops geht, verdienen Sie doch kein Geld –?«
So harmlos Pagel das auch gesagt hat – sofort ist wieder der argwöhnische, rasche Blick da. Aber Meier antwortet diesmal nicht, er biegt in eine neue Schneise ein und murrt: »Gottverdammich, wo bloß dieses elende Auto steckt?! Rein verdreht muß ich doch sein … Gehn wir eigentlich immerzu im Kreise?« Er sieht Pagel wieder böse an, er murmelt: »Sie können mich auch ruhig allein laufen lassen. Helfen tun Sie mir doch nicht.«
»Ich hab Angst, Ihnen könnte doch was passieren«, sagt Pagel höflich. »Die schönen Ringe, das viele Geld …«
»Mir passiert nichts, habe ich Ihnen doch schon gesagt. Wer klaut hier im Walde Ringe?«
»Zuchthäusler!« sagt Pagel ruhig und beobachtet seinen Mann scharf.
Aber Meier zuckt nicht, dem Meier ist nichts anzumerken. »Zuchthäusler? Was denn für Zuchthäusler?«
»Unsere, von unserm Arbeitskommando«, sagt Pagel und ist überzeugt, daß er mit seinem Verdacht unrecht hatte. (Aber was tut der kleine Meier dann hier im Walde?) »Uns sind nämlich von unserm Arbeitskommando heute früh fünf Mann ausgerissen.«
»Gottverdammich!« schreit Meier, und sein Schreck ist echt. »Und die stecken hier im Walde?! Mensch, Sie machen Witze – Sie laufen doch hier auch so rum …«
»Gar nicht!« sagt Pagel und zieht die Pistole halb aus der Tasche. »Und außerdem suche ich die Gendarmen. Eine halbe Hundertschaft stöbert nämlich im Wald.«
»Jetzt schlägt’s dreizehn«, sagt Meier und bleibt überwältigt stehen. »Fünf Zuchthäusler und fünfzig Laubfrösche – und ich mittendrin mit meinem Knatterkasten! Das kann ins Auge gehen … Herr, Mensch, in drei Minuten muß ich meinen Wagen haben! Wie hieß es doch? Jetzt habe ich’s! Schwarzer Grund – kennen Sie das?«
Pagel hat den Eindruck, als habe der kleine Meier immer diesen Namen gewußt, habe ihn nur nicht nennen wollen. Und auch jetzt sieht ihn Meier argwöhnisch an. Aber warum eigentlich, es ist eine Forstbezeichnung wie alle andern auch!!
»Dagewesen bin ich noch nicht«, sagt er. »Aber ich hab’s auf der Karte gelesen. Das liegt ganz nach Birnbaum zu, und wir suchen immer in Richtung Neulohe.«
»Idiot ich!« Meier schlägt sich mit der Faust gegen den Kopf. »Also los, Mensch, wie heißen Sie doch –?«
»Pagel.«
»Machen Sie auch die Augen auf, aber hier in dem Sand findet ja sogar ein Regenwurm ’ne Autospur! So lang? Schön, aber gehen wir so lang auch wirklich richtig?«
»Ja, ja«, beruhigt ihn Pagel. »Aber warum sind Sie denn plötzlich so furchtbar aufgeregt? Ich denke, Ihnen passiert nichts?«
»Na, Mensch, Sie möchte ich sehen! Wenn mir das zerplatzt! Verdammt noch mal! Ich muß auch ewig Pech haben! Der elende Suff …«
»Was denn zerplatzt?«
»Was geht denn Sie das an?!«
»Ich möchte es gerne wissen.«
»Dann fragen Sie im Fragekasten von der Zeitung bei der Klugen Mathilde an!«
»Es ist nämlich noch gar nicht ausgemacht, daß wir jetzt wirklich zum Schwarzen Grund gehen.«
Meier bleibt stehen, er starrt den jungen Pagel haßerfüllt an. Er möchte ihm sicher jetzt gerne etwas tun, aber er besinnt sich, er knurrt: »Was möchten Sie denn wissen?«
»Warum haben Sie es plötzlich so eilig?«
Meier überlegt, unwirsch sagt er: »Ich habe ein Geschäft in Frankfurt.«
»Das haben Sie vor fünf Minuten auch gehabt, und da hatten Sie es gar nicht eilig.«
»Lassen Sie sich Ihren neuen Wagen gerne von Zuchthäuslern klauen? Wenn es auch nicht so ein piekfeiner Horch wie von Ihrem Rittmeister ist, sondern bloß ein Opel-Laubfrosch.«
»Sie haben auch einen Schreck gekriegt, wie ich von den Gendarmen geredet habe.«
»Nein!«
»Doch!«
»Also: Ich habe noch keinen Führerschein. Und überhaupt, ich habe nicht gern mit der Polizei zu tun.«
»Wegen Ihrer Geschäfte?«
»Also ja! Meinethalben – ich schiebe ein bißchen.«
Pagel sieht den kleinen, häßlichen Menschen prüfend an. All das kann stimmen; aber wahrscheinlicher ist es, daß es nicht stimmt, daß der Kerl lügt.
»Und was machen Sie heute hier, in unserm Walde?« fragt er.
Aber Meier ist viel zu schlau. Diese Frage hat er längst kommen sehen. Er verflucht innerlich sein betrunkenes, rachegieriges Gefasel wegen des Leutnants. Aber seit er gesehen hat, daß Pagel bei den Worten »Schwarzer Grund« nicht zusammengezuckt ist, seit er weiß, daß Pagel nichts weiß, ist er siegesgewiß.
»Was ich hier in euerm Walde tue?« fragt er. »Sie sollten’s eigentlich nicht wissen, aber Sie werden das Maul halten. Euern Förster habe ich euch wiedergebracht, euern Kniebusch. Voll wie eine Strandkanone pennt er in meinem Wagen.«
»War der Förster nicht in Frankfurt zum Termin –?«
»Richtig! Sie haben’s erfaßt!« Meier ist wieder ganz obenauf. »Aber nun lassen Sie uns losgehen, richtig nach dem Schwarzen Grund. Euer Förster hat Termin gehabt in seiner Sache mit Bäumer, und euer Rittmeister, der ein großer Mann ist, hat ihm beistehen wollen, ist dann aber abgehauen, großer Mann, sich ein Auto kaufen …«
»Und der Termin?«
»Geplatzt! Wegen Mangel an Beteiligung! Weil der Bäumer heute früh getürmt ist. Heute türmen sie anscheinend alle. Ich türme auch. Gleich. – Hurra! Und hier haben wir die Autospur – wer sagt es denn? Nun kommen Sie man die paar Schritte mit, daß Sie sich Ihren Kniebusch bekieken, damit Sie auch wissen, ich sohle Sie nicht an …«
»Warum sind Sie denn hier hinten in den Wald gefahren, wenn Sie Kniebusch nach Hause fahren wollten? Und wie haben Sie denn Ihren Wagen verloren?«
»Sie haben ’ne Ahnung vom Dunsein, Mensch! Sie sind wohl noch nie knille gewesen? So blau konnten wir doch nicht ins Dorf fahren – so blau waren wir ja nun doch wieder nicht. Fahren wir also hintenrum. Na, und wie wir hier im Walde sind, da spür ich ein menschliches Rühren. Raus muß ich, der Kniebusch pennt, ich stolpere aus dem Wagen, in den Graben, raus, hinter einen Busch – eingepennt muß ich dann sein. Na, und wie ich aufwache, weiß ich ja erst gar nicht, was los ist … Ick socke einfach so los, und da treffe ich Sie. – Hoppla, und hier habe ich meinen Wagen!«
Es ist freilich wirklich kein solches Prunkstück wie der Prackwitzsche Wagen, es ist ein richtiger Opel-Laubfrosch, eine Nuckelpinne … Aber das interessiert Pagel im Augenblick nicht so sehr. Es ist ja ein sehr kleiner, niedriger Wagen, der Höhenunterschied zwischen dem Waldboden und der Grundfläche des Wagens ist nicht bedeutend. Trotzdem ist es eine recht unbequeme Lage, in der da der Förster schläft, mit dem Kopf im Walde, mit den Füßen im Auto.
Pagel hätte ja eigentlich noch einige argwöhnische Fragen an Herrn Meier zu stellen, woher er zum Beispiel auf den Namen Schwarzer Grund kommt. Aber Meier wird schon für alles eine Antwort wissen, eine wahre oder eine erlogene, wie der ganze Kerl ja ein unentwirrbares Gespinst aus Lügen und Wahrheit ist. Es wird schon ungefähr stimmen, was er erzählt hat, und wenn es auch nicht ganz stimmt, weil ja der geheimnisvolle Leutnant in der Erzählung völlig fehlt, der nach Pagels Gefühl unbedingt hineingehört, die Wahrheit aus dem Kerl rauszukriegen, das würde zu lange dauern. Jetzt muß unbedingt erst einmal der Förster nach Haus und ins Bett. Die jetzige Lage kann für einen fast Siebzigjährigen nicht gut sein, der Kopf ist blaurot.
»Rein! Rein mit ihm!« befiehlt darum Pagel, denn Meier will den alten Mann aus dem Auto zerren.
»Wieso rein? Ich hau ab! Ich hab’s eilig! Raus mit ihm!«
»Rein! sage ich. Wahrscheinlich haben Sie den Kniebusch besoffen gemacht, so werden Sie ihn auch nach Haus fahren.«
»Keine Ahnung! Ich hab’s eilig. – Und ich will mich in Neulohe auch nicht sehen lassen.«
»Brauchen Sie gar nicht! Sie können bis an die Försterei durch den Wald fahren. Da sieht Sie keiner.«
»Und wenn ich unterwegs geschnappt werde? Von den Landjägern oder den Zuchthausbrüdern? Nee, ich hau ab!«
»Herr Meier!« warnt ihn Pagel. »Machen Sie keine Dummheiten! Lieber schieße ich Ihnen die Reifen am Wagen kaputt, als daß ich Sie weglasse!«
Meier sieht wütend nach der Hand mit der Pistole.
»Also fassen Sie an!« sagt er mürrisch. »Stecken Sie das Dings nur wieder weg! Jahupp, rin in die Ecke! Ach, is ja egal, wie er sitzt, der fällt doch gleich wieder um. Hauptsache, daß wir die Tür zukriegen. Ich weiß nicht«, schimpft Meier plötzlich wütend, »mit Neulohe habe ich auch immer Pech. Was ich auch mit Neulohe anfange, immer wird Dreck daraus. Aber ich revanchiere mich noch mal. Ihr Brüder werdet mich schon noch in den Magen kriegen –!«
»Haben wir schon, Herr Meier! Haben wir schon reichlich!« sagt Pagel vergnügt und setzt sich neben Meier. Er freut sich, wie wütend der Kleine über die erpreßte Fuhre ist. »Ich würde auch nicht so hupen, schließlich besinnen sich die Herren Zuchthäusler noch darauf, daß mit einem Wagen am bequemsten nach Berlin zu kommen ist. So, nun ein bißchen links halten … Donnerwetter, was ist das?!«
Ein großer, blauweißer Wagen schreit in der Kurve dicht vor ihnen auf.
»Der Horch vom Rittmeister!« flüstert Meier und lenkt seinen Laubfrosch dicht an die Stämme.
Der große Wagen heult noch einmal auf und rast an ihnen vorbei.
»Der Rittmeister und die süße Weio!« grinst der kleine Meier, weiterfahrend. »Na, uns haben sie nicht erkannt. Ich habe die Hand gleich vors Gesicht gehalten. Fahren Probe, scheint’s. Viel Spaß – lange wird die Herrlichkeit wohl nicht mehr dauern.«
»Wieso denn das, Herr Meier?« fragt Pagel spöttisch. »Meinen Sie, der Rittmeister geht pleite, weil Sie nicht mehr sein Beamter sind?«
Aber Meier antwortet nicht. Er ist noch kein sehr geübter Fahrer, der holprige, sandige Waldweg nimmt all seine Aufmerksamkeit in Anspruch.
Schließlich kommen sie zur Försterei, sie laden den Förster aus, sie legen ihn auf ein Bett. Die Frau im Lehnstuhl schilt vor sich hin, daß sie den Mann betrunken nach Haus gebracht haben, daß sie ihn auf das falsche Bett gelegt haben, daß sie ihn nicht ausziehen …
»Na also denn, Herr Meier!« sagt Pagel. Der kleine Meier sitzt schon wieder im Wagen. Pagel sieht ihn aufmerksam an, und dann streckt er ihm die Hand hin. »Also, gute Fahrt!«
Meier sieht den Pagel an, Meier sieht die Hand an.
»Wissen Sie was, Mensch«, sagt er. »(Ihren Namen behalte ich auch nie!) Wissen Sie was: Ich werde Ihnen meine Hand nicht geben, und es wird auch so gehen. Sie finden ja, ich bin ein Riesenschwein … Aber so ein Riesenschwein bin ich nun doch nicht, daß ich Ihnen jetzt die Hand gebe. Also denn!«
Meier schlägt die Wagentür krachend zu, Pagel starrt ihn verblüfft an. Meier nickt durch das Wagenfenster noch einmal, und es scheint da jetzt ein ganz anderes Meier-Gesicht zu nicken: ein trauriges, elendes. Dann fährt der Wagen los.
Pagel starrt ihm eine Weile nach. Armes Schwein, denkt er bei sich. Armes Schwein!
Und Pagel meint beides, das »arm« und das »Schwein«. Dann geht er auf den Hof, ganz unsicher, ob er etwas sagen soll, was er sagen soll, wem er etwas sagen soll.
Er wird es sich überlegen – eine Kleinigkeit zu lange.