Wir haben einen langen Weg gemacht, wir müssen weiter, wir haben es eilig!
Geht man den Kurfürstendamm von der Gedächtniskirche nach Halensee zu, so führt auf der linken Seite eine kleine Straße ab, die Meinekestraße – in sie müssen wir, dort treffen wir Bekannte. Es ist fast die Ecke am Kurfürstendamm, nur ein oder zwei Häuser in die Meineke hinein, da liegt ein kleiner Laden, das Schild trägt den Namen »Eva von Prackwitz«.
Es ist ein kleiner Modesalon, die Dame kann sich dort ein Wiener Strickkleid kaufen oder eine seidene Bluse anfertigen lassen, und für den Herrn gibt es wunderbare Handschuhe oder ein Paar ausgesuchter Manschettenknöpfe oder ein Oberhemd aus purer Seide, nach Maß, vierzig oder fünfzig Mark. Auf Billigkeit wird hier kein Wert gelegt. Man kann nicht darauf rechnen, etwas Bestimmtes in diesem Laden zu bekommen, man kann nicht hineingehen und Kragen, Weite 40, verlangen; die jungen Damen mit den schön gelackten Nägeln hinter den Tischen würden über einen solchen Käufer nur eine mokante Miene ziehen. Hier gibt es nur Sachen und Sächelchen, die die Laune reizen, ein plötzlicher Einfall – eben hat diese Dame noch nicht gewußt, daß sie den Jumper aus Wolle brauchte, aber nun weiß sie, daß ihr Leben kummervoll und öde ohne ihn verlaufen würde.
In diesem Laden herrscht Frau von Prackwitz. Über der Tür steht der Name Prackwitz, aber richtiger wäre es, es stünde Teschow darüber, denn es ist die echte Tochter des alten Teschow, die hier waltet. Ihre Liebenswürdigkeit, ihr Lächeln spart sie für die Kunden auf, ihre Angestellten zittern vor ihr, sie hat einen kalten, scharfen Ton. Sie ist knickrig, sie schindet Überstunden, sie hat das Auge, das alles sieht.
Jawohl, sie hat sich mit ihrem Vater überworfen. Es ist ausgemacht, daß sie nicht mehr als das Pflichtteil bekommen wird, aber sie ist eine Teschow. Sie kann geizig sein, wenn sie ein Ziel hat.
Sie hat ein Ziel, sie muß Geld verdienen, viel Geld, sie muß für zwei Unmündige sorgen. Wenn sie einmal stirbt, muß genug dasein für die! Sie haßt jetzt Jugend und Unbekümmertheit und Gesundheit; es macht sie krank, wenn sie ihre jungen Verkäuferinnen Blicke mit Herren wechseln sieht. Sie denkt nur noch an Mann und Tochter. Sie denkt nur noch, daß diese zwei, daß sie alle drei vom Leben betrogen worden sind. So gönnt sie den andern nichts. Es gilt nur noch zu raffen, und sie rafft.
Manchmal, in den Abendstunden, steht ein schmaler, weißhaariger Herr im Laden, er hat dunkle Augen – er sieht vorzüglich aus! Er spricht kaum etwas, aber er hat ein verbindliches, liebenswürdiges, etwas wesenloses Lächeln – diesen Damen aus dem neuen Westen gefällt er sehr. Ein Kavalier alter Schule – ein Grandseigneur –, da sieht man, was blaues Blut ist!
Der alte Herr lächelt, er geht mit der Dame bis fast an die Ladentür, er bestätigt, daß es recht, recht warm ist. Dann macht er eine kleine Verbeugung, er sieht zu, wie die Dame sich die Ladentür öffnet, er wendet sich zurück, er geht wieder zu seiner Frau.
Sein Hirn schläft, die Eiszeit ist eingebrochen; er war einmal der Rittmeister und Rittergutspächter Joachim von Prackwitz – jetzt ist er nur noch ein sehr, sehr alter Mann. Er marschiert nicht mehr, weder allein noch im Glied. Er dämmert.
Aber ein ganz kleiner Rest von ehedem ist ihm geblieben – er öffnet den Damen nicht die Ladentür, er macht sie nicht hinter ihnen zu. Wäre es daheim in seiner Wohnung, in der Bleibtreustraße, er wäre den Damen behilflich, er wäre der Gastgeber, der Herr, der Kavalier. Aber er ist und er wird kein Geschäftsmann, der die Kundschaft »bedient«. Das will er nun doch nicht. Dieser kleine Rest Eigenwille ist ihm geblieben. Es ist nicht viel, aber es ist etwas!
Seiner Tochter verblieb nicht einmal dies. Langsam, in Wochen und Monaten, hat sie sich wieder an Menschen gewöhnt. Sie kann es nun, ohne zu weinen, ertragen, daß ein Mensch freundlich zu ihr spricht. Sie sitzt den ganzen lieben langen Tag in der Hinterstube des Ladens, wo die Mädchen sitzen, die die eiligen Änderungen machen, die Hemdennäherinnen, die Zuschneiderin. Die Maschinen surren, die Mädchen schwatzen leise miteinander, die »gnädige Frau« ist vorne im Laden.
Violet von Prackwitz sitzt still dabei. Sie sieht den Mädchen zu, sie sieht aus dem Fenster oder auf die Blumen, die in einer kleinen Vase vor ihr stehen. Sie lächelt, manchmal weint sie auch ein wenig, aber sie sagt nie ein Wort. Es wurde einmal ein Fluch über sie ausgesprochen, ihr ganzes Leben sollte sie ein Bild vor sich haben, sie hat den toten Mann gesehen, und dann kam eine Zeit, von der niemand etwas weiß.
Weiß sie etwas davon? Weiß sie noch etwas von dem toten Mann, seinem Fluch –? Die Ärzte sagen nein, aber warum weint sie dann manchmal? Sie weint lautlos, daß die Mädchen um sie es zuerst oft gar nicht merken. Aber dann sieht es eine, und sie ruft: »Unser gnädiges Fräulein weint!« Und nun schweigen sie alle und sehen die Weinende an. Sie haben schon früher alles versucht, sie haben ihr Blumen gegeben und Konfekt geschenkt, sie haben Witze gemacht, eine hat gegackert wie ein Huhn, die andere hat mit der Schneiderpuppe getanzt – aber nichts half.
Nun kommt die gnädige Frau herein. Sie ist gerufen worden, sie hat ihre beste Kundin im Laden stehengelassen, sie kommt eilig … Sie ist nicht mehr hart, sie hat auch Zeit, sie nimmt ihr großes Kind in den Arm, sie legt ihr die Hand über die Augen: »Nicht weinen, Violet, du sollst fröhlich sein.«
Allmählich beruhigt sich die Kranke in der mütterlichen Wärme, sie lächelt, wieder sieht sie den Mädchen zu. Frau von Prackwitz geht zurück in den Laden …
Die Mädchen in der Schneiderstube, vorn im Geschäft sind Berlinerinnen. Sie haben ein rasches Mundwerk, sie reden oft hart von der harten Frau, die sie quält … Aber immer ist dann eine, die sagt: »Aber, Gott, was hat die Frau auch zu tragen! – Der Mann und die Tochter! Wir wären sicher auch nicht anders …«
Nein, das wären wir nicht. Violet ist jetzt sechzehn, sie hat ein langes Leben vor sich …
»Ja«, sagen die Ärzte, »man kann es ja nicht wissen. Hoffen und warten – es ist nicht unmöglich, gnädige Frau.«
Sie hofft und sie harrt. Und sie baut vor, sie spart. Alles, was an Weichheit und Güte in ihr sitzt, bekommt allein die Tochter zu spüren. Den Mann sieht sie kaum noch, er ist da, aber er ist doch nicht da. Denkt sie manchmal an einen gewissen Herrn von Studmann? – Wie fern – wie töricht!
Es ist schon einmal geschehen, daß sie einem Herrn Pagel auf der Straße begegnete. Sie sah ihm kalt ins Auge, sie grüßte ihn nicht, sie sah durch ihn hindurch. Soweit war sie nun doch die Tochter ihres Vaters, um diesen Burschen endlich zu durchschauen. Er hatte sich Vollmachten von ihr erschlichen, er hatte diese Vollmachten mißbraucht, große Summen hatte er in die eigene Tasche fließen lassen. Es gab Abrechnungen ihres Vaters über den Wert der Dinge, die dieser junge Mann verkauft hatte, es gab Aufstellungen über die Beträge, die er an sie abgeführt hatte – enorme Differenzen! Die ihrem Erbteil belastet worden waren!
Jawohl, sie erinnerte sich auch daran, sie erinnerte sich gut: Dieser Pagel besaß noch einen Schuldschein von ihr, lautend auf zweitausend Mark. Er sollte ihn behalten, sie würde ihn nie einlösen – ein kleiner Denkzettel für all die Schlechtigkeit, die er ihr angetan!
Er war so jung erschienen, so liebenswürdig, so anständig – aller Jugend, aller Liebenswürdigkeit, jedem Anstand mußte man mißtrauen. Alle betrogen einander – sie würde heute abend wieder einmal die Kasse revidieren – Fräulein Degelow trug nur noch neue Seidenstrümpfe. Sie konnte einen Freund haben, sie konnte aber auch in die Kasse greifen – hab acht!