9

Siegessicher tritt Wolfgang Pagel, neben sich den Rittmeister, in den Spielsaal. Die siebzehn Jetons vom ersten Spiel hält er lose in der geschlossenen Hand. Er rüttelt sie leise, sie klappern mutwillig und fröhlich.

Während er auf den Spieltisch zugeht, wie so viele Male in dem letzten Jahr, ein köstlich trockenes, hohles Gefühl im Munde, weiß er, daß er diesmal dem Spiel ganz anders entgegengeht als je zuvor. Immer, immer hat er falsch gespielt, idiotische Systeme sich ausgeklügelt, die versagen mußten. So wie heute muß er es machen, eine Eingebung abwarten und dann setzen. Warten, bis wieder eine Eingebung kommt, vielleicht endlos warten, aber die Geduld haben zu warten, und dann sofort wieder setzen.

»Jawohl, sehr schön! Sehr!« sagt er, antwortet er dem Rittmeister, der irgend etwas gefragt hat, und er lächelt bei dieser Antwort freundlich. Der Rittmeister sieht ihn erstaunt an, wahrscheinlich hat er irgendeinen Quatsch geantwortet, aber das ist egal, er ist dem Spieltisch nun schon ganz nahe.

Um diese Zeit ist der Tisch dichter denn je belagert. Es geht auf die letzte Stunde, um drei, spätestens halb vier Uhr morgens machen die hier Schluß. Alles, was von Spielern erschöpft, übermüdet an den Wänden stand und rauchte, was unentschlossen auf Sesseln und Sofas saß – das drängt sich jetzt um den Tisch. Die entfliehende Zeit bietet noch einmal die Aussicht auf großen Gewinn – nütze sie! Wenn in wenigen Stunden die Stadt erwacht, wirst du reich oder arm sein – möchtest du denn nicht lieber reich sein –?!

Der Zwischenfall von vorhin ist längst vergessen, niemand beachtet Pagel.

Er sieht keine Möglichkeit, nahe an den Tisch heranzukommen, so geht er ganz um ihn herum, bis an sein Kopfende. Mit einer Schulterbewegung zwängt er sich zwischen Croupier und Gehilfen. Der Gehilfe, Lockenwilli, der untersetzte Schläger aus dem Wedding, will wütend gegen diese Ungehörigkeit protestieren – ein leises Wort des Croupiers verweist ihm das.

Wolfgang Pagel rüttelt leise seine siebzehn Marken in der Hand, er will sie setzen – ein dünnes, spöttisches Lächeln unter dem Bart, belehrt der Croupier den alten Spieler, daß bei rollender Kugel nicht gesetzt werden darf.

Zeit – lange, stillstehende Zeit muß Wolfgang warten. Dann endlich kommt die Kugel zur Ruhe, eine Zahl wird ausgerufen. Gewinne, lächerliche, belanglose, unwichtige Gewinne werden ausgeteilt und eingestrichen – und nun senkt sich Wolfgangs Hand auf das grüne Tuch:

Siebzehn Spielmarken liegen auf der Zahl siebzehn.

Der Croupier sieht ihn kurz von der Seite an und lächelt schwach. Mit seinem Anruf treibt er ein letztes Mal die Spieler zum Einsatz, er faßt das Kreuz, die Scheibe beginnt, sich schnurrend zu drehen, die Kugel läuft …

Sein Spiel beginnt – es beginnt das Spiel von Wolfgang Pagel, Fahnenjunker a. D., Exliebhaber eines Mädchens namens Petra Ledig, zur Zeit beschäftigungslos – es beginnt jenes Spiel, auf das er seit einem Jahr, nein, ein Leben lang gewartet hat, für das er eigentlich geworden ist, was er wurde; um dessentwillen er sich mit der Mutter verstritten hat; um dessentwillen er ein Mädchen zu sich nahm, das ihm die Wartezeit verkürzte, das nun aber auch ging, als es soweit war. Wir haben Siebzehn gesetzt, siebzehn Spielmarken auf die Nummer Siebzehn …!

Achtung, wir spielen! Siebzehn bringt sechsunddreißigfachen Gewinn – endlos läuft die Kugel, scheppert, scheppert … Wir hätten noch Zeit, uns in Millionen und Milliarden auszurechnen, was wir gewinnen werden, wenn die Siebzehn gekommen ist … die Kugel scheppert so – wenn sie aus Bein wäre, könnten wir sagen, so scheppern die Knochen der Toten in ihren Grüften, wir aber leben, wir spielen und spielen …!

»Siebzehn!« ruft der Croupier.

Ja, schreit er es denn nicht? Es ist die Stunde des Gerichtes – die Böcke werden geschoren, aber die Gerechten – sie werden gekrönt! Es prasselt nieder von Marken, ein Regen, eine Flut, eine Sintflut! In die Taschen damit –!

Warten Sie! Ich will auch setzen – ist für einen Spieler wie mich kein Stuhl frei?!

Was setze ich –? Ich muß ruhig sein, nachdenken … Ich setze Rot. Rot ist richtig, ich habe das einmal ausgerechnet, lang, lang ist’s her! Siehst du, da ist schon ein Stuhl –!

Hier, mein Sohn, dies sind zehn Dollar, gute, amerikanische Dollar – weißt du noch, wie du mich vorhin in die Fresse schlagen wolltest? Hä – hä – hä!

Ich soll nicht so laut sein, ich störe die andern? Die andern sollen verrecken! Was gehen mich die andern an mit ihren lumpigen Einsätzen. Sie spielen, um zu gewinnen, um dreckiges Papiergeld zu hamstern, ich spiele um des Spieles willen, um des Lebens willen … Ich bin der König!

Rot!

Er sitzt da und starrt, plötzlich finster geworden, argwöhnisch. Sind das auch genug Marken? Er kann sie schon nicht mehr in den Taschen lassen, er stapelt sie in Zehnerhäufchen vor sich auf, und seine vor Erregung zitternden Hände stoßen die Häufchen gleich wieder um. Alle wollen sie ihn hier betrügen, bestehlen, er ist ja nur der Pari-Panther, ein Garnichts in einem schäbigen Waffenrock! Dieser Hund, der Croupier, hat ihn immer wie einen Dieb behandelt – ihm wird er es heimzahlen!

Und er setzt wieder und gewinnt wieder, und das Glück kehrt wiederum bei ihm ein, ihm ist so leicht! Seliger Rausch, nie noch gefühlt, wenn du dahinfliegst wie eine Wolke am Sommerhimmel, drunten die schwere, dunkle Erde mit den niedrigen Menschen und ihren schweren, verkrampften Gesichtern – du aber fliegst dahin, selige Wolken, selige Götter – o Glück!

Was fiel da? Was rinnt? Was fällt?

Wie ein Bach gleiten lustig klappernd die Jetons, die er nicht mehr bergen kann, unter seinen Armen durch auf die Erde. Laß sie fallen, das Glück lächelt mir zu! Laß andere sich danach bücken …!

Laß sie einsammeln, wir haben genug, und wir kriegen noch mehr!

Wie finster der Croupier ausschaut, wie sich sein Bart sträubt! Ja, heute beuteln wir dich, mein Sohn, kahl wie eine Ratte wirst du in dein Loch schlüpfen – bald hast du keine Marken mehr und wirst das Papiergeld herausrücken müssen, heute holen wir alles!

Was will der Rittmeister? Er hat alles verspielt? Ja, man muß spielen können, mach es wie ich, Rittmeister, ich habe es dir doch gezeigt! Hier hast du Papiergeld, amerikanische Dollar, zweihundertfünfzig Dollar, nein, zehn gingen ab für Lockenwilli, zweihundertvierzig also! Jawohl, morgen früh regeln wir es, aber in einer halben Stunde schon wird auch dieses Geld, auf dem Umweg über den Croupier, wieder bei mir sein!

Das Spiel wendet sich –? Die Kugel rollt nicht mehr, wie er es will –?

Ja, es ist eben doch so: Man soll kein Geld unter dem Spiel weggeben, es bringt Unglück. Er sitzt finster da, er versucht die Parichancen wieder, die Dreifachchancen. Er spielt vorsichtig, besonnen. Aber die Marken zwischen seinen Armen verlieren sich, die Regimenter werden dünn. Immer von neuem rasselt unter dem Rechen des Croupiers das Heer der Geschlagenen, der Spielhalter lächelt wieder.

Und die Spieler schauen nicht mehr auf Pagel, sie beachten ihn nicht mehr. Ungeniert machen sie wieder über seine Schultern fort ihre Einsätze. Er ist kein begnadeter Spieler mehr, er ist ein Spieler wie alle: Das Glück lächelt ihm einmal, aber dann vergißt es ihn wieder, er ist der Ball des Glücks, nicht sein Bettgenoß.

Was hat er nur die ganze Zeit getan? Wie lange sitzt er hier?

Schon fischt er in den Taschen, der Strom ist versiegt. Vergißt er denn sofort jede Lehre, die ihm das Schicksal gab? Siebzehn muß er setzen, siebzehn Spielmarken auf Siebzehn – so heißt das!

Siebzehn –!

Und das Prasseln der Marken!

Und der Rausch kommt zurück, die Seligkeit des Fliegens, Weltenferne und Sonne! Er sitzt da, den Kopf leicht vorgeneigt, ein verlorenes Lächeln auf den Lippen. Er kann setzen, wie er will, jetzt strömt der Strom wieder. Und nun kommt es, wie er erwartet hat: die Spielmarken gehen zu Ende. Jetzt kommen schon die Scheine auf ihn zu, mehr und mehr. Sie knistern, mattfarbig sehen sie ihn an –: lächerliche Papiermark, wertvolle Pfunde, köstliche Dollars, satte, dicke Gulden, nahrhafte Dänenkronen – Raub aus den Brieftaschen von fünfzig, sechzig Gästen! Alles strömt ihm zu!

Der Croupier sieht todesfinster aus, als sei er von einer Krankheit erfaßt, leide unsinnige, unerträgliche Schmerzen. Kaum kann er sich noch beherrschen, zweimal schon ist der Lockenwilli um neues Geld auf den Vorplatz gelaufen, die Tageskasse muß heran – bald geht es an deine Brieftasche, Croupier!

Der murmelt etwas von Schlußmachen, aber die Spieler widersprechen, sie drohen … Sie spielen ja kaum noch, aber sie sehen dem Zweikampf zwischen Croupier und Pagel zu. Sie zittern um den jungen Menschen – wird das Glück ihm treu bleiben? Er ist einer der Ihren, der geborene Spieler, alle ihre Verluste rächt er an dem alten, bösen Raubvogel, dem Croupier. Dieser junge Mensch liebt nicht das Geld, wie es der Croupier tut – er liebt das Spiel! Er ist kein Ausbeuter!

Und der junge Pagel sitzt da, immer lächelnder, immer ruhiger. Fortgerissen flüstert der Rittmeister an seiner Schulter, Pagel bewegt nur verneinend den Kopf.

Der Rittmeister schreit: »Pagel, Mensch, machen Sie Schluß! Sie haben ja ein Vermögen!«

Nein, der Rittmeister geniert sich nicht mehr zu schreien in diesem Raum, aber Pagel lächelt nur taub.

Er ist hier, und er ist sehr weit fort. Er möchte, daß dies immer weiterginge, zeitlos durch Ewigkeiten – darum leben wir! Die Welle des Glücks trägt uns, wir schwimmen befreit!

Unaussprechliche Wollust des Daseins – so muß ein Baum fühlen, der nach Tagen zerrenden, quälenden Saftanstiegs in einer Stunde alle seine Blüten entfaltet! Was ist noch der Croupier –?! Was ist Geld –?! Was ist selbst Spiel –?! Rolle weiter, kleine Kugel, rolle, rolle – habe ich gedacht, so schepperten die Knochen der Toten?

Trommeln und Trompeten! Rot? Natürlich Rot, und noch einmal Rot. Und wiederum Rot. Aber nun nehmen wir Schwarz – sonst schmeckt das Leben nicht – ohne ein wenig Schwarz dazwischen schmeckt das Leben nicht. Noch mehr Banknoten – wo soll ich sie denn alle lassen? Ich hätte einen Koffer mitbringen müssen – aber wer kann denn so etwas vorher wissen –?

Was will denn Studmann schon wieder? Was schreit er? Polizei –? Was soll Polizei – wozu braucht er Polizei –? Was rennen alle –? Halt, laßt die Kugel auslaufen – ich gewinne noch einmal, ich gewinne wieder, immer wieder! Ich bin der ewige Gewinner …

Da sind schon die Polizisten! Nun stehen die Spieler alle so stumm, wie ihre eigenen Gespenster. Was will der komische Mann mit dem steifen Hut? Er sagt etwas zu mir. Alles Spielgeld ist beschlagnahmt, alles Geld? Aber natürlich ist alles Spielgeld – Geld zum Spielen, sonst hätte es ja keinen Sinn – zu was denn sonst?!

Wir sollen uns fertigmachen und mitkommen? Natürlich kommen wir mit; wenn doch nicht mehr gespielt wird, können wir ebensogut mitkommen. Warum streitet sich der Rittmeister mit dem Blauen? Das hat doch keinen Sinn! Wenn man nicht spielen kann, ist alles egal!

»Kommen Sie, Herr Rittmeister, seien Sie friedlich. Sehen Sie, Studmann kommt auch mit, und er hat nicht einmal gespielt. Also los!«

Wie sterbensbleich der Croupier aussieht! Ja, für ihn ist es schlimm. Er war im Verlust – ich aber, ich habe gewonnen wie nie in meinem Leben! Es war über die Maßen herrlich! Gute Nacht!

Endlich kann ich ruhig schlafen, ich habe erreicht, was ich ersehnt habe, meinethalben für immer schlafen. – Gute Nacht!

Wolf unter Wölfen
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