8

Natürlich hatte der Spanner, und zwar derselbe, der den Herren hinaufgeleuchtet hatte, unten an der Tür gestanden und hatte sich nur nicht errufen lassen. Denn jedem Spieler, der fortgehen will, muß man die Möglichkeit geben, sich lange zu besinnen.

Jetzt aber, da von Studmann mit dem Mädchen am Arm im Hausflur erschien, in den von außen der Schein einer Gaslaterne fiel, war er auch dieser Situation völlig gewachsen. Den Valutenvamp, die Walli, kannte er, und daß Geld und Liebe häufig miteinander Ringelreihe oder Bäumchen verwechselt spielen, war ihm auch nicht neu.

»Auto?« fragte er, schwenkte jovial die trinkgeldgeöffnete Hand und erklärte, ehe von Studmann noch antworten konnte: »Warten Se man hier. Ich hol eines vom Wittenbergplatz.«

Damit verschwand er, und von Studmann hatte Zeit, über das Verfängliche seiner Situation nachzudenken, hier im dunklen, unverschlossenen Flur eines unbekannten Hauses, mit einem unbekannten Mädchen am Arm. Oben aber war ein Spielklub – und nun brauchte nur noch ein Mann der Wach- und Schließgesellschaft zu kommen –!

Es war wieder einmal alles recht peinlich, und der heutige Tag hatte von Studmanns Bedarf an peinlichen Situationen voll und ganz gedeckt! Es war ein verfluchtes Leben in dieser Zeit; ein Mann konnte nie wissen, was in der nächsten Viertelstunde passieren würde; ob noch Geltung besitzen würde, was eben galt.

Studmann hatte sich ehrlich gefreut, als er heute morgen seinen alten Regimentskameraden getroffen hatte. Prackwitz hatte sich dann fabelhaft anständig benommen, ohne sein Dazutun wäre nie etwas von einem Geheimrat Schröck an Studmanns Ohr gedrungen, sondern man hätte ihn ziemlich mit Schimpf und Schande davongeschickt. Auch die Aussicht, mit Prackwitz aus diesem Höllenpfuhl auf das ruhige Land zu gehen, war sehr schön gewesen – und nun saß dieser selbe Prackwitz da oben, verschluderte in der dümmsten Weise sein Geld – und hatte ihn bereits »Kindermädchen« geschimpft!

Er brauche kein Kindermädchen – wahrhaftig, er brauchte eines, und das sofort! Wenn von Studmann daran dachte, daß die beiden nun wieder in dem Spielzimmer saßen, wenn er sich der unsinnigen Geldpakete des jungen Pagel erinnerte, und die Geiernase und der Raubvogelblick des Spielhalters kamen ihm sehr deutlich vor die Augen, so wußte er, daß er – Kindermädchen oder nicht Kindermädchen – sofort die Treppe hinaufzusteigen und dieser selbstmörderischen Spielerei ein Ende zu machen hatte.

Aber dieses Mädchen, dieses unselige Mädchen an seinem Arm –!

Es schien nicht ganz bei Besinnung – kein Wunder übrigens nach dem harten Schlag! Es zitterte, riß an seinem Arm, klapperte mit den Zähnen, flüsterte wieder und wieder etwas von »Schnee«. Von Schnee! – bei einer stinkenden, schwülen, feuchten Hitze, die zum Umkommen war! Es blieb klar, daß Studmann sofort nach oben zu gehen und den Freund zu befreien hatte, ebenso notwendig war es freilich, dieses Mädchen erst einmal irgendwo sicher hinzubringen – zu Verwandten. Er hätte gerne ihre Adresse erfahren, aber sie hörte nicht auf seine Fragen, antwortete nur einmal unwirsch, er solle sie in Frieden lassen, sie wolle nicht, ihre Wohnung ginge ihn einen Dreck an!

Unterdessen fuhr draußen ein Auto vor und hielt. Studmann war ungewiß, ob es das für ihn bestimmte war. Der Spanner ließ sich nicht sehen, das Mädchen flüsterte von Schnee, von Studmann stand unentschlossen.

Schließlich schlüpfte der Spanner doch aus dem Auto in den Hauseingang. »Entschuldigen Se man, daß Se haben warten müssen. Mir war das so, als ob die Luft sauer roch. Sie wissen – das Spielerdezernat von der Kripo! Die Jungens können keine Nacht ruhig schlafen, die hält bei ihre Bezüge der Kohldampf so munter!«

Er pfiff: »Und ich schlafe so schlecht, und ich träume so schwer …«

»Na ja, nun man rasch, Herr Graf, in die Schaukeltüte! Vergessen Sie mir auch nicht! Na schön. Wieda Geld, wovon die Olle nischt weiß. Na – und wohin nun, gnädige Frau –?«

Er wartete umsonst.

Von Studmann sah zweifelhaft auf das Mädchen, das neben ihm in der Wagenecke lehnte.

»In de Mulle, Walli?« brüllte der Spanner plötzlich. »Wo pennste denn jetzt?«

Sie murmelte irgend etwas von Zufriedenlassen.

Der Spanner zum Chauffeur: »Also hau ab, Mensch! Kurfürstendamm runter! Da wird sie schon munter werden …«

Der Wagen fuhr an, als Studmann sich ärgerte, daß er nicht ausgestiegen war.

Später, in der Erinnerung, war es ihm, als wären sie Stunden und Stunden gefahren. Straßen auf, Straßen ab, dunkle Straßen, lichterglänzende Straßen, leere Straßen, Straßen, gedrängt voller Menschen. Ab und zu klopfte das Mädchen gegen die Scheibe, stieg aus, ging in ein Lokal oder sprach mit einem Mann auf der Straße …

Langsamer kam sie zurück, sagte zu dem Chauffeur: »Weiter!« Und der Wagen fuhr wieder los. Das Mädchen schluchzte, seine Zähne klapperten lauter, dann flüsterte es abgerissen vor sich hin.

»Wie bitte?« fragte von Studmann.

Aber sie antwortete nicht. Sie achtete überhaupt nicht auf ihn, für sie war er nicht da. Längst hätte er aussteigen, wieder in den Spielklub fahren können. Wenn er doch sitzen blieb, so nicht um ihretwillen. Er war kein so unbedingter Verehrer der Frauenwelt wie der Rittmeister von Prackwitz, er wußte sehr wohl, neben wem er saß. Ja, er wußte jetzt auch, er hatte es erraten, auf was das Mädchen Jagd machte. Er hatte sich erinnert, daß von »Schnee« auch einmal im Hotel die Rede gewesen war. Ein Toilettenpächter des Hotel-Cafés hatte es plötzlich geführt. Natürlich war der Mann geflogen, so weit kam selbst das modernste Hotel den Wünschen seiner Gäste in dieser irren Zeit nicht entgegen – aber immerhin, von Studmann wußte Bescheid.

Nein, wenn er noch immer saß, wenn er noch immer fuhr, wenn er von Mal zu Mal gespannter wartete, ob die Nachfrage des Mädchens endlich Erfolg hätte – so darum, weil er um einen Entschluß kämpfte. Sobald das Mädchen Erfolg hätte, würde er sich entschließen, so oder so. Er würde es!

Die Bemerkung des Spanners über das Spielerdezernat der Kripo hatte von Studmann auf den Gedanken gebracht, vorsichtige Nachfragen bei dem Chauffeur dieser Taxe hatten ihn sicher gemacht – es würde das beste sein, dieses Spielerdezernat einmal anzurufen. Den Spielklub ausheben zu lassen. Was er früher über diese Dinge gehört hatte, was ihm der Chauffeur bestätigte, war immer wieder, daß die Spieler kaum etwas zu fürchten hatten. Ihre Namen wurden festgestellt, im schlimmsten Fall bekamen sie ein kleines Strafmandat – das war alles! Wer hart angefaßt wurde, das waren die Raubvögel, die Ausbeuter, die Spielhalter – und das war nur recht so!

Wieder und wieder sagte sich Studmann, daß diese Lösung die beste sei.

Was hat denn das für einen Sinn, daß ich noch einmal raufgehe?! überlegte er wieder und wieder. Ich verkrache mich ja bloß mit Prackwitz, und er spielt erst recht weiter! Nein, vom nächsten Kaffeehaus anrufen bei der Polizei! Ich weiß doch, das wäre Prackwitz die heilsamste Lehre, nichts haßt er mehr, als aufzufallen – und wenn da nun seine Personalien von der Polizei festgestellt werden, das würde ihm jede Lust am Spielen austreiben –! Er denkt immer noch, er sitzt im Kasino – und es sind doch lauter Gauner und Betrüger … Es wird ihn heilen!

Nichts, kein Wort war gegen diese Überlegungen zu sagen, sie waren richtig! Die Spielhalter wurden bestraft, der leichtsinnige Prackwitz aber mitsamt dem jungen Pagel, der ja jede Direktion verloren zu haben schien, sie wurden gewarnt. Und doch kämpfte von Studmann immer weiter um die Kraft zur Ausführung dieses Entschlusses. Es wehrte sich in ihm, das Richtige zu tun, weil es unkameradschaftlich war. Man brachte einen Freund nicht mit der Polizei in Berührung – selbst nicht in der besten Absicht. Er schob es hinaus, erst sollte einmal das Mädchen versorgt sein.

Er sieht ihr erwartungsvoll entgegen, aber sie hat wieder nichts. Sie flüstert lange mit dem Chauffeur.

»Det is zu weit, Frollein«, hört er den Mann sagen. »Ick hab Ablösung.«

Sie flüstert eindringlicher, schließlich gibt er nach.

»Aber, Frollein, wenn det wieder nischt is …«

Sie fahren, endlos, endlos. Verlassene, fast dunkle Straßen. Zerbrochene Laternen, aus Sparsamkeit brennt nur jede sechste oder achte.

Das Mädchen neben ihm flüstert automatisch vor sich hin: »O Gott – o Gott – o Gott –«, immer weiter, und nach jedem »o Gott« schlägt sie mit dem Kopf gegen die Wagenrückwand.

Von Studmann sieht sich in der Zelle eines Kaffeehauses den Hörer abnehmen: Bitte, geben Sie mir das Polizeipräsidium, Spielerdezernat …

Aber vielleicht haben sie nicht einmal eine Zelle, und er muß am Büfett telefonieren; die Leute werden denken, er ist ein gerupfter Spieler, der sich rächen will … Es sieht sehr unanständig aus, aber es ist das Anständige, es – ist – das – An – stän – di – ge!!! Studmann sagt es sich immer wieder. Früher hatte man es besser, da sah das Anständige auch anständig aus. Heute nachmittag war er auch anständig gewesen; er hätte diesen Bengel von einem Baron totschlagen können, und für seine Anständigkeit ist er betrunken die Treppe hinuntergerollt – verfluchtes Leben!

Wäre er doch erst mit dem geretteten Prackwitz auf dem Lande – in der Ruhe, im Frieden, in der lange währenden Geduld!

Endlich hält der Wagen, das Mädchen steigt aus, geht zögernd auf ein Haus zu, einmal stolpert sie und unterbricht ihren Weg mit Schelten. Von Studmann sieht im unsicheren, flackernden Licht nur dunkle Häuserfronten. Kein Lokal. Kein Mensch. Irgend etwas wie ein Laden, Drogerie scheinbar.

Das Mädchen klopft an ein ebenerdiges Fenster neben der Ladentür, wartet, klopft wieder.

»Wo sind wir?« fragt von Studmann den Chauffeur.

»Bei de Warschauer Brücke«, sagt der Mann unzufrieden. »Zahlen Sie die Taxe? Das kost ’ne Stange Gold!«

Studmann sagt ja.

Das Fenster im Erdgeschoß hat sich geöffnet, ein bleicher, dicker Kopf über einem weißen Nachthemd ist erschienen, er scheint zornig Verwünschungen zu flüstern. Das Mädchen fleht, bettelt, eine Art heulendes Klagen dringt bis zum Wagen.

»Der rückt ooch nischt raus«, sagt der Chauffeur. »Na ja, so mitten in de Nacht aus ’t Bette. Und Kittchen jibt es ooch dafür. So eene hält doch nich die Flappe. – Na also, hab ick’s doch jesagt!«

Der Mann hat wütend: »Nein! Nein! Nein!« geschrien und das Fenster zugeworfen. Das Mädchen steht noch einen Augenblick da; sein Weinen, trostlos und dabei doch böse, ist bis zum Wagen zu hören. Von Studmann, das Kindermädchen, hält sich bereit – er sieht das Mädchen schon fallen. Er steigt aus dem Wagen, will ihr zu Hilfe …

Aber da ist sie schon bei ihm, mit vielen, ganz schnellen, ganz kurzen Schritten.

»Was soll das?« ruft er …

Aber sie hat ihm schon den Spazierstock aus der Hand gerissen, läuft, ehe er ihn ihr wieder fortnehmen kann, zurück zum Fenster – alles wortlos, leise schluchzend. Dieses leise Schluchzen ist besonders gräßlich. Und nun hat sie mit einem Schlage die Fensterscheibe zertrümmert. Klirrend, laut scheppernd prasselt das Glas auf das Pflaster …

Und dazu schreit das Mädchen: »Schieber! Fettes Schwein!« schreit sie. »Gibst du den Schnee heraus?!«

»Rücken wir, Herr!« schlägt der Chauffeur vor. »Wenn das die Schupo nicht gehört hat! Sehen Se, jetzt werden die Fenster schon hell …«

Wirklich leuchten in den dunklen Hausfronten da und dort Fenster auf, eine schwache, hohe Stimme schreit: »Ruhe!«

Aber es ist schon Ruhe, denn die beiden dort am zerschlagenen Fenster flüstern nur miteinander. Jetzt schimpft der bleichgesichtige Mann nicht mehr, oder nur leise.

»Jaha!« sagt der Chauffeur gedehnt. »Wer sich mit solchen erst mal einläßt, muß tun, was se wollen! Der is es doch ejal, ob die Schupo kommt und dem seinen Laden zumacht, die Hauptsache, sie kann weiter koksen. Fahren wir, Herr –?«

Aber wieder einmal kann Studmann sich nicht zu so etwas entschließen. Wenn das Mädchen auch unverantwortlich, gemein gehandelt hat, er kann darum doch nicht losfahren und sie hier auf der Straße stehenlassen, wo jeden Augenblick um die nächste Ecke Polizei biegen kann. Und dann will er ja auch seinen Urteilsspruch: Bekommt sie ihr Koks, muß er in das nächste, noch offene Kaffeehaus. Wieder sieht er sich, den Hörer in der Hand: Bitte das Spielerdezernat der Kriminalpolizei …

Es hilft eben alles nichts. Man muß Prackwitz retten, man hat seine Verpflichtungen …

Nun kommt das Mädchen zurück, und von Studmann braucht gar nicht erst zu fragen, ob ihr Weg erfolgreich war. Schon aus der Art, wie sie ihn plötzlich ansieht, wie er wieder für sie da ist, wie sie ihn anspricht, ist unschwer zu erkennen: sie hat Koks bekommen und auch schon geschnupft.

»Na?!« fragt sie herausfordernd und hält ihm seinen Stock hin. »Wer sind Sie denn? – Ach so, Sie sind der Freund von dem jungen Mann, der mich geschlagen hat. Nette Freunde haben Sie, muß ich sagen, die eine Dame in die Fresse hauen!«

»Aber nein«, sagt von Studmann höflich. »Nicht der junge Mensch, der übrigens nicht mein Freund ist, hat Sie so geschlagen – das war ein anderer, einer von den beiden, die immer beim Spielhalter standen.«

»Lockenwilli meinen Sie? Ach, erzählen Sie mir bloß keinen Stuß, ich bin gestern schon konfirmiert! Ihr Freund war das, der Sie mitgebracht hat – na, dem Jungen besorge ich es noch!«

»Wollen wir nicht fahren?« schlägt von Studmann vor.

Er kann es nicht leugnen, plötzlich ist er todmüde, müde dieses Frauenzimmers und seines frechen, pöbelnden Tones, müde des planlosen Umherirrens in dieser Riesenstadt, müde all der Unordnung, des Schmutzes, der Streiterei.

»Natürlich fahren wir«, sagt sie sofort. »Denken Sie, ich tipple bis in den Westen?! Chauffeur, zum Wittenbergplatz!«

Aber jetzt revoltiert der Chauffeur, und da er es nicht nötig hat, als Kavalier zu reden, und da der Herr sich bereit erklärt hat, die Fuhre zu bezahlen, nimmt er kein Blatt vor den Mund. Er sagt ihr gründlich, was er von so ’ner ollen Kokse denkt, die Fensterscheiben einschlägt; er verkündet, daß er »nicht einen Schritt weiterfahren wird, nicht ums Verrecken!«, er erklärt, er hätte sie längst rausgesetzt, wenn nicht der Herr wäre …

Auf die Dame macht dies Geschimpfe wenig Eindruck. Schimpfen ist sie gewohnt, Streiten ist gewissermaßen ihr Lebenselement. Es macht sie frisch, und das eben genommene Gift beflügelt dabei ihre Phantasie, so daß sie dem brummigen, langsamen Chauffeur weit überlegen ist. Sie wird ihm die Fahrerpapiere fortnehmen lassen, sie wird ihn seinem Fuhrherrn melden, sie hat einen Freund, sie merkt sich seine Wagennummer – er soll sich bloß nicht wundern, wenn seine Reifen morgen früh zerschnitten sind –!

Endloses, albernes Gewäsch, wüste Strohdrescherei, die Stimmen erheben sich lauter. Todmüde steht von Studmann dabei – er möchte eingreifen, ein Ende machen, er protestiert, aber er hat keinen Schwung, er kommt nicht auf gegen die, er ist zu müde. Wann hat dies ein Ende? Schon werden wieder Fenster hell. Schon rufen wiederum Stimmen um Ruhe …

»Aber ich bitte doch sehr …«, sagt von Studmann schwach und wird wiederum nicht gehört.

Plötzlich ist der Lärm vorüber, der Streit zu Ende, und das Geschwätz ist nicht einmal sinnlos gewesen: die Parteien haben sich gütlich geeinigt. Zwar wird nicht bis zum Wittenbergplatz gefahren, aber es wird eben doch noch »ein Schritt« gefahren, nämlich bis zum Alexanderplatz.

»Da hab ich nämlich meine Garage dichte bei«, erklärt der Chauffeur und verhindert durch diese Erklärung, daß von Studmann weiter über dieses Ziel »Alexanderplatz« nachdenkt. Denn sonst hätte es ihm ja unbedingt einfallen müssen, daß am Alexanderplatz eben jenes Polizeipräsidium steht, dessen Spielerdezernat er jetzt, da das Mädchen seinen Willen hat, sofort anrufen muß.

Aber von Studmann denkt an gar nichts mehr, er ist froh, daß er wieder in den Wagen steigen, daß er sich endlich wieder bequem in die gepolsterte Wagenecke setzen kann. Er ist wirklich unendlich müde. Es wäre schön, wenn er jetzt ein Nickerchen machen könnte. Nirgend schläft es sich so gut wie in einem sacht rüttelnden Auto. Aber er fürchtet, die Strecke bis zum Alexanderplatz lohnt das Einschlafen nicht, nachher ist man dann um so müder. So brennt er sich lieber eine Zigarette an.

»Sie dürfen einer Dame ruhig eine Zigarette anbieten!« sagt das Mädchen böse.

»Bitte sehr!« sagt von Studmann und hält ihr sein Etui hin.

»Danke!« sagt sie scharf. »Denken Sie, ich brauch Ihre popligen Zigaretten?! Ich hab selbst welche. Höflich sollen Sie sein zu einer Dame –!«

Sie kramt aus ihrer Tasche ein Etui, kommandiert »Feuer!«, raucht und sagt etwas sprunghaft: »Was glauben Sie, wie ich es Ihrem Freund besorgen werde!«

»Er ist nicht mein Freund!« sagt von Studmann mechanisch.

»Der soll noch an mich denken, der Junge! Kiebig wird das Aas, haut ’ner Dame in die Fresse!« Und wieder ganz unvermittelt: »Wieso hat er denn heute abend soviel Geld? Sonst hat er doch nie was gehabt, der kleine Schisser?!«

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagt von Studmann müde.

»Na!« sagt sie mit freudigem Nachdruck. »Wenn die im Klub ihm sein Geld nicht abnehmen, ich sorge dafür, daß er’s los wird. Darauf können Sie sich verlassen, von mir aus behält er keinen Pfennig!«

»Liebes Fräulein!« bittet von Studmann ziemlich verzweifelt. »Würden Sie mich nicht in Ruhe meine Zigarette rauchen lassen? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, der Herr ist nicht mein Freund.«

»Jawohl, Sie und Ihre Freunde –!« sagt sie zornig. »’ne Dame schlagen! Aber ich laß ihn hochgehen – Ihren Freund!«

Von Studmann schweigt.

Noch zorniger: »Hören Sie nicht –? Ich laß Ihren Freund hochgehen!«

Stillschweigen.

Verächtlich: »Wissen Sie denn überhaupt, was das heißt: hochgehen lassen?! Verpfeifen tu ich Ihren Freund!«

Durch die offene Glasscheibe klingt die Stimme des Chauffeurs: »Hauen Se der doch eine in die Fresse, Herr! Immer in die Fresse – was anderes gehört so einer nicht. Ihr Freund hat ganz recht gehabt, Herr, der ist richtig, der weiß Bescheid! Immer druff, bis die olle Schandschnauze mal stehenbleibt. Wo Sie sich all die Spesen machen mit das Auto, und dann noch unjebildete Redensarten von wejen Verpfeifen …«

Wieder erhebt sich der Kampf zwischen den beiden, abwechselnd wird die Glasscheibe zum Führersitz aufgerissen und wieder zugestoßen, die enge Taxe hallt von dem Gekreisch und Geschrei wider.

Er sollte man lieber ein bißchen auf die Steuerung aufpassen, denkt Studmann. Na, es ist auch egal, wenn wir irgendwo anfahren, dann ist wenigstens dieser Lärm vorbei.

Aber sie fahren gegen nichts, sie halten ganz normal auf dem Alexanderplatz. Das Mädchen klettert, immer weiter schimpfend, an seine Beine stoßend, aus dem Auto. Dann schreit sie noch einmal zurück in den Wagen: »Und so was will nun Kavalier sein!« Und rennt quer über den Platz auf ein großes, nur in wenigen Fenstern erleuchtetes Gebäude zu.

»Da geht se hin!« sagt der Chauffeur, der ihr nachgeschaut hat. »Aber die piept noch ’ne ganze Weile, wenn der Posten se rinläßt. Die macht det wahr, wat se jesacht hat, und hat selber Dreck am Stecken, noch und noch. Wenn die se nu fragen, ob se kokst, gleich is se drin! Vielleicht behalten se se gleich da, na, mich soll’s freuen!«

»Was ist denn das?« fragt von Studmann nachdenklich und sieht das große, fast dunkle Gebäude an, unter dessen Torweg das Mädchen eben verschwunden ist.

»Na, Herr«, wundert sich der Chauffeur. »Sie sind wohl ooch nich von hier, det is doch das Präsidium! Das Polizeipräsidium, wo die Ihren Freund verpfeifen will!«

»Was will sie da?« fragt von Studmann und wird plötzlich wacher.

»Na ja doch – Ihren Freund verpfeifen!«

»Aber warum denn –?«

»Ick jloobe, Sie haben jeschlafen, Herr, bei dem Krach! Weil der ihr eine geklebt hat, das habe doch sogar ich kapiert!«

»Nein«, sagt Studmann, plötzlich sehr erregt. »Wegen was denn? Wegen einer Ohrfeige läuft man doch nicht auf das Polizeipräsidium!«

»Weiß ich das?« fragt der Chauffeur vorwurfsvoll. »Was Ihr Freund ausgefressen hat?! Aber Sie haben ja auch so komisch gefragt, wegen Spielklub und so – da wird sie wohl Lampen machen wollen bei der Krimschen!«

»Halt!« ruft von Studmann hellwach und springt aus dem Wagen und will ihr nach. Denn ebenso entschlossen, wie er vor einer Weile war, den Spielklub anzuzeigen, ebenso überzeugt ist er jetzt, daß die Anzeige dieses bösartigen Mädchens verhindert werden muß.

»Halt!« schreit aber auch der Taxichauffeur, der sein Fahrgeld, und zwar viel Fahrgeld, weglaufen sieht. Und nun kommt für den unruhigen, ungeduldigen, fiebrigen Studmann eine endlose Verhandlung, eine nicht aufhörende Rechnerei, bis er erfährt, was er eigentlich zu zahlen hat. Taxe mal soundso viel, mit dem Bleistift ausgerechnet, und dreimal verschieden ausgerechnet, und dann noch die Zuschläge …

Schließlich, endlich darf von Studmann über den Platz laufen, und nun muß er erst wieder mit dem Posten verhandeln, der gar nicht kapiert, was von Studmann eigentlich will, ob er eine Dame sucht oder das Spielerdezernat, ob er eine Anzeige machen oder verhindern will – –

Ach, der ruhige, der besonnene – ach, der überlegte Oberleutnant a. D. und Empfangschef a. D. von Studmann! Er hat völlig den Kopf verloren bei dem Gedanken, daß jemand seinen Freund und den jungen Pagel bei der Polizei wegen verbotenen Glücksspiels anzeigen will – und er hat doch selber noch vor einer halben Stunde den gleichen Gedanken gehabt –!

Schließlich aber bekommt er von dem Posten Erlaubnis zum Eintritt in das Präsidium, und es wird ihm auch beschrieben, wie er zu gehen hat, um zur »Nachtbereitschaft« zu kommen, denn die scheint sein Ziel zu sein, nicht das Spielerdezernat, wie er bisher glaubte. Doch er hat natürlich nicht genau auf die Beschreibung gehört und verläuft sich in dem ungeheuren, nur spärlich beleuchteten Gebäude. Er läuft über Gänge und Treppen, hohl läuft der Schall seiner Füße mit ihm. Er klopft an Türen, hinter denen keine Antwort erklingt, und an andere, von denen er ungnädig oder brummig oder verschlafen weitergeschickt wird. Er läuft und er läuft, und in seiner Müdigkeit ist es ihm, als liefe er in einem Traum, der nie enden wird. Bis er dann endlich doch vor der richtigen Tür steht und drinnen die scharfe Stimme des bösen Mädchens hört.

Und in demselben Augenblick fällt ihm ein, wie unsinnig es ist, daß er hier steht; daß er ja kein Wort zur Entkräftung der Anzeige sagen kann, nein, daß er sie noch bestätigen muß. Denn es ist ja ein Spielklub, und es ist ja verbotenes Glücksspiel. Daß er vielmehr loszulaufen hat, so schnell er nur kann, in den Spielklub und die beiden zu warnen und herauszuholen hat, ehe die Polizei kommt.

Wieder macht er kehrt, wieder irrt er durch das Präsidium und findet schließlich hinaus und schleicht schuldbewußt an dem Posten vorüber. Er weiß, daß er eilen muß, um der Polizei zuvorzukommen, und glücklicherweise fällt ihm ein, daß er hier direkt an der Stadtbahn ist und daß er mit der Stadtbahn schneller nach dem Westen kommt als mit jedem Auto. Und er läuft hinüber zum Stadtbahnhof und irrt dort herum an den geschlossenen Schaltern, bis ihm einfällt, daß in dieser Nachtstunde ja kein Zug mehr fährt. Daß er also doch ein Auto nehmen muß. Und er findet auch schließlich ein Auto, und aufatmend läßt er sich in die Polster sinken.

Aber gleich fährt er wieder hoch. Er kann sich der Ruhe nicht hingeben, er muß sitzen und lauschen –: hat nicht eben der Wagen des Überfallkommandos getrillert –?

Er sitzt, und er lauscht, und plötzlich kommt ihm das Aberwitzige seines Handelns heute den ganzen Abend über so recht zum Bewußtsein, und er sitzt starr da und denkt erschrocken: Bin ich denn das noch, Oberleutnant von Studmann, der im Kriege nie den Kopf verlor?

Und es ist ihm, als sei er sich völlig entglitten, als sei er nicht mehr er selbst, sondern ein völlig anderer, ein hassenswerter, zappliger, sinnloser, widersinniger anderer. Und er schlägt mit der Faust gegen seine Brust und sagt: »Verfluchte Zeit! Verdammte Zeit, die den Menschen sich selber stiehlt! Aber ich will raus aus alldem – ich gehe aufs Land, und ich werde wieder ein Mensch, so wahr ich von Studmann bin!«

Und dann sitzt er wieder und horcht, ob das Überfallkommando trillert, und denkt: Ich muß zuerst ankommen – ich kann sie doch nicht reinfallen lassen!

Wolf unter Wölfen
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