Allein geblieben, steht der Rittmeister unentschlossen, er nagt an seiner Lippe, er sieht die Fahrkarte in der Hand an. Im Nu ist mit dem Fortgang der beiden seine begeisterte Stimmung, die ihm jedes Geständnis leicht machte, verflogen, jetzt beherrscht ihn ganz die augenblickliche Situation, die einfach ekelhaft ist.
Mit ärgerlich gefalteter Stirn und eingekniffenen, bösen Augen späht er in die Halle. Die Leute dort sind mit dem Naherücken der Abfahrtszeit auch unruhig geworden; wer auf den Treppenstufen saß, ist aufgestanden; es haben sich Gruppen gebildet, die eifrig miteinander diskutieren; auf einem Treppenpodest steht der lange, knochige Vermittler mit dem weißen, haarlosen Schädel, spricht beruhigend zu seinen Bedrängern, sucht die Halle mit den Augen ab, späht nach dem Eingang …
Der Rittmeister zieht sich weiter hinter seinen Pfeiler zurück – ach, diese Rotte Korah, dieser Haufe Unglück, der ihm beschert sein soll! Er sieht keine Möglichkeit, ungesehen hindurchzukommen – warum hat dieser verdammte Bahnsteig nicht mehr Aufgänge –?!
Und ich nehme die Leute nicht, ich nehme sie unter gar keinen Umständen! Ich mache mich nicht zum Gespött der ganzen Gegend! Ich lasse mich nicht auslachen! In Seidenfähnchen und Stöckelschuhen zum Roggenpuppen! Kein Hemd zum Wechseln, nicht eine Hose! Wenn die Bande einmal naß wird, sitzt alles splitterfadennackt so lange in der Bude, bis das Zeug wieder trocken ist! Paradiesische Zustände! Nein, lieber noch Zuchthäusler!
Der Rittmeister späht um den Pfeiler – aber er prallt zurück.
Der Vermittler hat seinen erhöhten Aussichtspunkt verlassen; auf der einen Seite das Mädchen mit Kind in der Schlampenbluse, auf der andern den alten Knacker mit Botanisiertrommel im Bratenrock, strebt er, aufgeregt redend, dem Bahnhofseingang zu – und der Rittmeister möchte in seinen Pfeiler hineinkriechen, versteinern, sich auflösen, so sehr graut ihm vor diesem Trio!
Und grade in diesem Augenblick, in diesem kritischsten aller kritischen Augenblicke – tönt eine etwas rauhe, aber gar nicht unangenehme Mädchenstimme an sein Ohr: »Oh, der Herr Rittmeister!«
Er fährt herum und starrt.
Ja, wahrhaftig: vor ihm steht, er weiß nicht, woher gekommen, also tatsächlich wie vom Himmel gefallen, die Tochter seines Leutevogts Kowalewski, ein Mädchen, das er unter den törichten und plumpen Hofgängerinnen des Gutes wegen seiner frischen Art und seiner zierlichen Schönheit immer gerne gesehen und mit manchem väterlich freundlichen Wort ausgezeichnet hat.
»Sophie!« sagt er ganz verblüfft. »Was machst du denn hier, Sophie?«
(Die Hofgängermädchen, die vom vierzehnten Jahre an auf dem Gut arbeiteten, wurden alle mit »du« angeredet. Und dabei blieb es – auch wenn sie, wie die Sophie, in die weite Welt hinauszogen.)
»Ich fahr zu den Eltern in Urlaub!« lacht sie und sieht ihn ganz töchterlich an.
»Ach, Sophie!« sagt er eifrig. »Du kommst mir wirklich wie vom Himmel gesandt! Auf der andern Seite vom Pfeiler der Mann mit der Glatze, ja, der große – guck nicht so hin, Sophie! –, der darf mich unter keinen Umständen sehen, und ich muß zum Zug! Es sind nur noch drei Minuten. Kannst du ihn nicht irgendwie festhalten, nur so lange, daß ich durch die Eingangshalle flutsche, meine Karte habe ich schon –. Danke, danke, Sophie, im Zuge erkläre ich dir alles. Bist immer noch ein großartiges Mädchen! – Los –!«
Er hört eben noch ihre Stimme, hoch, sehr streitsüchtig: »Stehen Sie doch nicht mitten im Wege! Ich muß zu meinem Zug! Fassen Sie lieber meine Koffer an …«
Großartiges Mädchen! denkt er noch einmal. Aber mächtig verändert. Bißchen aufgetakelt …
Er rennt, rennt, was er kann, gar nicht wie ein Rittmeister, gar nicht wie ein Brotgeber – die Sperre, da vorne ist schon die Sperre …
Aber vielleicht hat der Kerl Bahnsteigkarten! – Dolle Schatten unter den Augen. Und das Gesicht, so dick geworden, alles Feinere ist weg. Richtig aufgeschwemmt, ja, wie von Schnaps …
»Ich weiß, danke, ich weiß Bescheid, der Zug links – fahre hier nicht zum ersten Male! Danke!«
Gottlob, das hätten wir geschafft! Aber sicher bin ich erst, wenn der Zug fährt … Ja, ich fürchte, die kleine Sophie ist schon früher ein bißchen scharf rangegangen mit den jungen Kerls im Dorfe, habe mal so was gehört – und Berlin ist ein schwieriges Pflaster … Davon kann ich auch ein Lied singen …
Gottlob, da winkt Pagel!
»Na also, meine Herren, das hätte ich ja geschafft. – Bitte, Studmann, bitte, Pagel – stellt euch ans Fenster, daß niemand reingucken kann, der Kerl ist imstande und revidiert noch die Abteile! Ich muß mich erst mal trockenlegen, ich schwimme gradezu – so ein Dauerlauf am frühen Morgen …«
»Du bist also unbehelligt durchgekommen?« fragt Studmann.
»Schwierig war es! Und wißt ihr, wer mir geholfen hat –? Die Tochter von meinem Leutevogt! – Sie kam grade, fährt zu ihren Eltern in Urlaub, ist hier in Berlin Zofe bei irgendeiner Gräfin … Ihr könntet eigentlich mal aufpassen, ob sie den Zug noch schafft. Er muß doch jeden Augenblick fahren. Man könnte sie hier reinbitten. Ich wüßte gerne, wie es ihr so geht. Ein prächtiges Mädchen – wie die gleich verstanden hat, ohne ein Wort!«
»Wie sieht sie denn aus? Alt – jung? Dick – dünn? Blond – dunkel?«
»Ach, der ist Berlin nicht gut bekommen! Nee, laßt es lieber! Nachher gibt es nur Gerede, und in Neulohe ist es auch peinlich, wenn man sich dann wiedersieht. Schließlich ist sie nur die Tochter von meinem Leutevogt! Halten Sie immer darauf, Pagel: Abstand von den Leuten, keine Vertraulichkeiten, sich nicht mit ihnen einlassen! Verstanden?!«
»Jawohl, Herr Rittmeister!«
»Gottlob, wir fahren. So, setzt euch gemütlich. Brennen wir uns einen Tobak an – es ist doch herrlich, so aus dieser Dreckstadt in den Sommer hinauszufahren, was, Studmann? Was, Pagel?«
»Herrlich!« sagt Studmann – und fragt vorsichtig: »Eins ist mir noch eingefallen, Prackwitz –: weiß der Mann nicht deinen Namen?«
»Welcher Mann –?«
»Der Vermittler doch!«
»Ja, natürlich – wieso?«
»Dann wird er dir doch wohl schreiben und Ansprüche stellen – oder?«
»O verdammt! O verdammt! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht! Das ganze Theater umsonst! Aber ich nehme den Brief nicht an, ich verweigere die Annahme, kein Mensch kann mich zwingen, den Brief anzunehmen!«
Der Rittmeister knirscht vor Wut.
»Es tut mir sehr leid, Prackwitz, aber das wird kaum was helfen …«
»Ja, jetzt tut es dir leid, Studmann! Aber entweder hättest du mir das unten im Bahnhof sagen müssen – oder gar nicht. Jetzt, wo es zu spät ist! Die ganze Fahrt ist mir verdorben! Und es ist so schönes Wetter!«
Wütend starrt der Rittmeister aus dem Abteil, in das schöne Wetter.
Ehe Studmann noch etwas antworten kann (und es ist fraglich, ob er große Lust hat zu antworten), öffnet sich die Tür vom Seitengang. Aber statt des Schaffners erscheint ein sehr elegantes junges Mädchen. Lächelnd legt sie die Hand an ihr Hütchen. »Befehl ausgeführt, Herr Rittmeister!«
Der Rittmeister springt auf, strahlend.
»Das ist ja großartig, Sophie, daß du den Zug doch noch geschafft hast! Ich machte mir schon Vorwürfe. – Meine Herren, dies ist Sophie Kowalewski, ich sagte Ihnen schon … Herr von Studmann, Herr Pagel. Die Herren sind – ähemm! – meine Gäste. – So, und nun setze dich hierher, Sophie, und erzähl uns ein bißchen. Zigarette gefällig? – Nein, natürlich nicht. Sehr vernünftig, junge Mädchen sollten überhaupt nicht rauchen, ich sage das auch stets meiner Tochter. Fräulein von Kuckhoff hat wie immer recht. Weiber weiblich – Männer männlich – und das meinst du doch auch, Sophie?«
»Natürlich, Herr Rittmeister, Rauchen ist ja auch so schädlich!« Und mit einem Blick auf die beiden Zuhörer: »Kommen die Herren nur zum Wochenende oder bleiben sie länger in Neulohe –?«