Ein Mann verläßt das Universitätsgebäude, er geht über den Vorhof, er tritt auf die Linden hinaus.
Die Straße Unter den Linden liegt in voller Sonne.
Der Mann blinzelt ein wenig im Licht, zögernd betrachtet er einen Autobus. Der Autobus würde den Studenten rasch nach Haus fahren zu Weib und Kind. Aber er besinnt sich anders. Er rüttelt ein wenig die Aktentasche, die er am Griff trägt. Mit einem ruhigen und doch fördernden Schritt geht er die Linden hinunter, dem Brandenburger Tor zu, dem Tiergarten zu.
Er war all sein Lebtage ein Stadtmensch, dann war er eine kurze Zeit ein Landmensch, nun ist er wieder ein Städter geworden. Aber von seiner kurzen Landzeit ist ihm ein Bedürfnis nach ruhigen, weiten, einsamen Wegen geblieben. Sie erinnern ihn an die Zeit, da er auf den Feldern herumsauste, die Leute kontrollierte. Heute kontrolliert er auf solchen Wegen die eigenen Gedanken, die eigenen Arbeiten, seine Beziehungen zur Umwelt. Er hat ein nachdenkliches, freundliches Gesicht. Er geht gerade und ruhig, aber seine Augen sind hell geblieben, es ist Licht darin. Sie sind noch ganz jung …
Als die schlimme Zeit war, schien ihm das höchst Erreichbare ein Antiquitätengeschäft oder ein Bilderhandel. Als er dann aber mit seiner Mutter von diesen Dingen sprach, meinte er: »Wenn du es könntest, Mama, würde ich am liebsten Arzt werden. Psychiater. Seelenarzt. Einmal wollte ich Offizier werden, und dann sah es aus, als würde ich gar nichts werden, ein Spieler, verblasen, hohl. Später hat mir die Landwirtschaft viel Freude gemacht, aber was ich gerne sein möchte, das ist: ein wirklicher Arzt.«
»Ach, Wolfi«, sagte sie ganz erschrocken. »Grade das längste Studium!«
»Ja, freilich«, lächelte er. »Wenn mein Sohn in die Schule kommt, lerne ich immer noch. Es dauert ein wenig lange, bis sein Vater etwas ist und Geld verdient. Aber, Mama, ich habe immer gerne darüber nachgedacht, wie es in ihnen aussieht und warum sie dies und das tun. Ich bin glücklich, wenn ich ihnen helfen kann …«
Er sah vor sich hin.
»Halt, Wolfi!« rief die Mutter. »Nun denkst du wieder an Neulohe!«
»Warum soll ich es nicht?« lächelte er. »Meinst du, es tut mir weh? Ich war ja viel zu jung! Um den Menschen wirklich helfen zu können, muß man viel wissen, viel erfahren haben – und man muß nicht weich sein. Ich war viel zu weich!«
»Sie haben schändlich an dir gehandelt!« Und sie schlug mit dem Knöchel hart auf den Tisch: Tamtata! Tamtata! Ratatam! Ratatam!
»Sie haben gehandelt, wie sie waren. Die Schändlichen schändlich und die Guten gut. Die Weichen aber zu weich. – Also, Mama, es muß keinesfalls sein. Aber wenn du es kannst und magst …«
»Kannst und magst, Wolfi«, grollte sie. »Du bist ein Esel und wirst all dein Lebtage ein Esel bleiben. Wenn du etwas verlangen kannst, dann bist du bescheiden. Aber wenn dir etwas nicht zusteht, dann verbeißt du dich darin. Ich bin überzeugt, wenn du von deinen Patienten fünfzig Mark zu fordern hast, wirst du nach langem Überlegen fünf Mark liquidieren.«
»Für das Rechnerische ist jetzt Peter da!« rief Wolfgang vergnügt. »Gerechnet habe ich für eine Weile genug!«
»Ach, Peter«, grollte die alte Frau. »Die ist ja ein noch größerer Esel als du. Die tut ja bloß, was du willst!«