Um sieben Uhr abends klappte Pagel seine Bücher mit dem Seufzer: »Es hilft ja doch alles nichts!« endgültig zu.
Er warf noch einen Blick durch das Büro, ehe er das Licht ausschaltete, er sah den Geldschrank an mit seinen Arabesken, das rohe Aktenregal mit Reichsgesetzblatt und Kreisblatt. Die Schreibmaschine war zugedeckt, er hatte noch so manchen Brief an seine Mutter darauf geschrieben – für Petra.
Morgen fliege ich, dachte Pagel mutlos. Es ist eigentlich kein schöner Schluß – im ganzen habe ich meine Arbeit ja doch gerne getan. Es wäre netter, wenn hier morgen jemand stünde und sagte: Danke schön, Herr Pagel, Sie haben Ihre Sache gut gemacht! Statt dessen wird der Geheimrat nach Polizei und Gericht schreien!
Er schaltete aus, schloß ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging durch den stockdunklen Abend zur Villa hinüber. Für ausgangs November war die Luft heute abend merkwürdig warm. Auch wehte keine Spur von Wind, nur war alles sehr feucht.
»Grippewetter!« sagte Pagel. Der Doktor hatte ihm erzählt, die Leute stürben wie die Fliegen, Junge wie Alte. Zu lange unterernährt, erst der Krieg, dann diese Inflation … Arme Luder, dachte Pagel. Ob es nun wirklich besser wird mit dem neuen Geld –?!
In der Villa wartete Amanda schon mit dem Essen und mit tausend Klatschereien, die sie von den Weibern gehört hatte. »Denken Sie, Herr Pagel, was die sich jetzt ausgedacht haben! Sie sollen mit der Sophie unter einer Decke gesteckt haben – und daß der Förster grade bei Ihnen gestorben ist, das haben Sie nur gemacht, damit er nicht reden kann.«
»Ach, Amanda«, sagte Pagel gelangweilt. »All das ist so dumm und dreckig. Wissen Sie nicht irgend etwas Nettes, sagen wir, aus Ihrer Jugend, was Sie mir mal erzählen könnten?«
»Was Nettes –? Aus meiner Jugend?« fragte Amanda ganz verblüfft, und grade wollte sie loslegen und ihm erzählen, was mit ihrer Jugend los gewesen war …
Da ging die Klingel der Villa – und über ihren Abendbrottellern sahen sich die beiden an wie ertappte Verbrecher.
»Das kann doch noch nicht der Geheimrat sein?« flüsterte Amanda.
»Unsinn!« sagte Pagel. »Es ist kaum halb acht – es wird irgendwas im Stall los sein. Machen Sie auf, Amanda.«
Aber er hielt es dann doch nicht aus und ging ihr nach und kam grade zurecht, als die heftig protestierende Amanda von einem Mann beiseite geschoben wurde. Der vierschrötige Mann hatte einen steifen, schwarzen Hut auf, er hatte einen Kopf wie ein Stier – und nun traf der Blick, kalt, eisig, unvergeßbar, den jungen Pagel.
»Ich habe ein Wort mit Ihnen zu reden«, sagte der dicke Kriminalist. »Aber schicken Sie dies Frauenzimmer weg. Halt den Schnabel, du Schnattergans!«
Und auf der Stelle schwieg Amanda.
»Warten Sie auf der Diele, Amanda«, bat Pagel. »Kommen Sie bitte.« Und er ging, mit starkem Herzklopfen, dem Mann voran in das Eßzimmer.
Der Mann schoß einen Blick auf den Tisch mit den zwei Gedecken, dann sah er Pagel an. »Ist das da draußen Ihre Geliebte?« fragte er.
»Nein«, sagte Pagel. »Das war die Freundin von Inspektor Meier. Aber es ist ein gutes Mädchen.«
»Auch ein Schwein, das ich noch erwischen möchte«, sprach der Dicke und setzte sich an den Tisch. »Halten Sie sich nicht mit Decken auf, ich bin hungrig und muß gleich weiter. Erzählen Sie mir, was hier los ist, warum Ihre Gnädige fort ist, warum Sie hier in der Villa wohnen – alles. Klar, kurz, bündig.«
Der dicke Mann aß, wie er war: hart, ohne Zusehen, eilig, gierig. Pagel erzählte, als müßte es so sein …
»Also hat sie schließlich doch schlappgemacht, Ihre Gnädige, hätte ich mir ja denken müssen!« sagte der Dicke. »Geben Sie mir jetzt eine Zigarre. Haben Sie gemerkt, daß ich das war, der Sie heute nachmittag anrief?«
»Ich dachte es«, sagte Pagel. »Und –?«
»Und Sie sitzen nun selbst hier im Schlamassel? Zeigen Sie mir mal die beiden Wische von Ihrer Gnädigen.«
Pagel tat es.
Der Dicke las sie. »In Ordnung«, sagte er. »Sie haben nur vergessen, sich auch wegen der Verkäufe nach der Abreise von der Gnädigen sicherzustellen.«
»Verdammt!« sagte Pagel.
»Macht nichts«, sagte der Kriminalist. »Sie können das nachholen.«
»Aber der Geheimrat kommt schon heute abend.«
»Sie werden den Geheimrat nicht mehr sehen. Sie fahren heute abend nach Berlin, lassen Sie sich heute nacht noch von der Gnädigen aufschreiben, daß sie auch mit den letzten Verkäufen einverstanden ist. Heute nacht noch. Versprechen Sie mir das? Sie sind leichtsinnig in solchen Dingen!«
»Sie haben Nachrichten von Fräulein Violet?!« rief Pagel.
»Sitzt drunten im Wagen!« sagte der Dicke.
»Was?!« schrie Pagel und sprang zitternd auf. »Was?! Und Sie lassen mich hier sitzen und sie warten?!«
»Halt!« sagte der Dicke und legte ihm seine Hand wie eine nicht abzuschüttelnde Fessel auf die Schulter. »Halt, junger Mann!«
Pagel sah ihn wütend an und wollte sich befreien.
»Es stimmt nicht ganz, was ich Ihnen eben gesagt habe. Was da im Wagen sitzt, das ist das, was von Ihrem Fräulein Violet noch übrig ist. Bedenken Sie, zwei Monate lang ist sie systematisch von Sinn und Verstand geängstigt worden – von Sinn und Verstand! Sie verstehen mich doch –?«
Er sah Pagel eisig an.
»Ich weiß nicht«, sagte der Kriminalist finster, »ob ich ihrer Mutter einen Dienst tue, daß ich sie ihr wiederbringe. Ich habe auch nicht extra nach ihr gesucht – denken Sie das bloß nicht. Aber man hört viel, wenn man so weit im Lande herumkommt wie ich. Die alten Kollegen rechnen einen noch immer dazu, wenn die großen Bonzen mich auch abgesägt haben. Und da ist sie mir eben über den Weg gelaufen. Was soll ich mit ihr anfangen? Ich weiß auch nicht, ob Sie das Mädchen ohne weiteres der Mutter bringen können, das müssen Sie alles selber entscheiden. Sie darf hier nur nicht bei den alten Leuten bleiben. Bringen Sie sie diese Stunde noch mit einem Auto weg … Irgendwohin, wo Ruhe ist und Sicherheit. Wozu wollen Sie sich hier noch von dem alten Kaffer anschnauzen lassen?! Fort mit Ihnen!«
»Ja …«, sagte Pagel gedankenvoll.
»Nehmen Sie das dicke Frauenzimmer von der Diele mit. Schon, daß Sie eine weibliche Hilfe während der Fahrt haben und daß die Leute nicht noch mehr über Sie reden können.«
»Gut«, sagte Pagel.
»Sprechen Sie nicht sanft mit ihr und auch nicht hart. Sagen Sie nur das Nötigste: ›Setz dich dahin.‹ – ›Iß.‹ – ›Leg dich schlafen!‹ Sie tut alles wie ein Lamm. Keine Spur von eigenem Willen mehr. Sagen Sie immer du zu ihr und nennen Sie sie nicht Violet – sonst wird sie ängstlich.«
Flüsternd: »Er hat sie immer bloß Hure angeredet.«
»Hören Sie auf!« rief Pagel, und leise fragend: »Und er –?«
»Er –? Wer –? Wen meinen Sie denn?!« rief der Dicke und schlug Pagel auf die Schulter, daß er wankte. – »Das wäre alles«, sagte er ruhiger. »Sonst – nichts weiter! Nichts – weiter! Packen Sie Ihren Kram zusammen, Sie können in den Wagen steigen, der unten hält. Bis Frankfurt fahre ich mit. Und dann noch eins, junger Mann, haben Sie Geld?«
»Ja«, sagte Pagel. Zum erstenmal in letzter Zeit gab er es gerne zu.
»Ich habe zweiundachtzig Mark Auslagen gehabt, die geben Sie mir jetzt gleich wieder. – Danke. – Ich stelle Ihnen keine Quittung aus, ich habe keinen Namen mehr, den ich unterschreiben mag. Aber wenn Ihre Gnädige fragt, sagen Sie ihr, ich habe sie frisch einpuppen müssen – sie war ziemlich abgerissen. Und dann noch ein bißchen Fahr- und Zehrgelder. Jetzt los mit Ihnen! Packen Sie, bringen Sie das dicke Frauenzimmer auf den Trab – in einer halben Stunde halte ich mit dem Wagen hundert Meter von hier nach dem Walde zu. Die Leute brauchen nichts zu merken.«
»Aber kann ich Fräulein Violet nicht jetzt –?«
»Junger Mann«, sagte der Dicke. »Haben Sie es bloß nicht so eilig. Das ist kein fröhliches Wiedersehen. Sie erleben es noch früh genug. Marsch! Ich gebe Ihnen dreißig Minuten.«
Und er ging.