In einem Hotelzimmer, auf einem Bett, liegen ein Mädchen und ein Mann. Der Mann schläft dicht an der Wand, in dem nicht breiten Bett bläst er leise pfeifend den Atem durch die Nase. Das Mädchen ist eben wach geworden, das Kinn auf die verschränkten Arme gelegt, auf dem Bauche liegend, blinzelt es zu den beiden Fensterrechtecken, die schon hell sind.
Das Mädchen hört: Das Geräusch von Schnellbahnzügen, die in einen Bahnhof einfahren; das stöhnende Gepuff einer Lokomotive; Geschilp von Spatzen; viele Fußgängerschritte, eilig, hastig, eilig; nun schüttert das Zimmer mit allem, was darin ist, von einem schnell fahrenden, schweren Gefährt – das muß ein Autobus sein, überlegt das Mädchen –, und jetzt, ungewohntes Geräusch unter so vielen gewohnten, tutet ganz nah ein Dampfer, zwei-, dreimal, fordernd, ungeduldig …
Das Mädchen, Sophie Kowalewski, ist ihrem Entschluß treu geblieben: zum Abschied ist sie in der Altstadt bummeln gegangen, und nun ist sie in einem Hotel an der Weidendammer Brücke gelandet – daher das Dampfertuten, auf der Spree fahren Dampfer – oder ist dies hier gar nicht die Spree –?
Leise, behutsam, den Mann nicht zu wecken, schlüpft Sophie Kowalewski aus dem Bett, läuft, wie sie ist, ans Fenster und hebt einen Zipfel des Vorhangs. Strahlend blau steht der Himmel über den Eisenbogen der Brücke.
Herrliches Wetter werde ich in Neulohe haben, denkt Sophie. Großartige Sache: am Eingang des Waldes unter einem Baum liegen und sich schmoren lassen … keine Gnädige … Badeanzug Fehlmeldung … Und abends, wenn der Mond hochkommt, ganz nackt in den kalten Krebsteich mitten im Walde …
Sie läßt den Zipfel des Vorhangs fahren und macht sich rasch an Waschen und Anziehen. Sie spült sich nur so ein bißchen ab, gurgelt flüchtig – all das kann sie noch gründlich im Hospiz besorgen, sie hat Zeit genug, bis ihr Zug geht. Eine freudige Spannung, etwas wie das Vorgefühl eines nahen Glückes erfüllen sie … Neulohe, der alte, verwilderte Fliederbusch hinter dem Spritzenhaus, wo sie ihren ersten Kuß bekam, o Gott! Sie wird im Hospiz auch frische Wäsche anziehen. All dies Zeugs ekelt sie …
Sophie Kowalewski ist fertig, ihr Täschchen in der Hand, steht sie und späht unschlüssig zum Bett. Sie macht zwei Schritte in der Richtung und sagt halblaut, sehr vorsichtig: »Du, Bubi …«
Nichts.
Noch einmal: »Ich geh jetzt, Schatzi …«
Nichts, nur das leise Pfeifen durch die Nase …
Es ist keine plötzliche Eingebung, wenn Sophie jetzt scharf zu den Kleidern des Schläfers hinschaut, die unordentlich über den Stuhl geworfen daliegen. Nebenbei hat sie die ganze Zeit, seit sie wach ist, daran gedacht, daß bei dieser dämlichen Nacht wenigstens das Reisegeld nach Neulohe herausschauen könnte. Sie muß jetzt ein bißchen auf ihr Geld sehen, in Neulohe gibt es kein frisches. Rasch ist sie bei dem Stuhl, auf den ersten Griff faßt sie die Brieftasche (sie hat schon heute nacht darauf geachtet, wohin er sie steckt), sie macht sie auf …
Es ist nicht viel Geld in der Tasche – ach, es ist eigentlich sehr wenig darin für einen Mann, der gestern abend viele Millionen für Sekt ausgab! Einen Augenblick zögert Sophie. Sie wirft einen Blick auf die Kleider, und mit dem Auge der Frau sieht sie, daß es wohl sorgfältig geschonte, aber gar nicht neue Kleider sind, vielleicht hat der Mann all sein Geld zusammengescharrt für diesen einen großen Ausgang. Es gibt solche Männer, Sophie weiß es, sie sparen und sparen, sie versprechen sich die Welt von einem solchen Abend, ein Glück, wie sie es noch nie erlebten …
Dann erwachen sie am nächsten Morgen, ernüchtert, verzweifelt, ausgeleert …
Zögernd steht Sophie, die Geldtasche in der Hand. Ihr Blick geht hin und her zwischen den paar Scheinen, den Kleidern, dem Schläfer …
Das bißchen Geld hilft mir auch nichts, denkt sie. Schon will sie die Scheine in die Brieftasche zurücklegen.
Aber der Hans würde mich auslachen! denkt sie plötzlich. Der Hans ist nicht so dumm. Man muß alles mitnehmen, sagt er immer. Die Anständigen sind die Doofen. Nein, es ist ihm grade recht, wird er das nächste Mal besser aufpassen …
Sie nimmt das Geld. Und noch einmal ein Überlegen: Wenigstens das Fahrgeld müßte ich ihm lassen. Sicher muß er auf sein Büro. Daß er wenigstens rechtzeitig auf seinem Büro ist!
Und wieder die andere Stimme: Aber was geht das mich an, ob er rechtzeitig auf dem Büro ist?! Wer hat sich je um mich gekümmert, wie ich nach Haus kam?! Auf der Straße haben mich die Herren Kavaliere stehenlassen, zu faul waren sie, mir die Haustür aufzuschließen, aus der Taxe haben sie mich gesetzt, wenn sie erst ihren Willen hatten! Was heißt hier Fahrgeld?!
Ordentlich stolz ist sie auf ihren Entschluß. Mit zorniger Entschlossenheit stopft sie das kümmerliche Geld in ihr Täschchen. Recht hast du! würde der Hans sagen. Und recht habe ich auch! Wer nicht nimmt, dem wird genommen. Wer nicht beißt, der wird gebissen. Guten Morgen!
Und leichtfüßig, vergnügt läuft sie die Treppe hinunter.