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Der Mensch ist nicht ganz frei von der Eigenschaft, seine Fehler andern Geschöpfen anzudichten: An der Geschichte vom Vogel Strauß, der aus Furcht den Kopf in den Sand steckt, soll kein wahres Wort sein; dafür ist es bestimmt wahr, daß mancher Mensch vor der nahenden Gefahr die Augen schließt und dann behauptet, sie sei nicht da.

Inspektor Meier hatte nach dem Abgang von Frau Hartig nur darum Licht gemacht, weil er sich etwas zu trinken suchen wollte. Der ganz verdunte Schädel, der Reinfall beim alten Geheimrat (auf dessen Wohlwollen er immer gerechnet hatte), die nahende Rächerin Amanda – all dies rief bei ihm nichts anderes wach als den Wunsch nach Trinken. Er wollte »eben an den ganzen Dreck nicht mehr denken«.

Nachdem er die Fenster gegen einen Überfall Amandas gesichert hatte, stand er einen Augenblick still in seinem recht wüst aussehenden Zimmer mit dem auseinandergewühlten Bett und den herumgestreuten Kleidungsstücken. Ebenso wüst sah es in seinem Schädel aus, dazu stach ein scharfer Schmerz von innen gegen die Stirn. Gedankenfetzen lösten sich aus dem Dunkel und waren vergangen, ehe er sie noch hatte erkennen können. Er wußte, er hatte nicht eigentlich etwas zu trinken auf der Bude, keinen Kognak, keinen Korn, keine Flasche Bier – aber wenn einem so war, wie ihm jetzt war, gab es immer etwas zu trinken, es mußte einem nur einfallen.

Er runzelte die Stirn von der Anstrengung des Denkens, aber ihm fiel nur ein, daß er noch einmal in den Gasthof gehen und sich eine Flasche Schnaps holen könnte. Er bewegte unmutig den Kopf. Das hatte er sich doch schon längst überlegt, daß er sich dort wegen der drohenden Rechnung nicht sehen lassen wollte. Außerdem hatte er nichts an – schon das alte, schlaue Aas, der Geheimrat, hatte das gemerkt. Die andern würden es auch merken, wenn er so zum Gasthof ging!

Er sah an sich herunter, er fing trübselig zu lächeln an. Ein schöner Dreck, so ein Kerl! Ein Leib für die Feuerzange!

»Die Scham liegt nicht im Hemde« – sagte er laut einen Satz, den er mal gehört und den er behalten hatte, weil er ihm jede Schamlosigkeit zu rechtfertigen schien.

Also aber – jetzt mußte er sein Hemd suchen, und er fing an, mit den Füßen die Kleider auf der Erde hin und her zu stoßen, in der Hoffnung, das Hemd würde zum Vorschein kommen. Aber es kam nicht hervor, statt dessen stieß er sich in die Sohle einen Splitter ein.

»Schweinerei, elende«, schimpfte er laut, und bei der Schweinerei fielen ihm die Schweine ein, bei den Schweinen aber die Viehapotheke auf dem Büro. Bei der Viehapotheke dachte er zuerst an Hoffmannstropfen. Aber die waren zuwenig, um sie mit Wirkung zu trinken, außerdem waren wahrscheinlich keine in der Apotheke!

Hoffmannstropfen – seit wann gab man denn den Schweinen Hoffmannstropfen –?!! Auf einem Stück Zucker, was?! Er mußte lachen bei dieser blöden Idee, sie war ja zu blöde, diese Idee!

Er drehte sich scharf um, Mißtrauen und Furcht im Gesicht. Hatte da jemand gelacht über ihn im Zimmer?! Es klang genauso, als hätte hier jemand über ihn gelacht! War er überhaupt allein? War die Kutschersche schon weggegangen? War die Amanda schon gekommen, oder kam sie erst? Er sah sich langsam, stieläugig um – der Weg zwischen Sehen und Erkennen war so mühsam. Lange mußte er auf einen Gegenstand schauen, bis das Hirn meldete: Schrank! Oder: Gardine! – Bett, keiner drin! Später: Auch keiner drunter!

Mühsam, langsam kam er auf das Ergebnis: es war wirklich keiner im Zimmer. Wie aber war es mit dem Büro? War da jemand drin und sah ihm zu? Die Tür zum Büro stand auf, der dunkle Raum nebenan war, als liege jemand auf der Lauer … War die Außentür zum Büro überhaupt verschlossen? Die Gardinen zugezogen? O Gott, o Gott, so viel zu tun, so viel zu erledigen, sein Hemd hatte er auch noch immer nicht gefunden! Kam er denn nie ins Bett –?

Mit hastigen, torkelnden Schritten, nackt, ging Negermeier auf das Büro und rüttelte an der Außentür. Die Tür war zu, hatte er doch gewußt, auch die Gardinen waren zu. Wer erzählte solchen Quatsch?! Er schaltete das Licht ein und sah die Gardinen feindlich an – natürlich waren sie zu – alles öder Schmus, nur gemacht, ihn reinzulegen. Die Gardinen waren zu, und sie blieben zu – ihm sollte mal einer kommen und seine Gardinen anrühren! Seine Gardinen waren es, seine! Er konnte damit tun, was er wollte – wenn er sie jetzt runterriß, war es allein seine Sache!

In höchster Erregung machte er ein paar Schritte auf die unseligen Gardinen zu – und die Viehapotheke, ein braungestrichenes, fichtenes Schränkchen, geriet in sein Blickfeld.

Hallo! Da bist du ja! Na endlich! Negermeier grinste zufrieden. Der Schlüssel steckte, das Türchen hatte parieren gelernt und ging auf den ersten Druck auf, und da haben wir ja, in zwei vollgestopften Fächern, den ganzen Salat. Ganz vornean steht eine große bräunliche Flasche, es steht auch was auf dem aufgeklebten Zettel – aber wer will solche Apothekerklaue lesen? Na, die ist gedruckt, aber das ist derselbe Dreck!

Negermeier nimmt die Flasche heraus, zieht den Stopfen und riecht in den Flaschenhals.

Er tut es gleich noch einmal. Hoch hinauf in die Nase zieht er den Ätherdampf, und so steht er da, während sein Leib leise zu zittern anfängt. Eine überirdische Klarheit dringt in sein Hirn, Erkenntnis und Einsicht, wie er sie nie gefühlt, erfüllen ihn – er atmet ein und atmet ein – das ist Seligkeit!

Sein Gesicht wird dabei immer schärfer, die Nase spitzer. Tiefe Falten furchen die Haut. Der Körper fängt an zu zittern. Aber er flüstert: »Oh, ich verstehe alles! Alles! Die Welt … Klarheit … das Glück … blau …«

Die Ätherflasche entfällt seinen zitternden Händen, hart schlägt sie auf den Boden und zerbricht. Er starrt darauf, noch berauscht. Dann geht er rasch zum Schalter, löscht das Licht im Büro, tritt in sein Zimmer, löscht wiederum das Licht, tastet sich auf sein Bett und wirft sich hin.

Er liegt bewegungslos, mit geschlossenen Augen, völlig dem Anblick der lichten Figuren hingegeben, die sich in seinem Hirn bewegen. Die Gestalten werden blasser, grauer Nebel weht über sie hin. Von den Rändern des Hirns zieht Schwärze herbei, es wird dunkler und dunkler – plötzlich ist alles schwarz: Negermeier schläft.

Wolf unter Wölfen
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