Der kleine Feldinspektor Meier hatte sich, den Kopf dick und dumm vom Rausch, auf sein Bett geworfen, so wie er war: in schmutzbespritzten Schuhen, die Kleider regennaß. Draußen vor dem offenen Fenster rauschte es noch immer vom Himmel. Vom Kuhstall, vom Schweinestall her klang Geschimpfe, Meier hörte halb hin, er mochte wollen oder nicht.
Was tun die nur? dachte er. Was haben die? Ach was, ich will schlafen. Ich muß schlafen, vergessen; wenn ich dann aufwache, ist alles nicht wahr.
Er legte die Hand vor die Augen, nun wurde es dunkel um ihn. Ach, sie war gut, diese Dunkelheit! Dunkelheit war schwarz, schwarz war das Nichts; wo das Nichts ist, ist auch nichts gewesen, nichts geschehen, nichts verbockt.
Aber das Dunkel wird grau, und das Grau wird heller. Aus dem Helleren löst es sich: da steht der Tisch, da steht die Flasche, da stehen die Gläser … da liegt der Brief!
O Gott, was soll ich nur tun? denkt der kleine Meier und preßt die Hand fester gegen die Augen. Ja, es wird wieder schwarz. Aber aus dem Schwarz drehen sich leuchtende Räder heraus. In vielen Farben drehen sie sich, immer schneller kreisen sie. Ihm wird schwindlig, übel.
Jetzt sitzt er halb im Bett und starrt durch das noch taghelle Zimmer. Es ekelt ihn, er kennt es viel zu genau, von dem ewig riechenden Toiletteneimer neben dem Waschtisch an bis zu den übergesehenen Nacktfotos von Mädchen um den Spiegel herum, die er sich aus allen möglichen Magazinen ausgeschnitten und an die Tapete gepinnt hat.
Sein Zimmer ekelt ihn, sein Zustand ekelt ihn ebenso wie das Geschehene; er möchte etwas tun, aus seiner jetzigen Lage herauszukommen, etwas ganz anderes sein. Aber er sitzt nur da, haltlos, mit verschwollenem Gesicht, hängender, feuchter Unterlippe und hervorgequollenen Augen – er kann gar nichts tun. Alles wird über ihn hereinbrechen, er muß nur stillhalten, warten – und er hat doch nichts Böses gewollt! Wenn er doch wenigstens schlafen könnte –!
Gottlob klopft es – als erwünschte kleine Abwechslung – an die Tür des anstoßenden Büros. Er brüllt heiser »Herein!«, und als der Klopfende drüben zögert, schreit er noch lauter: »Komm doch nur rein, du Ochse!«
Gleich aber kriegt er einen Schreck; vielleicht ist es jemand, den er nicht »Ochse« nennen darf, der Geheimrat oder die gnädige Frau, dann hat er es schon wieder verbuttert – auwei!
Aber es ist nur der alte Leutevogt Kowalewski.
»Wat is denn?!« schreit Meier ihn gleich an, froh, jemanden gefunden zu haben, an dem er seine Wut auslassen kann.
»Ich wollte nur fragen, Herr Inspektor«, sagt der alte Mann demütig, die Mütze in der Hand. »Wir haben nämlich ein Telegramm von unserer Tochter aus Berlin gekriegt, sie kommt morgen früh mit dem Zehnuhrzug …«
»So, das wollten Sie also fragen, Kowalewski«, sagt Meier höhnisch. »Na, nun hast du’s also gefragt, nun kannst du wieder gehen.«
»Es ist nur wegen des Gepäcks«, sagt der Leutevogt. »Fährt morgen wohl ein Wagen zur Bahn?«
»Sicher, sicher«, sagt Meier. »Morgen fahren ’ne ganze Menge Wagen zur Bahn. In Ostade und in Meienburg und in Frankfurt bestimmt auch.«
»Ich meine nur«, erklärt Kowalewski beharrlich, »ob einer von unsern Wagen zur Bahn fährt, der ihr Gepäck mitnehmen kann?«
»Ach, das meinst du!« spottet Meier. »Du bist ja ein mächtig feiner Pinkel, Vogt, daß du von unsern Wagen redest!«
Der alte Leutevogt gibt den Mut noch nicht auf. Er hat Generationen von Inspektoren erlebt, dieser ist sicher der Schlimmste von allen. Aber ein armer Mann muß hundertmal bitten, ehe ein mächtiger einmal ja sagt, und manchmal ist der kleine Meier auch anders. Er ist nun mal so, er macht sich gerne einen Spaß mit den Leuten, das darf man ihm nicht übelnehmen.
»Es ist ja nur wegen des Koffers, Herr Inspektor«, bittet er. »Gehen macht der Sophie gar nichts, sie geht gerne.«
»Und noch lieber legt sie sich lang hin, was, Kowalewski?« grinst Meier.
Der alte Mann steht ruhig da, er verzieht das Gesicht nicht. »Vielleicht fährt auch einer von den Bauern zur Bahn«, überlegt er halblaut bei sich.
Aber nun ist Meier zufrieden. Er hat seine Wut ein bißchen ausgetobt, er hat gefühlt, daß er nicht ganz ohne Macht ist.
»Na, nu mach man, daß du rauskommst, Kowalewski«, sagt er ganz gnädig. »Mit dem Zehnuhrzug kommen ja auch die Schnitter und der Rittmeister, da wird schon Platz für deine Sophinka sein. – Hau ab, alter Rabe, du stinkst!« schreit er plötzlich wieder, und mit einem gemurmelten »Danke auch schön« und »Guten Abend« geht der Leutevogt ab.
Meier, Negermeier, ist wieder allein mit sich und mit seinen Gedanken, und sofort verfällt seine Stimmung. Wenn ich doch wenigstens schlafen könnte! murrt er wieder bei sich. Jedes Aas kann schlafen, wenn es soviel getrunken hat, aber ich nicht, ich habe natürlich immer Pech!
Es kommt ihm der Gedanke, daß er vielleicht noch nicht genug getrunken hat. Als er im Gasthof abträllerte, war er eigentlich ganz hübsch dun, nur daß alles jetzt schon wieder verflogen ist. Er könnte ja noch mal in den Krug gehen, aber er ist zu faul dazu. Außerdem müßte er dann bezahlen, was er sich da alles genommen hat, und ihm graust vor der Aufrechnung. Na, die Amanda läßt sich sicher heute abend noch mal sehen, dann kann die hinlaufen und ihm noch ’ne Flasche Schnaps holen. Hat sie wenigstens ’ne Beschäftigung, er kann heute Weiber nicht riechen. Von denen hat er heute die Nase voll – hätte die Weio sich nicht so vor ihm geaalt, er hätte nie all diese Dummheiten gemacht! Aber so was muß einen Kerl ja verrückt machen!
Meier ist schwerfällig aus dem verschmutzten, feuchten Bett aufgestanden und schlingert torkelig in der Stube herum. Mancherlei geht ihm durch den Kopf. Zum Beispiel, daß der Förster gesagt hat, er soll seine Koffer packen und machen, daß er fortkommt.
Die Koffer liegen oben auf dem Kleiderschrank. Er hat zwei Handkoffer, ein gewöhnliches Bruchdings aus beklebter Pappe und einen schnieken Lederkoffer, den er von der letzten Stellung mitgenommen hat. Er stand da so rum auf dem Boden. Meier legt den Kopf in den Nacken und schielt wohlgefällig zu dem Koffer hinauf: Er freut sich immer wieder über diese billige Erwerbung.
Wenn man Koffer sieht, denkt man an Reisen. Und wenn man an Reisen denkt, fällt einem das Reisegeld ein. Ganz von selbst, ohne daß er auch nur einen Blick durch die angelehnte Bürotür tut, fällt Meier der Geldschrank nebenan ein, ein massiger, grüngestrichener Klotz, dessen vergoldete Arabesken mit den Jahren schmutziggelb geworden sind.
Gewöhnlich hat der Rittmeister den Schlüssel zu diesem Geldschrank und rückt nur vor jeder Löhnung oder sonstigen Ausgabe das nötige Geld heraus. Meier ist zwar vollkommen zuverlässig in Geldsachen, aber der Rittmeister ist nun mal ein großer Mann und mißtrauisch. Es geschähe ihm schon recht, wenn er grade mit seinem Mißtrauen einmal gründlich reinfiele!
Meier stößt mit der Schulter die Tür zum Büro auf und pflanzt sich nachdenklich vor den Geldschrank hin. Gestern abend hat ihm der Rittmeister den Bestand vorgezählt, sogar zweimal – da liegt ein ganz hübscher Klumpatsch Geld im Schrank, mehr als Inspektor Meier in drei Jahren verdienen kann. Versonnen befingert Meier den Geldschrankschlüssel in seiner Tasche. Aber – er nimmt ihn nicht raus. Aber – er schließt den Schrank nicht auf.
Was er sonst macht, ist alles ganz schön und gut, er kann deswegen mal rausfliegen, aber ins Kittchen kommt er darum nicht. Rausfliegen, das macht nichts. Nach einer Weile kriegt man doch immer wieder eine neue Stellung; weswegen man rausflog, schreibt eigentlich nie ein Chef ins Zeugnis. Aber gegen Kittchen hat Meier eine lebhafte Antipathie.
Ich hau das Geld ja doch bloß in einer Woche oder in vierzehn Tagen auf den Kopf, denkt Meier bei sich. Dann steh ich blank da und kann keine neue Stellung annehmen, weil sie mich suchen. Nee, lieber nicht –!
Trotzdem bleibt er noch lange vor dem Geldschrank stehen, er fasziniert ihn eben doch.
Raus aus all dem Dreck! denkt er. Sie kitschen lange nicht alle. In Berlin soll man falsche Papiere billig kriegen. Ich möcht nur wissen, wo. Wie lange das wohl dauert, bis der Leutnant erfährt, ich hab den Brief nicht abgegeben –? Na, heute abend verpassen sich die beiden erst mal. Wirst du hungrig ins Bettchen müssen, liebe Weio –!
Er grinst schadenfroh.
Es klopft wieder, und rasch tritt Meier von dem Geldschrank fort und lehnt sich möglichst ungezwungen gegen die Wand, ehe er »herein« ruft – diesmal ganz manierlich. Der Umstand wäre aber gar nicht nötig gewesen, es ist auch diesmal niemand Rechtes, sondern bloß die Aufwartung, die Kutscherfrau mit den acht Bälgern, die Hartig, die reinkommt.
»Abendessen, Herr Inspektor«, sagt sie.
Meier möchte nicht gerne, daß sie das verdreckte Bett drüben in seinem Zimmer sieht (das kann nachher die Amanda ein bißchen zurechtmachen!), er hat jetzt keine Lust auf Stunk. »Stell’s da auf den Schreibtisch«, sagt er. »Was gibt’s denn?«
»Ich weiß nicht, was die Weiber mit Ihnen haben«, sagt die Hartig und nimmt einen Deckel von der Schüssel. »Jetzt fängt auch die Armgard von drüben an … Frisch gebratenes Fleisch und Rotkohl am Abend für den Inspektor …«
»Schiete!« sagt Meier. »Mir wäre ein Hering lieber. – Äx – all das Fett! – Ich habe nämlich einen gehoben.«
»Das sieht man«, bestätigte die Hartig. »Daß ihr Männer das Saufen nicht lassen könnt! Wenn wir Frauen es nun auch so machten? – War die Amanda auch mit?«
»I wo! Die brauch ich doch nicht zum Saufen!« Er lacht. Plötzlich ist er ganz munter und aufgekratzt. »Wie ist es denn, Hartig? Magst du den Fraß? Ich eß heut nicht.«
Die Hartig strahlt. »Da wird mein Oller aber lachen! Ich koch uns noch schnell ein paar Kartoffeln dazu, dann reicht’s für ihn und mich!«
»Nee!« sagt Meier gedehnt von seiner Wand her. »Das ist für dich, Hartig, nicht für deinen Ollen. Denken Sie, ich füttere den zu Kräften?! So blau! Nee, wenn Sie den Fraß wollen, dann müssen Sie ihn hier aufessen. Und gleich!«
Er starrt sie an.
»Hier –?« fragt die Hartig und starrt Negermeier wieder an.
Ihre Stimmen sind beide anders geworden, fast leise.
»Hier!« antwortet Negermeier.
»Dann will ich mal«, sagt die Hartig noch leiser, »die Fenster zumachen und die Vorhänge ein bißchen vorziehen. Wenn mich jemand hier essen sieht …«
Meier antwortet ihr nicht, aber er folgt ihr mit den Augen, wie sie die beiden Fenster schließt und sorgfältig die Gardinen vorzieht. »Schließ auch ab!« sagt er leise.
Sie sieht ihn an, dann tut sie es. Sie setzt sich vor das Tablett, das auf dem Schreibtisch steht. »Na, das soll mir aber schmecken!« sagt sie mit gemachter Munterkeit.
Er antwortet wieder nicht. Er sieht ihr aufmerksam zu, wie sie das Fleisch auf den Teller legt, dann die Kartoffeln, dann den Rotkohl. Nun löffelt sie die Soße darüber …
»Hartig, hör mal!« sagt er leise.
»Was denn?« fragt sie ebenso und sieht nicht auf, scheinbar ganz mit ihrem Essen beschäftigt.
»Was ich sagen wollte …«, sagt er gedehnt. »Ja, du – ist deine Bluse eigentlich vorn oder hinten zum Knöpfen?«
»Vorne«, sagt sie ganz leise, sieht nicht hoch, sondern fängt an, das Fleisch zu schneiden. »Willst du mal sehen?«
»Ja«, sagt er. Und ungeduldig: »Nu mach bloß los!«
»Mußt du selber machen«, antwortet sie. »Sonst wird mein Essen kalt. – Ach du … ach … Ja, du Süßer … das schöne Essen … ja … ja …«