7

Eine halbe Stunde später war das Arbeitskommando 5 aus Neulohe abgerückt, und wieder eine Viertelstunde später waren auch die Gendarmen ausgezogen auf ihre Treibjagd durch die Wälder. Von den Fenstern des Büros hatten alle vier: der Geheimrat, der Oberleutnant, der junge Pagel und Frau von Prackwitz, den Ausmarsch angesehen; er hatte keine Ähnlichkeit mit der Ankunft der Husaren gehabt. Kein Lied war gesungen, kein Gesicht hatte gelächelt, mit gesenkten Köpfen, die Gesichter verbissen, die Schuhe im Staube der Straße schleifend, waren sie fortgezogen. Dieses hohle Schlürfen auf dem Wege hatte etwas so Verzweifeltes gehabt, ein böser Rhythmus, ein »Wir sind die Feinde dieser Erde« – so hatte es geklungen, für Wolfgang.

Sicher hatten die Leute an ihre entflohenen Leidensgefährten gedacht, glühender Neid hatte sie erfüllt, wenn sie an die Freiheit dieser fünf dachten, die nun in den Wäldern hausten, während sie unter dem Geleit schußbereiter Karabiner wieder in ihre steinernen Einzelzellen zurückkehren mußten – sie bestraft, weil jene entflohen waren. Ihnen war der Anblick der Felderweite genommen, eines lachenden Mädchengesichtes, eines Hasen, der die Kartoffelfurche entlanghoppelt – eingetauscht gegen die gelbgraue Öde der Zellenwände, weil fünf andere in der Freiheit herumliefen.

Vor dem Zuge aber ging der Oberwachtmeister Marofke; rechts hatte er ein Rad zu führen, links hatte er ein Rad zu führen – nicht einmal bewachen durfte er seine Leute noch. Hinter dem Zuge schritt schwer und schwarzweiß, mit strubbligen Augenbrauen, auf Elefantenfüßen der Inspektor, ganz allein, das weiße fette Gesicht ausdruckslos erhoben. In seinem Munde glänzten weiße starke Zähne. Auf einem Steine am Wegrande hatte Weio gestanden und den vorübergehenden Zug gemustert. Pagel war böse gewesen, daß sie dort stand.

Dann hatte der Geheimrat mit einem Blick auf seine Enkelin zu der Tochter gesagt: »Übrigens würde ich dir empfehlen, die nächsten Nächte doch lieber nicht allein mit eurem dusseligen Räder in der Villa zu schlafen. Unsern klugen Oberlandjägermeister in allen Ehren, aber sicher ist sicher.«

»Vielleicht würde einer der Herren –?« sagte Frau von Prackwitz und sah abwechselnd Pagel und Studmann an.

Obwohl Marofke ausdrücklich vor allem Detektivspiel gewarnt hatte, wollte Pagel in den nächsten Nächten lieber frei sein, ein bißchen herumzustöbern, ein wenig umherzuhorchen – kurz, die Augen aufzuhalten, wie ihm gesagt worden war. Er sah darum keinen an, sondern zum Fenster hinaus – aber die Zuchthäusler waren endgültig fort, und die Schnitterkaserne sah wie ein roter, leerer Kasten aus.

»Ich bin gerne bereit, bei Ihnen zu schlafen«, sagte von Studmann – und wurde entsetzlich rot.

Der alte Geheimrat meckerte einmal auf und sah auch zum Fenster hinaus. Pagel, die Augen starr auf der Kaserne, bewegte die Schultern; die Ungeschicklichkeiten der Geschickten sind stets am allerschlimmsten. Wenn ein formvollendeter Mann wie Herr von Studmann ausrutschte, schämten sich alle, die es sahen.

»Also, das ist abgemacht. Schönen Dank, Herr von Studmann«, sagte Frau von Prackwitz mit ihrer vollen, ruhigen Stimme.

»Einen Haufen Geld wird es euch kosten, die Schnitterkaserne wieder in den alten Stand zu setzen«, erklärte der alte Geheimrat, die Augen immer noch aus dem Fenster. »All diese Gittergeschichten und Riegel müssen wieder weg, die Tür aufgebrochen – und das alles möglichst bald.«

»Vielleicht könnte man das Haus vorläufig so lassen?« fragte Studmann vorsichtig. »Es wäre doch schade, wenn man alles rausrisse und müßte es im nächsten Jahr wieder einmauern.«

»Im nächsten Jahre –? Nach Neulohe kommt nie wieder so ein Kommando!« verkündete der Geheimrat entschlossen. »Ich habe jetzt genug von den Angstzuständen deiner Mutter, Eva. Na, ich will jetzt mal rauf und nach ihr sehen, die vielen grünen Landjägerröcke werden ihr gutgetan haben! So ein Aufstand – aber was wird mit euern Kartoffeln, frage ich mich immerzu.«

Mit diesem letzten Kanonenschlag verließ der Geheimrat das Büro. Für das Rotwerden Herrn von Studmanns, für die kurze, nur ihm merkbare Verlegenheit der Tochter, für das betont gleichgültige Aus-dem-Fenster-Starren des jungen Pagel hatte der eifersüchtige Vater sich hinreichend gerächt.

»Ja, was wird mit unsern Kartoffeln –?« fragte auch Frau Eva und sah Herrn von Studmann zweifelnd an.

»Ich denke, das wird keine großen Schwierigkeiten machen«, erklärte Studmann eilig, froh, ein Thema gefunden zu haben. »Arbeitslosigkeit und Hunger werden immer größer. Wenn wir in der Kreisstadt bekanntmachen, daß wir Kartoffeln buddeln lassen, daß wir keinen Barlohn geben, sondern vom Zentner gebuddelter Kartoffeln zehn oder fünfzehn Pfund in natura, werden wir genug Leute kriegen. Wir müssen eben jeden Morgen zwei, drei, vier Gespanne in die Stadt schicken und die Leute holen lassen, wir müssen sie abends zurückfahren – aber es wird gehen.«

»Umständlich – teuer«, seufzte die gnädige Frau. »Ach, wenn diese Zuchthäusler …«

»Immer billiger, als wenn uns die Kartoffeln einfrieren. Sie, Pagel, werden dann auch nicht mehr Freiherr und Baron sein. Sie werden den ganzen Tag auf dem Felde stehen und Zählmarken ausgeben müssen, für jeden Zentner eine Marke …«

»Gott zum Gruß!« sagte Pagel ergeben und überlegte ärgerlich, daß er sich dann seinem Augenaufreißen nicht mehr würde widmen können.

»Ich muß morgen doch verreisen«, fuhr Herr von Studmann fort. »Ich werde dabei auch diese Sache in Gang setzen. Inserat im Kreisblatt – Besprechung mit dem Arbeitsamt.«

»Sie wollen verreisen?« fragte die gnädige Frau. »Jetzt grade, wo die Zuchthäusler …« Sie war sehr ärgerlich.

»Nur schnell einen Tag nach Frankfurt«, tröstete Herr von Studmann. »Wir haben heute nämlich den Neunundzwanzigsten.«

Frau von Prackwitz verstand nicht. »Übermorgen ist die Pacht fällig, gnädige Frau!« sagte Herr von Studmann mit Nachdruck. »Ich habe etwas vorverhandelt, aber nun wird es höchste Zeit, daß ich das Geld heranschaffe. Der Dollar steht auf hundertsechzig Millionen Mark, wir müssen eine ungeheure Summe auftreiben, jedenfalls eine ungeheure Menge Papier …«

»Die Pacht! Die Pacht! Jetzt, wo die Zuchthäusler hier frei im Lande herumlaufen!« rief Frau Eva ungeduldig. »Hat mein Vater denn gemahnt –?«

»Herr Geheimrat hat nichts gesagt, aber …«

»Ich bin überzeugt, meinem Vater würde es gar nicht recht sein, wenn Sie grade jetzt losfahren. Sie haben doch eine Art Wachtdienst bei uns übernommen …« Sie lächelte.

»Ich würde bis zum Abend zurück sein. Meiner Ansicht nach muß die Pacht auf die Minute bezahlt werden. Es ist das auch ein Ehrenpunkt von mir …«

»Aber Herr von Studmann! Papa verliert doch nichts, wenn er die Pacht eine Woche später bekommt, zum dann geltenden Dollarkurs. Ich werde mit Papa reden …«

»Ich glaube nicht, daß der alte Herr mit sich reden lassen wird. Sie haben eben erst gehört, daß er die sofortige Instandsetzung der Schnitterkaserne forderte.«

»Es kann jetzt jede Stunde soviel passieren!« bat Frau von Prackwitz förmlich. »Wirklich, Herr von Studmann, lassen Sie mich nicht grade jetzt hier allein … Ich habe ein so ungemütliches Gefühl …«

»Gnädige Frau!« sagte Herr von Studmann fast verlegen. Einen Augenblick sah er zu dem schweigend aus dem Fenster schauenden Pagel, aber gleich vergaß er ihn wieder. »Ich würde so gerne ja sagen, aber verstehen Sie doch, ich möchte Herrn Geheimrat nicht um einen Aufschub in der Pachtzahlung bitten. Es ist wirklich eine Ehrensache für mich. Ich habe die Wirtschaft von Prackwitz übernommen, ich bin ihm verantwortlich. Wir können zahlen, ich habe alles genau überlegt, es würde ja eine Blamage für mich sein. Man muß doch genau sein im Leben, exakt …«

»Blamage! Genau!« rief Frau von Prackwitz sehr ärgerlich. »Ich sage Ihnen doch, meinem Vater ist es egal, wann wir zahlen.« Leiser: »Jetzt, wo mein Mann weg ist. Es kam ihm doch nur darauf an, meinen Mann zu ärgern. Ich sage Ihnen, wenn ich an die Villa denke, und allein die ganze Nacht mit der Weio und den törichten Mädchen und dem noch törichteren Räder, fünfhundert Meter bis ans nächste Dorfhaus … Ach, es ist nicht das!« rief sie plötzlich, ärgerlich, gereizt, überrascht, einen ganz andern Studmann kennenzulernen, ernstlich etwas von den Schattenseiten der Pedanterie und Verläßlichkeit zu erfahren. »Ich habe ein ungemütliches Gefühl, und ich möchte die nächsten Tage nicht ganz allein sein …«

»Aber Sie haben wirklich nichts zu fürchten, gnädige Frau!« erklärte Studmann mit jener beharrlichen Sanftheit, die einen erregten Menschen wahnsinnig machen konnte. »Auch der Oberlandjägermeister meint, daß die Leute aus der hiesigen Gegend fort sind. – Und schließlich bleibt Vertrag Vertrag, grade unter Verwandten. Man muß ihn korrekt erfüllen, ich stehe schließlich mit meiner Person dafür ein. Prackwitz würde mir mit Recht vorwerfen …«

»Der Herr Rittmeister!« sagte Pagel mit halber Stimme am Fenster. »Er fährt eben auf den Hof!«

»Wer?« fragte Studmann verblüfft.

»Mein Mann?« rief Frau von Prackwitz. »Ich denke, er schießt sein fünfhundertstes Kaninchen!«

»Es ist nicht möglich!« sprach von Studmann und sah doch schon den Rittmeister aus dem Auto steigen.

»Ich habe schon seit heute früh dieses unruhige Gefühl …«, meinte Frau von Prackwitz.

»Dachte ich es mir doch!« sagte der Rittmeister, trat in das Büro und schüttelte den drei Überraschten strahlend die Hände. »Wieder einmal der Große Rat versammelt zur Besprechung jener völlig unlösbaren Fragen, die mein Freund Studmann dann schließlich doch löst! Großartig! Ganz wie ich gedacht habe, alles beim alten. Studmann, ich bitte dich, zieh kein Gesicht. Ich soll dir übrigens von deinem dir noch unbekannten Freunde Schröck bestellen, daß du nach wie vor der richtige Mann für ihn bist. Ich tauge nur zum Karnickelschießen. – Aber, Kinder, sagt, was machen denn die vielen Laubfrösche hier in Neulohe? Eine ganze Abteilung sah ich, wie sie auf den Wald losmarschierte. Der Herr Schwiegervater will doch nicht etwa seine Wilddiebe gefangennehmen lassen?! Unsern guten Kniebusch traf ich übrigens heute früh in Frankfurt auf dem Bahnhof, völlig zerschmettert, er hat heute Termin in Sachen Bäumer … Um den alten Knopp hat sich also auch keiner von euch richtig gekümmert, einschließlich meines hochverehrten Herrn Schwiegervaters. Das hätte man ihm sicher ersparen können! Na, jetzt werde ich mich wieder in die Wirtschaft knien! Und die Gendarmen? Zuchthäusler sind euch weggelaufen? Das Kommando ist aufgelöst?«

Der Rittmeister lachte herzlich, er warf sich in einen Stuhl und lachte immer mehr, je mehr er die überraschten, verlegenen Gesichter der anderen betrachtete.

»Aber, Kinder, Kinder – dafür hättet ihr mich doch nicht wegzuschicken brauchen, solche Dummheiten hätte ich auch allein fertiggebracht! Großartig! Und die Schwiegermama bibbert natürlich wieder? Und der junge Herr Pagel geht nicht mal auf die Treibjagd mit? Na, Pagel, wenn ich Ihr Chef wäre, Sie müßten mir sofort raus. Das ist Ehrensache, einer vom Gut muß doch mindestens dabeisein. Sonst heißt es gleich, wir hätten Angst …«

»Jawohl, Herr Rittmeister!« sagte Pagel. »Ich gehe schon!« Und ging.

»Na also!« rief der Rittmeister strahlend. »Den hätten wir raus! Der junge Bursche braucht hier auch nicht ewig tatenlos herumzustehen, schließlich ist er hier in Lohn und Brot. – So, Kinder, und nun erzählt mir alles, was ihr auf dem Herzen habt. Ihr habt keine Ahnung, wie frisch und ausgeruht und erholt ich bin. Jeden Tag ein Fichtennadelbad und zehn Stunden Schlaf – das erfrischt! – Also raus, Studmann, mit dem Schlimmsten: Was macht die Pachtzahlung –?«

»Ich hole das Geld morgen aus Frankfurt«, sagte Studmann, ohne jeden Blick auf die gnädige Frau.

Komisch, plötzlich war es dem Herrn von Studmann doch wieder nicht recht, daß er recht bekommen hatte mit seiner Reise.

Wolf unter Wölfen
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