9

Ein langer, geruhiger Spaziergang durch den Tiergarten hatte dem ehemaligen Empfangschef von Studmann den Kopf wieder frei gemacht. Er hatte auch dem Rittmeister von Prackwitz Gelegenheit gegeben, dem Freunde ein Bild von Neulohe zu malen, wie es weit hinten in der Neumark lag, fast schon polnische Grenze, ganz von Wäldern eingezirkelt. Prackwitz hatte dabei nicht die Absicht, Neulohe rosiger zu schildern, als es war, er wollte den Freund nicht täuschen. Aber ganz von selbst ergab es sich, daß inmitten dieser taumelnden, verdorbenen, irren Stadt Rittergut Neulohe stiller und reiner aufstieg, jedes Gesicht bekannt, jeder Mensch letzten Endes übersichtlich – und weder Gewächs noch Getier vom Taumel der Zeiten angesteckt.

Von Prackwitz hatte es leicht, angesichts der unten mit marmornen Ladenausbauten, Leuchtschildern, Bildreklamen grell aufgeschminkten, oben aber zerbröckelnden und zerfallenden Häuserfassaden zu sagen: »Meine Gebäude sehen gottlob noch etwas anders aus! Nicht schön, aber solider, unverlogener, roter Backstein.«

Wenn sie die verbrannten Rasenflächen, die verunkrauteten Beete des Tiergartens sahen, für deren Pflege kein Geld mehr da war (soviel Geld es auch gab), konnte er sagen: »Wir hatten es auch sehr trocken. Aber eine recht gute Ernte ist trotzdem gewachsen. Unberufen!«

Im Rosarium standen die Rosenstöcke geplündert, auch niedergebrochen. Es schien Blumenhändler zu geben, die ihren Bedarf nicht in der Markthalle, sondern hier deckten. »Bei uns wird auch geklaut, aber gottlob noch nicht verwüstet!«

Sie setzten sich auf eine Bank. Die trockene Luft hatte die Regenfeuchte schon wieder aufgesogen. Vor ihnen lag, mit seinem bebuschten Inselchen, der Neue See. Über ihnen standen lautlos die Kronen der Bäume. Vom Zoologischen Garten her klang unbestimmt Tiergebrüll.

»Mein Schwiegervater«, sagte Herr von Prackwitz träumerisch, »hat sich seine achttausend Morgen Wald vorläufig noch vorbehalten. Aber so filzig der alte Herr in vielem ist, Jagderlaubnis erteilt er großzügig – du könntest da manchen schönen Bock schießen.«

Ja, Neulohe, im stärker dunkelnden Abend, wurde zu einer stillen, weltentfernten Insel, und Herr von Studmann war ja auch gar nicht unempfänglich für solche Botschaft. Am Vormittag hatte er noch jeden Gedanken an eine Flucht auf das Land verworfen. Aber dann war der Nachmittag mit seinen mancherlei Erlebnissen gekommen und hatte bewiesen, daß diese Zeit sogar die Nerven eines vierjährigen Frontkämpfers erledigen konnte. Es war nicht einmal so sehr der groteske, peinliche Zwischenfall mit dem Reichsfreiherrn Baron von Bergen. Gottlob liefen völlig Irre noch nicht so häufig in der Weltgeschichte herum, daß man Zusammenstöße mit ihnen in seine Lebensrechnung einkalkulieren mußte.

Aber dieser Zwischenfall hatte auf eine betrübende, quälende Weise den stählern kalten Mechanismus des Hotelgetriebes bloßgelegt, dem von Studmann bisher Kraft, Eifer, Arbeit gegeben hatte. Er hatte geglaubt, durch peinlichste Pflichterfüllung wenn nicht Anhänglichkeit, so doch Achtung verdient zu haben. Er hatte erleben müssen, daß dem Gefallenen vom letzten Liftboy bis zum obersten Generaldirektor nur schamlose, freche Neugier bewilligt worden war. Wäre der temperamentvolle Geheimrat Schröck mit seinen etwas ungewöhnlichen Ansichten über Geisteskranke nicht eingesprungen, so hätte man ihn ohne alle Rücksicht mit der größten Schnelligkeit wie einen halben Verbrecher abgeschoben.

So hatte man ihn denn allerdings noch vor seinem Ausgang abgefangen, Herr Generaldirektor Vogel hatte sich trotz aller grauen Fülle geschmeidig zwischen Einerseits und Andrerseits hindurchgewunden, eine – natürlich in Edelvaluta gezahlte – Abfindung war ihm erst einmal überreicht worden, wärmste Empfehlungen hatte man ihm zugesichert –: »Ja, ich glaube sogar, mein sehr verehrter Herr Kollege, dieser kleine, an sich recht unangenehme Zwischenfall schlägt Ihnen noch völlig zum Guten aus. Wenn ich Herrn Geheimrat Schröck recht verstanden habe, erwartet er von Ihnen sehr hohe Forderungen – höchste!«

»Nein«, sagte Herr von Studmann auf seiner Tiergartenbank aus tiefsten Gedanken heraus. »Aus der moralischen Minderwertigkeit des Früchtchens möchte ich nun freilich keinen Honig saugen.«

»Wie –?!« fragte von Prackwitz auffahrend. Er hatte grade von der Schwarzwildjagd gesprochen. »Nein, natürlich nicht. Das verstehe ich vollkommen. Du hast es auch nicht nötig.«

»Verzeih schon«, sagte von Studmann. »Ich war mit meinen Gedanken noch hier. In Berlin. Es ist eigentlich sinnlose Arbeit, die man hier getan hat. Irgend so was wie Reinmachen: man äschert sich ab, und am nächsten Morgen ist doch alles wieder dreckig.«

»Natürlich«, pflichtete der Rittmeister bei. »Frauenzimmerarbeit. Bei mir …«

»Verzeih, bei dir könnte ich auch nicht sein, ohne etwas zu tun. Wirklich etwas zu tun …«

»Du wärest mir eine große Hilfe«, sagte von Prackwitz nachdenklich. »Ich sprach dir heute vormittag schon von diesen politisch-kriegerischen Verwicklungen. Ich bin manchmal etwas allein – recht ratlos.«

»Es laufen«, dachte der Oberleutnant seinen Gedanken laut weiter, »jetzt so viele Menschen aus ihrer Arbeit. Arbeiten, überhaupt etwas tun ist plötzlich für sie sinnlos geworden. Solange sie einen festen, greifbaren Wert dafür am Ende der Woche, des Monats in die Hand bekamen, hatte auch die ödeste Büroarbeit für sie einen Sinn. Der Marksturz hat ihnen die Augen geöffnet. Warum leben wir eigentlich? fragen sie sich plötzlich. Warum tun wir was? Irgendwas? Sie sehen nicht ein, warum sie etwas tun sollen, bloß um ein paar vollkommen wertlose Papierlappen in die Hand zu bekommen.«

»Diese Entwertung ist der infamste Betrug am Volke …«, sagte von Prackwitz.

»Mir hat«, fuhr von Studmann fort, »der heutige Nachmittag die Augen geöffnet. – Wenn ich wirklich zu dir ginge, Prackwitz, müßte ich richtige Arbeit haben. Arbeit, verstehst du!«

Von Prackwitz zermarterte sich den Kopf.

Pferde zureiten, dachte er. Aber meine paar Kröpels haben schon jetzt mehr Bewegung, als ihnen lieb ist. – Schreiberei auf dem Büro? Aber ich kann Studmann doch nicht hinter die Lohnlisten setzen!

Er sah plötzlich das Gutsbüro vor sich mit dem grüngestrichenen, altmodischen Geldschrank, dessen Größe in keinem Verhältnis zu seinem Inhalt stand, die häßlichen Fichtenregale voll veralteter Gesetzsammlungen –: Eine widerlich verstaubte und verlotterte Bude, dachte er.

Von Studmann war viel praktischer als der Rittmeister. »Soviel ich weiß«, half er ihm, »gibt es auf vielen Rittergütern Volontäre?«

»Die gibt es!« bestätigte Prackwitz. »Eine schreckliche Gesellschaft! Sie zahlen Pension – sonst würde sie niemand nehmen –, halten sich ihr eigenes Reitpferd, stecken ihre Nase in alles, verstehen nichts, fassen nichts an, können aber enorm klug über Landwirtschaft reden!«

»Also nicht«, entschied von Studmann. »Und was gibt es sonst?«

»Mancherlei. Zum Beispiel Hofverwalter, die das Futter ausgeben, Füttern und Melken und Putzen beaufsichtigen, Lagerbücher führen, an der Dreschmaschine Dienst tun. Dann gibt es Feldverwalter, die draußen sind, Pflügen und Düngen und Ernten anordnen, eben alle Feldarbeiten, überall sein müssen …«

»Reitpferd –?« fragte von Studmann.

»Fahrrad«, antwortete von Prackwitz. »Wenigstens bei mir.«

»Du hast also einen Feldinspektor?«

»Morgen setze ich ihn raus, einen faulen, versoffenen Kerl!«

»Aber doch nicht meinetwegen, Prackwitz! Ich kann bei dir doch nicht gleich Feldinspektor werden! Du sagst: ›Studmann, dünge mir da diesen Roggen.‹ Verdammt noch mal, es sollte mir sauer werden, ich habe doch nicht den geringsten Schimmer – außer von natürlicher Düngung, die unzureichend wäre, fürchte ich.«

Die beiden Herren lachten herzhaft. Sie standen von ihrer Bank auf, von Studmanns Brummschädel war fort, Prackwitz war sicher, der Freund werde zu ihm kommen. Sie besprachen im Weitergehen das Projekt länger, sehr eingehend. Sie einigten sich dahin, daß von Studmann als ein Mittelding zwischen Lehrling, Vertrauensperson und Aufsichtsbeamter nach Neulohe kommen sollte.

»Du fährst gleich morgen früh mit, Studmann. Deine Sachen hast du in einer halben Stunde gepackt, wie ich dich kenne. – Nun müßte ich noch einen vernünftigen Kerl kriegen, der die Leute beaufsichtigen und ein bißchen antreiben kann, die ich heute engagiert habe – und die Ernte ginge prima! Ach Gott, Studmann, bin ich froh! Die erste frohe Stunde, ich weiß nicht, seit wie lange! Höre mal, jetzt essen wir irgendwo nett, das wird dir guttun, nach der elenden Sauferei. Was meinst du zu Lutter und Wegner? Schön! – Nun noch einen Mann, am besten auch vom Kommiß, gewesener Spieß oder so was, der mit Leuten umgehen kann …«

Sie gingen bei Lutter und Wegner in den Keller. Der Mann vom Kommiß, den der Rittmeister von Prackwitz brauchte, saß an einem Ecktischchen. Er war zwar nicht Spieß, aber doch Fahnenjunker gewesen. Zur Zeit war er ziemlich betrunken.

Wolf unter Wölfen
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