8

Was konnte er von allen diesen Dingen seinem kleinen, guten Peter erzählen? Fast nichts. Es ließ sich auf den Satz zusammendrängen: Erst habe ich gewonnen, dann habe ich Pech gehabt. Es war also nichts Besonderes zu berichten, in letzter Zeit hatte er dies öfter sagen müssen. Natürlich konnte sie sich darunter kaum etwas vorstellen. Sie dachte vielleicht, es sei etwas Ähnliches, wie wenn jemand beim Skat verliert oder bei der Lotterie mit einer Niete herauskommt. Von dem Auf und Ab, dem Glück und der Verzweiflung war ihr nichts begreiflich zu machen. Nur das Ergebnis war mitzuteilen: eine leere Tasche – und das war dürftig.

Sie aber wußte von allen diesen Dingen viel mehr, als er glaubte. Zu oft hatte sie sein Gesicht gesehen, nachts, wenn er heimkam, noch halb erhitzt. Und das erschöpfte Gesicht im Schlaf. Und das böse, bewegliche Gesicht, wenn er vom Spiel träumte. (Wußte er eigentlich gar nicht, daß er fast jede Nacht davon träumte, er, der sich und ihr einreden wollte, er sei kein Spieler –?) Und das ferne, dünne Gesicht, wenn er auf ihr Reden nicht hörte, gedankenlos »Wie?« fragte und doch nicht hörte, das Gesicht, auf dem seine Vision einen so starken Ausdruck fand, daß man meinte, sie abheben zu können wie etwas, das Gestalt gewonnen hat. Und das Gesicht beim Haarekämmen vor dem Spiegel, wenn er plötzlich sah, was er für ein Gesicht hatte.

Nein, sie wußte genug, er brauchte nichts zu sagen, sich nicht mit Erklärungen und Entschuldigungen zu quälen.

»Es ist ja ganz egal, Wolf«, sagte sie rasch. »Uns ist doch Geld immer egal gewesen.«

Er sah sie nur an, dankbar, daß sie ihm diese Erklärung abgenommen. »Natürlich«, sagte er dann. »Das hole ich schon wieder nach. Vielleicht heute abend schon.«

»Nur«, sagte sie und war zum ersten Male beharrlich, »daß wir heute um halb eins aufs Standesamt müssen.«

»Und ich«, sagte er rasch, »will deine Kleider zum Onkel bringen. – Kann der Standesbeamte dich nicht als eine Schwerkranke im Bett trauen?«

»Auch für Schwerkranke wirst du zahlen müssen!« lachte sie. »Du weißt doch, nicht einmal der Tod ist umsonst.«

»Aber vielleicht muß man bei Kranken erst nachher zahlen«, sagte er, halb lachend, halb nachdenklich. »Und wenn dann nichts da ist: getraut ist getraut.«

Eine Weile schwiegen sie beide. Die verbrauchte, mit dem Steigen der Sonne immer überhitztere Luft stand fast greifbar im Zimmer, machte sich trocken auf der Haut bemerkbar. In der Stille hörte man den Lärm der Blechstanzerei lauter, dann plötzlich die plärrende, weinerliche Stimme der Frau Thumann, die vor der Tür mit einer Nachbarin tratschte. Die überfüllte Menschenwabe des Hauses summte, schrie, sang, klapperte, rief, weinte mit vielen Stimmen darein.

»Du weißt, du mußt mich nicht heiraten«, sagte das Mädchen mit einem plötzlichen Entschluß. Und nach einer Pause: »Kein Mensch hat so viel für mich getan wie du.«

Er sah ein wenig verlegen zur Seite. Das in der Sonne glitzernde Fenster glühte in weißlicher Glut. Was habe ich denn eigentlich für sie getan? dachte er betreten. Ihr beigebracht, wie man Messer und Gabel hält – und richtiges Deutsch.

Er wandte den Kopf und sah sie an. Sie wollte noch etwas sagen, aber ihre Lippen zuckten, als kämpfe sie mit einem Schluchzen. Er fühlte in dem dunklen Blick, der ihn ansah, solche Intensität, daß er lieber weggesehen hätte.

Da sprach sie schon. Sie sagte: »Wenn ich wüßte, du fühltest dich bloß verpflichtet, mich zu heiraten, nie wollte ich es.«

Er schüttelte, langsam, verneinend, den Kopf.

»Oder aus Trotz gegen deine Mutter«, fuhr sie fort. »Oder weil du denkst, es macht mir Freude.«

Er verneinte weiter.

(Aber weiß sie es denn, warum wir heiraten? dachte er verwundert, verloren.)

»… aber ich glaube immer, du willst es auch, weil du spürst, wir beide gehören zusammen«, sagte sie plötzlich. Sie stieß es hervor, nun standen in ihren Augen Tränen. Sie konnte freier sprechen, als sei das Schwerste gesagt. »Ach, Wolf, Lieber, wenn es nicht so ist, wenn du aus irgendeinem andern Grunde heiratest, laß es, ich bitte dich, laß es. Damit tust du mir nicht weh. Nicht so weh«, sagte sie eilig, »wie wenn du mich heiratest und wir gehören gar nicht zusammen.«

Sie sah ihn an, plötzlich fing sie an zu lächeln, in ihren Augen standen noch Tränen. »Du weißt doch, ich heiße ›Ledig‹, ich habe von je Ledig geheißen – du warst immer mit dem Namen einverstanden, nur Petra war dir zu steinig.«

»Ach, Petra, Peter, Peter Ledig!« rief er, irgendwie überwältigt in seiner einsamen, eigensüchtigen Höhle von ihrer demütigen Lieblichkeit. »Wovon redest du denn?!« Er nahm sie, schloß sie in seine Arme, schaukelte sie wie ein Kind und sagte lachend: »Wir haben nicht das Geld für die Standesamtsgebühren, und du redest von den tiefsten Dingen?!«

»Und muß ich nicht davon reden?« sagte sie leiser und hielt den Kopf an seiner Brust geborgen, »muß ich nicht davon reden, da du selbst davon schweigst – immer und alle Tage, alle Stunden –?! Ich denke so oft, selbst wenn du mich in deinen Armen hältst wie jetzt und küßt wie jetzt, daß du ganz weit fort bist von mir – von allem –«

»Jetzt redest du aber vom Spiel«, sagte er und hielt sie loser.

»Nein, ich rede nicht vom Spiel«, widersprach sie eilig und lehnte sich fester an ihn. »Oder vielleicht rede ich auch davon. Das mußt du wissen, ich weiß ja nicht, wo du bist und was du denkst. Spiele, soviel du willst – aber wenn du nicht spielst, könntest du dann nicht ein bißchen hier sein –? Ach, Wolfi«, sagte sie, und jetzt war sie von ihm fortgeglitten, hielt aber seine beiden Arme über den Ellbogen gefaßt und sah ihn fest an. »Du denkst immer, du müßtest dich wegen des Geldes entschuldigen oder mir etwas erklären – nichts hast du zu erklären, und nichts mußt du entschuldigen. Wenn wir zusammengehören, ist alles richtig, und gehören wir nicht zusammen, ist doch alles falsch – mit und ohne Geld, mit und ohne Trauung.«

Sie sah ihn erwartungsvoll an, sie hoffte auf ein Wort, ach, hätte er sie nur auf die rechte Art in seine Arme gezogen, sie hätte es schon gespürt –!

Was will sie eigentlich von mir? hatte er über ihrem Reden gedacht. Aber er wußte wohl, was sie wollte. Sie hatte sich ganz in seine Hand gegeben, von eh und je, von jenem ersten Morgen an, als sie ihn gefragt hatte, ob sie nicht mit ihm kommen dürfe. Ihr war nichts geblieben. Nun bat sie ihn, ihr einmal, doch nur einmal sein dunkles, fernes Herz zu öffnen …

Aber wie soll ich das denn tun? fragte er sich. Wie mache ich das? Und blitzartig, erleichtert: Daß ich das nicht weiß, zeigt ja, sie hat recht: Ich liebe sie nicht. Ich will sie bloß so heiraten. Hätte ich gestern, dachte er eilig weiter, nur nicht auf Null gesetzt. Dann wäre das Geld dagewesen fürs Standesamt. Es hätte keine solche Auseinandersetzung gegeben. Natürlich wäre es jetzt, da ich dies weiß, richtiger, wir heirateten nicht. Aber wie soll ich ihr das sagen? Ich kann nicht mehr zurück. Sie sieht mich noch immer an. Was soll ich ihr sagen –?

Die Stille war schwer und drückend zwischen ihnen geworden, sie hielt noch seinen Arm, aber nur lose, als hätte sie vergessen, daß sie ihn hielt. Er räusperte sich. »Peter …«, fing er an.

Da ging die Flurtür, und das Schlurren der Thumannschen wurde hörbar.

»Schnell, Wolf, mach die Tür zu!« sagte Petra eilig. »Frau Thumann kommt, wir können sie jetzt nicht brauchen.«

Sie hatte ihn losgelassen. Er ging gegen den Flur, aber ehe er noch die Zimmertür gefaßt hatte, kam die Vermieterin schon in Sicht.

»Warten Se noch imma?« fragte sie. »Ick hab doch schon jesacht: Kaffe is nich ohne Jeld.«

Hören Sie, Frau Thumann«, sagte Wolfgang eilig. »Ich will gar keinen Kaffee. Ich gehe jetzt sofort mit unsern Sachen zum Onkel. Und unterdes geben Sie der Petra Schrippen und Kaffee, sie ist ja halb verhungert.«

Kein Laut in seinem Rücken.

»Und mit dem Gelde komme ich dann auf der Stelle zu Ihnen und bezahle alles, behalte nur so viel für mich, daß ich in den Grunewald fahren kann. Da habe ich einen Freund, vom Militär her, Zecke heißt er, von Zecke, der pumpt mir sicher was …«

Er wagte jetzt einen Blick ins Zimmer. Geräuschlos hatte sich Petra aufs Bett gesetzt, saß dort mit gesenktem Kopf, er sah ihr Gesicht nicht.

»So?!« antwortete die Thumann, halb fragend, halb drohend. »An det Frühstück for det Mächen soll es nich fehlen – heute nich un morgen ooch noch nich – aba wie is es denn mit de Trauung –?« Sie stand da, in fließendem Gewande, mit zerfließenden Formen, den Pott in der hängenden Hand – und wie sie so dastand, konnte sie nun freilich einem jeden die Lust an aller Trauung und Bürgerlichkeit für ein langes Leben austreiben.

»Oh!« sagte Wolfgang leichthin und war im Augenblick wieder obenauf. »Wenn es mit dem Frühstück für Peter in Ordnung ist, ist es auch mit der Trauung in Ordnung.«

Er sah rasch nach dem Mädchen, aber Peter saß noch wie vorher. »In der Pfandleihe werden Se anstehen müssen, und Jrunewald is weit«, sagte die Thumannsche. »Ick hör imma Trauung, aber ick trau nich!«

»Doch, doch!« sagte Petra plötzlich und stand auf. »Sie dürfen schon trauen, Frau Thumann, wegen des Geldes und wegen der Trauung, beides. – Komm, Wolf, ich helfe dir die Sachen einpacken. Wir nehmen wieder den Handkoffer, dann braucht er nur einen Blick hineinzutun und sieht, es ist alles wieder beisammen. Er kennt es ja nun schon.« Und sie lächelte ihm zu.

Frau Thumann wandte den Kopf beobachtend von einem zum andern, langsam, wie ein alter, weiser Vogel. Wolfgang rief unendlich erleichtert: »Ach, Peter, du bist doch immer die Allerbeste, und vielleicht schaffe ich es wirklich noch bis halb eins. Wenn ich Zecke nur treffe, pumpt er mir sicher genug, daß ich mir ein Auto nehmen kann …«

»Jewiß doch!« sagte statt Petra die Thumannsche. »Und denn raus mit det Mächen aus de Betten und rin mit ihr aufs Standesamt, wie sie jeht und steht, mit ’em Herrenpaletot, ohne alles drunter. Wir sind ja janz jroß!!!« Sie funkelte giftig. »Wenn ick so wat bloß höre! Und det Schlimme is, die Jänse wer’n nich alle, die euch Männern so ’nen Schmus jlooben tun, un wie ick det Mächen kenne, sitzt se de janze Zeit nachher bei mir in de Küche rum und tut, wie wenn se mir helfen will. Aber se will mir jar nich helfen, nich die Bohne, se will bloß een Ooje uff de Küchenuhr haben, un halb eens pünktlich sagt se: Ick fühle, er kommt, Frau Thumann! – Aba er kommt jar nich, und wahrscheinlich sitzt er denn jrade bei seinem hochjeborenen Freunde und se kümmeln eenen in aller Jemütsruhe und paffen eene, und wenn er wirklich wat denkt, denkt er: Die trauen ja alle Tage! Und wat heute nich is, braucht morgen noch lange nich kommen …«

Und damit schoß die Thumann einen vernichtenden Blick auf Wolfgang, einen verächtlich-mitleidigen auf Petra ab, machte mit dem Pott eine kleine Bewegung als Schlußpunkt, Ausrufe- und Fragezeichen in einem und zog die Tür zu. Die beiden aber standen in ziemlicher Verlegenheit und wagten kaum, sich anzusehen, denn man mochte von dem Erguß der Zimmerwirtin denken, was man wollte: angenehm war er nicht.

Schließlich aber sagte Petra: »Mach dir nichts draus, Wolfgang. Die und alle andern können sagen, was sie wollen, das ändert doch gar nichts. Und wenn ich vorhin so weinerlich war, vergiß das. Manchmal hat man so eine Stimmung, als wäre man ganz allein, und dann fürchtet man sich und möchte gerne einen Trost hören.«

»Und jetzt bist du nicht mehr allein, Peter?« fragte Wolfgang seltsam bewegt. »Jetzt brauchst du keinen Trost mehr?«

»Ach«, sagte sie und sah ihn verloren-verlegen an. »Du bist doch da …«

»Aber«, drängte er plötzlich, »vielleicht hat Pottmadamm ganz recht, daß ich um halb eins sitze und denke: Trauen tun sie alle Tage – was meinst du?«

»Daß ich trau!« rief sie, hob den Kopf und sah ihn mutig an. »Und wenn ich dir auch nicht trauen würde, ändert das denn was? Ich kann dich nicht binden. Trauung oder nicht – wenn du mich magst, ist alles gut, und wenn du mich nicht magst …« Sie brach ab und lächelte ihn an. »Und nun lauf, Wolf. Der Onkel macht um zwölf Mittagspause, und vielleicht stehen wirklich viele an.« Sie gab ihm den Koffer in die Hand, sie gab ihm noch einen Kuß. »Mach’s gut, Wolf!«

Er hätte ihr gerne noch etwas gesagt, aber es fiel ihm nichts ein. So nahm er den Koffer und ging.

Wolf unter Wölfen
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