22
Ich hatte fast vergessen, was es hieß, zu schlafen – einfach nur zu schlafen; den Kopf auf ein Kissen zu betten, die müden Augen zu schließen und mich in wohltuendes Dunkel sinken zu lassen. Leonie hatte mich zu einem Zimmer in der Nähe ihrer Gemächer geführt; sie wußte, ohne daß ich es ihr hatte sagen müssen, daß ich nicht in meine alten Räume zurückwollte, nicht in dem Bett schlafen konnte, in dem Cesco gestorben war.
Mein Erwachen war so sanft, wie mein Schlummer gewesen war. Der schmetternde Gesang einer Drossel weckte mich. Ich öffnete die Augen in einen lichtdurchfluteten, strahlenden Sommermorgen. Für einen langen, glücklichen Augenblick wußte ich weder wer – noch wo ich war. Ich streckte die Arme aus, gähnte und räkelte mich wie eine zufriedene Katze. Dann, langsam, langsam, tropfte die Erinnerung zurück in meinen Geist, und ich barg das Gesicht in den Kissen.
Ich war ich selbst und doch jemand anders, meine Erinnerungen fühlten sich falsch an, mein Körper war mir fremd, und ich wußte nicht, was geschehen war, obwohl ein Teil von mir es hätte wissen müssen. Meine Hände fuhren über meinen Körper und ertasteten die ungewohnte Gestalt. Mir wurde schwindelnd bewußt, daß ich nun kein T'svera mehr war, kein Neutrum, daß ich nie wieder würde vorgeben müssen, ein Mann zu sein – und daß Julian unrecht gehabt hatte, als er mich als den Thronerben bezeichnete.
In Gedanken versunken zog ich Ellorans – meine – viel zu weiten Hosen und eine leichte Tunika über meine mageren Glieder und begann, die Fragen in meinem Kopf zu sortieren. Ich hatte geglaubt und gehofft, daß meine Traumschwester, meine andere Hälfte, im Besitz aller Antworten sein mußte, aber das stellte sich nun als Wunschtraum heraus. Sie war in der ganzen Zeit ein Teil von mir selbst gewesen, immer bei mir, auch wenn ich das nicht gewußt hatte. Sie war ich, getrennt von mir und doch mit mir vereint, und ich mußte jetzt versuchen, unsere beiden Hälften zu einem Ganzen zu vereinigen. Ich sank in die gepolsterte Fensternische und starrte blicklos hinaus auf den Rosengarten.
Die Tür öffnete sich, und ein Dienstmädchen, das mich verschreckt anblickte, stellte ein reichhaltiges Frühstück auf den Tisch. Ich dankte ihr, und sie ging eifrig knicksend hinaus. Dabei rannte sie beinahe meinen Großvater um, der auf seinen Stock gestützt in der Tür stand. Er starrte mich wie eine Erscheinung an, und ich erwiderte seinen Blick mit derselben Empfindung. Zu deutlich war mir noch das Schreckensbild seines Todes. Ich wandte voller Grauen meinen Blick auf meine Hände.
»Darf ich dich stören?« fragte er. Ich nickte, ohne aufzublicken. Sein stockender, unregelmäßiger Schritt kam auf mich zu, und er zog sich einen Stuhl in meine Nähe, in dem er sich schwerfällig niederließ. Er räusperte sich unbehaglich und schwieg. Ich hob meine Augen und sah ihn unsicher an.
»Großvater«, begann ich und stockte. Immer noch sah er mit diesem ungläubigen, fast ängstlichen Ausdruck auf mich. Ich beugte mich vor und griff nach seiner Hand. Er zuckte zurück, dann aber ließ er die Berührung zu, und ich drückte seine weiche Hand an meine Wange.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich. »Ich habe dir so viel Kummer bereitet, Großvater. Ich weiß nicht, ob du mir das je verzeihen kannst.«
Er antwortete nicht, aber seine Augen glänzten feucht. »Du bist mein – meine Enkelin, nicht wahr?« begann er nach einer Weile heiser. »Du bist nicht irgendeine Schreckensgestalt, die Julians bösem Kopf entsprungen ist, du bist aus Fleisch und Blut?« Seine Stimme war drängend und der Verzweiflung nah. Ich konnte ihm nicht antworten, wußte ich doch selbst kaum, wer ich eigentlich war; nur, daß sich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben alles richtig anfühlte, alles so zu sein schien, wie es sein sollte. Ich hielt seine Hand fest und sah nun endlich alle Anspannung aus seinem Gesicht weichen, als hätte sich meine Gewißheit auf ihn übertragen. Er erhob sich und nahm mich in den Arm. Veelora trat ein und umschlang uns beide mit ihren langen Armen.
»Ach, Kind, jetzt wird alles gut«, seufzte sie. »Liebes, ich bin dir einige Erklärungen schuldig, fürchte ich.«
»Das seid ihr, alle beide«, sagte ich ärgerlich. In Ermangelung eines Taschentuches zog ich meine Nase hoch und erntete einen tadelnden Blick und dann ein Auflachen meiner Großmutter. »Darf ich etwas essen, während wir miteinander reden?« bat ich. »Ich habe das Gefühl, seit Jahren nichts mehr zwischen die Zähne bekommen zu haben!« Veelora reichte mir das Tablett, und ich setzte mich damit zurück in die Fensternische.
Karas sah mich voller Kummer an. »Sie ist so schrecklich dünn«, klagte er.
Veelora lachte trocken auf. »Wenn es nach dir ginge, Liebster, würdest du das arme Mädchen genauso rund füttern, wie du das mit – ihm gemacht hast, gib es zu. Keine Sorge, wir päppeln sie dir schon auf, mein Herz.«
Er lachte, und beide sahen mich mit unverhohlener Zärtlichkeit an. Ich trank die heiße Schokolade und betrachtete meine Großeltern. Wie hatte ich Julian nur glauben können, daß diese beiden darauf aus gewesen sein sollten, mich zu töten?
Veelora unterbrach meine Gedanken, als hätte sie sie gelesen. »Julian hat von Anfang an hinter all dem gesteckt, was passiert ist«, erklärte sie verhalten. Ich hörte Trauer und kalten Zorn in ihrer beherrschten Stimme. »Aber ich will vorne beginnen, Kind. Du hättest nie als Junge aufgezogen werden dürfen, das war unser größter Fehler. Aber damals erschien es uns als das Beste. Du weißt, kaum ein Jahr vor deiner Geburt ist unsere Tochter ermordet worden, und wir wußten nicht, durch wen, nur, daß ein Magier hinter dem Anschlag gesteckt haben mußte. Karas war immer noch nicht wiederhergestellt, als du zur Welt kamst, und nicht einmal Leonie konnte uns sagen, ob er jemals wieder vollständig genesen würde. Du wurdest geboren und warst ein Mädchen mit den nötigen magischen Fähigkeiten, wie es Leonie vorhergesagt hatte. Wir wollten dich schützen, deshalb diese Lüge, du seist ein Junge.« Sie verstummte, in Erinnerungen versunken.
Ich schob das Tablett beiseite und runzelte die Stirn. »Aber ich kann doch nicht die Thronerbin sein«, sagte ich verwirrt. »Ist nicht in meiner Generation ein männlicher Erbe an der Reihe? Julian war jedenfalls dieser Meinung.«
Karas öffnete seine Augen und blickte mich aufmerksam an. »In diesem Punkt hat sich Julian geirrt. Nicht nur in diesem Punkt, aber hier am meisten. Wahrscheinlich wärest du schon lange tot, wenn er die Wahrheit geahnt hätte.« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Nein, Elloran. Diese Generation der Krone – die, die mich ablösen soll – ist die weibliche Generation. Siehst du, das hat Julian falsch verstanden. Nicht die Generationen, die uns beide trennen, Großvater und Enkelin, zählen. Was zählt, ist die Nachfolge. Und in der ist eine Frau die nächste Regentin. Du, meine Liebe. Du ...« Seine Stimme versagte, und er wischte sich fahrig über das Gesicht.
Veelora ergriff wieder das Wort. »So gut wie niemand wußte davon, daß du die Erbin des Thrones bist, Liebes. Noch nicht einmal deine Mutter. Ich erzählte ihr von einem alten Familienfluch, nach dem einer meiner Nachkommen den Magiern ein weibliches Kind schuldete, und beschwor sie, dich als Jungen aufzuziehen, bis du aus dem Alter heraus seist, wo du den Zauberern noch nützlich sein könntest. Außerdem schärfte ich ihr ein, dich von allen Magiern fernzuhalten. Wir wußten doch nicht, wer hinter den Anschlägen auf die Krone steckte!« Sie lachte bitter auf. »Woran ich natürlich im Leben nicht gedacht hatte, war, sie vor ihrem eigenen Bruder zu warnen. Ich ließ mir von einer Vertrauensperson in Salvok regelmäßig Bericht über dein Aufwachsen erstatten. Ich wagte es nicht, in eine zu enge Berührung mit dir zu kommen, um dich nicht dadurch in Gefahr zu bringen. Aber mein Gefolgsmann hatte ständig ein Auge auf dich. Er wußte nicht, daß er mich von Julians Erscheinen hätte unterrichten müssen. Da der Zauberer mit einem Auftrag der Obersten Maga in Salvok aufgetaucht war, ging er davon aus, daß ich Bescheid wußte und es billigte.«
Ich sah sie aus aufgerissenen Augen atemlos an. »Wer war dein Gefolgsmann, Großmutter? Ich dachte, Jemaina ...«
Veelora schüttelte den Kopf. »Jemaina – das ist eine andere Geschichte. Obwohl ich sehr froh bin, daß sie ebenfalls dort war, um auf dich aufzupassen. Nein, Ell. Errätst du es nicht?«
Ich starrte sie an und ging im Geiste zurück in meine Kindheit. Wer hatte über mich gewacht? Wer hatte mich beobachtet und Berichte über mich an Veelora und Karas geschickt? Die Erkenntnis traf mich wie eine Ohrfeige, und ich schrie auf. Beide sahen mich besorgt an. Ich verschloß mich gegen ihren Trost, und bat sie, mich allein zu lassen.
Ich starrte hinaus in den Garten und sah Nikal sterben. Große Göttin, hätte ich das nicht irgendwie verhindern können? Wenn ich ihn hierher gebracht hätte, vielleicht wäre Leonie ja in der Lage gewesen, ihn zu heilen. Ich hatte ein schlechtes Gefühl dabei gehabt, ihn diesen seltsamen Fremden zu überlassen – warum hatte ich nicht besser auf mich gehört? Aber hatte ich überhaupt jemals auf mich gehört, wenn es um meine verdammte Bequemlichkeit ging? Ich war immer den leichteren Weg gegangen, allen Warnungen meiner anderen Hälfte zum Trotz.
Ein Klopfen riß mich aus meinem Selbstmitleid. Beim Anblick des Eintretenden sprang ich voller Angst auf die Füße und griff nach meiner leeren Messerscheide. Stumm und drohend stand der furchtbare Botschafter der Allianz vor mir, sein ausdrucksloses Gesicht regungslos wie immer. Hinter ihm trat das andere Monstrum ins Zimmer, das Tier in Menschengestalt.
»Dürfen wir mit dir sprechen?« fragte der Haarlose nüchtern, als stünde ich nicht vor Entsetzen und Abscheu bebend vor ihm.
»Was wollt ihr von mir?« fragte ich. »Geht, befreit mich von eurem Anblick, ihr Mörder!«
Er neigte den Kopf und wandte sich zur Tür. Aber Tom hielt ihn am Arm fest und sagte bestimmt: »Galen. Es muß sein!« Er blickte mich an und holte tief Luft. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er sanft. »Es tut mir leid, daß du damals alles mitansehen mußtest, ohne daß du die Gelegenheit hattest, zu begreifen, was wirklich geschieht. Ich würde es dir gerne erklären, Kleiner, aber ich darf es nicht, ehe ich nicht noch etwas von dir erfahren habe.« Er wandte sich mit einer befehlenden Geste an seinen Begleiter, der mich aus seinen rätselhaften, farblosen Augen unentwegt angestarrt hatte. Galen machte einen blitzschnellen, geschmeidigen Schritt auf mich zu und legte seine Hände an meine Schläfen. Ich schrie in panischer Abwehr auf, aber diese kam zu langsam.
Seine eisigen Finger berührten mich, und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Wir standen in Erstarrung, mein Blick tauchte tief in die Kälte seiner in allen Farben sprühenden Augen. Dann spürte ich nichts mehr. Eine Stimme sprach in meinem Inneren, beruhigte mich, zwang mich mit sanfter Unnachgiebigkeit, meinen Geist mit ihr zu teilen. Ich öffnete mich willenlos der Wesenheit, die mit sachten Gedankenfingern meine Erinnerungen zu sondieren begann. Es war ein seltsames, nicht einmal unangenehmes Gefühl, und ich ergab mich ohne jede weitere Gegenwehr. Unmeßbare Zeit verging, ehe seine behutsamen Geistesfühler sich zurückzogen. Das Wesen dankte mir wortlos und vermittelte mir dann den Eindruck, im Tausch etwas von sich geben zu wollen. Für einen aufblitzenden Augenblick wußte ich alles über es – ihn? – sie? Dann war es vorbei, und ich spürte, wie ich das Bewußtsein verlor. Warme, kräftige Hände fingen mich auf und hielten mich fest, legten mich behutsam auf das Bett.
»Ist sie es wirklich?« fragte Tom drängend. Ich vernahm keine Antwort, nur wenig später sein aus tiefster Seele kommendes Seufzen.
Leonies leise scheltende Stimme erklang. »Das hättest du nicht tun dürfen, ohne mich vorher zu fragen, Botschafter!«
»Sie war nicht in Gefahr«, antwortete Galen ungerührt. »Omelli wollte diese Mitteilung, und nur ich konnte sie besorgen.«
»Omelli«, schnaubte die Magierin aufgebracht. »Omelli soll sich nicht in Angelegenheiten mischen, die ...«
»Diese Angelegenheit geht Omelli sehr wohl etwas an«, unterbrach sie der andere. »Das Dasein des Mädchens betrifft unglücklicherweise auch die Allianz, wie du weißt. Du kannst ihrem Vater nicht das Recht absprechen, sich mit ihr zu unterhalten.« Ich öffnete verwirrt meine Augen. Was sollte denn ausgerechnet mein Vater mit Angelegenheiten der Allianz zu schaffen haben? Leonie sah ihn immer noch ärgerlich an, aber ich bemerkte die Ernüchterung in ihrem schönen, uralten Gesicht.
»Nun?« fragte Galen mild.
Sie hob seufzend die Hände und entgegnete: »Also meinetwegen. Ich verfluche den Tag, an dem ihr hier aufgetaucht seid.«
Er nickte ungerührt und ging mit Tom hinaus.
»Leonie, was m-meinte Julian damit, daß er dich zum Zweikampf fordert?« stellte ich endlich die Frage, die mich schon seit meinem Erwachen verfolgte.
Sie strich gedankenverloren eine Falte ihres Gewandes glatt. »Er will der Oberste Magus werden«, sagte sie. »Dazu gibt es zwei Wege, die beide nach unserem Kodex ehrenhaft und rechtens sind: Er könnte von mir zu meinem Nachfolger ernannt werden – was ich früher auch einmal in Erwägung gezogen habe ...« Sie verstummte, und ich sah den tiefen Schmerz in ihrem Gesicht. »Julian war mir lieb wie ein Sohn«, sagte sie leise. »Ich habe ihm vertraut, aber meine Liebe hat mich blind gegenüber dem gemacht, was er wirklich war. Ich habe dich in unnötige Gefahr gebracht und schmählich in dem versagt, was meine Aufgabe als Hand der Krone war. Deshalb werde ich nun auch mein Amt niederlegen und es meiner Nachfolgerin übertragen.«
Ich stöhnte erschreckt auf und griff nach ihrer Hand. Sie sah mich erstaunt an. »Du sagtest, es g-gäbe zwei Wege«, stammelte ich hastig, ehe sie die Angst in meinem Gesicht lesen konnte.
Sie nickte gelassen. »Der zweite mögliche Weg der Nachfolge ist der Zweikampf. Jeder, der sich stark und fähig genug fühlt, darf die Oberste Maga zum Duell fordern. Und wenn er gewinnt, ist er das rechtmäßige Oberhaupt.« Sie lächelte mich an. »Er kann gewinnen, Kind«, sagte sie ungerührt. »Er ist jung und wütend. Er will die Macht, und er glaubt, daß er sie so bekommen wird. Allerdings habe ich noch einen Trumpf im Ärmel, von dem er nichts ahnt. Du mußt wissen, daß ich nicht gehalten bin, gerecht zu kämpfen – er würde es auch nicht tun. Er hat mich zum Zweikampf um den Rang des Obersten Magus gefordert, und er wird ihn bekommen: den Kampf mit Leonie; mit der Obersten Maga!« Sie lachte über einen Scherz, den nur sie verstand.
»Leonie«, stellte ich die zweite Frage, die mich bedrückte. »Was – was w-war mit Cesco?«
Sie legte den Kopf an die Lehne des Stuhls und rieb sich mit ihren überlangen Fingern über die schweren Lider. Dann strich sie ihr krauses Haar zurück und sah mich schweigend an.
»Ich kenne nicht die ganze Wahrheit. Aber ich vermute, daß Julian die Großherzogin von Rhûn dazu gebracht hat, uns einen Strohmann anstelle ihres Neffen zu schicken. Ich bin sicher, er war Julians Kreatur – und ich vermute sogar, daß Julian selbst die ganze Zeit in seiner Nähe war, um ihn zu überwachen.«
Sie schwieg, und ich wisperte: »Giacchîn. Der Erzieher ...« Sie nickte.
»Du hast selbst erlebt, wie er sich verwandeln kann. Er ist ein Meister in dieser Kunst. Ich selbst habe ihn ermutigt und darin bestärkt, sich zu vervollkommnen, bis er so weit war, daß er selbst mich zu täuschen vermochte.« Sie lachte bitter. »Ich hätte nicht gedacht, daß er es wirklich einmal gegen mich verwenden würde. Ich bin eine sentimentale alte Närrin geworden, Elloran. Du verdienst wahrhaftig eine klügere Hand als mich, wenn du den Thron besteigst!«
»Leonie«, flehte ich.
Sie lächelte, ihr Gesicht war voller Frieden. »Kind, ich bin eine alte Frau. Ich bin es müde, zu intrigieren und zu lügen. Ich wollte, ich könnte mich einfach so zur Ruhe setzen, doch das ist mir wohl nicht vergönnt. Aber du, du sollst eine Hand an deiner Seite haben, der du vertrauen kannst. Ich werde dafür sorgen, auch wenn es mich mein Leben kostet, das schwöre ich dir.«
Sie erhob sich und sah gelassen und würdevoll auf mich herunter. Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort ab und verließ das Zimmer.
Den Tag verbrachte ich grübelnd in meiner Fensternische. Meine Finger flochten gedankenverloren unzählige dünne Zöpfchen in meine Haare. Langsam, mühevoll verleibte ich mir Ellorans Erinnerungen ein. Wir waren lange voneinander getrennt gewesen, und obwohl ich während der ganzen Zeit immer an seiner Seite gewesen war, war doch sein Leben etwas, das ich nur als Zuschauerin miterlebt hatte. Nun trafen mich die Gedanken, Erinnerungen und Gefühle mit ihrer ganzen Wucht; ich erkannte all die Schuld, die er auf sich geladen hatte, und glaubte, es nicht überleben zu können.
Diesmal war es Jemaina, die kam, als hätte sie meine Verzweiflung gespürt – und mich nun in ihre Arme nahm.
»Sei nicht zu hart zu dir«, sagte sie behutsam. »Du hast Schuld auf dich geladen, und du hast vieles falsch gemacht, das ist richtig. Aber du darfst nicht vergessen, daß du schon seit Jahren kein ganzer, gesunder Mensch warst. Das mußt du jetzt erst lernen, Elloran. Und an dieser Stelle tragen wir alle einen sehr großen Teil deiner Schuld mit; ich, deine Großeltern, Leonie und ...« Sie stockte, und ihr sonst so gelassenes Gesicht verhärtete sich.
»Julian«, sagte ich mit Schaudern. Sie nickte.
»Ich habe es nicht rechtzeitig erkannt«, sagte sie. »Leonie vertraute ihm, und ich habe ihr vertraut. Aber ich hätte es begreifen müssen, als du dieses schwere Fieber bekamst. Ich hätte erkennen müssen, woher es stammte und wer dahinter steckte, aber ich war blind und taub für alle Zeichen.«
»W-warum hat er überhaupt versucht, mich zu töten?« fragte ich nachdenklich. Der Gedanke war eigenartig weit von mir entfernt, als beträfe er mich gar nicht persönlich. »Ich war ihm doch lebend viel nützlicher, er brauchte mich schließlich als sein W-Werkzeug.«
»Er hat nicht versucht, dich zu töten«, erwiderte sie. »Damals auf Salvok warst du zum Zeitpunkt des vermeintlichen Giftanschlags immer noch ein ganz gewöhnliches Mädchen; ich hatte nur deine Reife etwas hinausgezögert, weil deine Großmutter dich erst so spät wie irgend möglich zu sich holen wollte. Aber in diesem Winter war die Grenze erreicht, von der ab es dir ernstlich geschadet hätte. Ich habe also Veelora gebeten, dich baldmöglichst zu sich zu holen. Dann wurdest du krank und lagst auf den Tod. Ich war völlig ratlos und verzweifelt. In meiner Angst, dich zu verlieren, stimmte ich dem Vorschlag deiner Mutter zu, Julian um Hilfe zu bitten. Verstehst du: Er hat dich nicht vergiftet, um dich zu töten, sondern um etwas anderes zu versuchen. Er hat Ellemir eingeflüstert, er könne mit Hilfe seiner Magie einen Jungen aus dir machen. Oder wenigstens das, was ohnehin von dir gesagt wurde: einen T'svera. Ellemir stimmte zu: Alles war ihr lieber als das Mädchen, das sie geboren hatte und zu dem sie sich nie hatte bekennen dürfen. Aber er hat gepfuscht, dein sonst so genialer Onkel. Er glaubte wohl wirklich, er könne dieses überragende magische Werk schaffen. Der Junge, der dabei entstanden wäre, wäre ganz und gar seine Schöpfung gewesen. Er hätte dich nach seinem Belieben formen können, verstehst du? Du hättest keinen eigenen Willen mehr gehabt, du wärest nur noch sein – wie hast du es genannt? – sein Werkzeug gewesen. Zu unser aller Glück hat er hierbei versagt. Und doch war er weitaus erfolgreicher, als irgendein anderer an seiner Stelle gewesen wäre. Es ist ihm wahrhaftig gelungen, einen Teil von dir abzutrennen, und er muß geglaubt haben, daß die Teilung endgültig wäre, denn sonst hätte er dich gewiß schon damals getötet. Du warst eine zu große Gefahr für ihn, Elloran.«
Sie verstummte, und wir saßen schweigend da und blickten hinaus in die Dämmerung. Meine Augen waren schwer und müde, und ich ließ es zu, daß sie mich auskleidete wie ein Kind und zu Bett brachte. Ihre Lippen streiften meine Stirn, und sie flüsterte: »Schlaf wohl, Elloran. Du wirst sehen, morgen schon ist alles nur noch halb so schwer.«
Sie behielt mit ihrer Vorhersage recht. Es war, als wüchse ich mit jedem neuen Tag enger mit meinem anderen Teil zusammen. Obwohl ich immer noch Augenblicke der Bedrückung und Trauer empfand, waren diese doch nie mehr so heftig und zerstörerisch wie an diesem ersten Tag meines zweiten Lebens.
In den ersten Tagen verließ ich mein Quartier nicht, aber ich wußte, daß ununterbrochen eine Wache zu meinem Schutz vor der Tür stand. Es war fast wie zu Zeiten meines Arrestes und doch völlig anders. Jemaina war beinahe ständig um mich, um meine Fragen zu beantworten, und Leonie und meine Großeltern besuchten mich regelmäßig, um dasselbe zu tun. Das Puzzle meines Lebens setzte sich nach und nach zusammen. Einzig zwei ungeklärte Dinge bedrückten mich noch und schufen mir schwermütige Inseln in meinen sonniger werdenden Tagen.
Ich dachte häufig über den Botschafter der Allianz und seine so merkwürdigen, nicht völlig menschlichen Begleiter nach. Wenn ich meine Augen schloß, sah ich wieder die schrecklichen Tentakel sich aus den Armen der großen jungen Frau ringeln – und Akim, der erbarmungslos die grausame Nadel in den Nacken seines wehrlosen Opfers stieß. Dann wieder sah ich Galen, wie er Nikal auf eine Art vernichtete, die böseste Zauberei sein mußte, und ich hörte den gräßlich erstickten Schrei, mit dem mein alter Freund sein Leben aushauchte. Noch immer konnte ich Toms lange, tödliche Krallen spüren, wie sie sich durch den Stoff meiner Kleidung in meine Haut bohrten.
Aber auf der anderen Seite erlebte ich während meiner Einverleibung der alten, neuen Erinnerungen auch unsere beiden gemeinsamen Reisen wieder: ich sah Toms Blick voller Zuneigung auf mich gerichtet, ich hörte seine Stimme sagen, daß er mich liebte – und ich glaubte es ihm, wie ich seiner Versicherung geglaubt hatte, daß sie Nikal keinen Schaden zufügen wollten.
Es drängte mich, eine Erklärung für sein Verhalten zu hören. Aber als ich Veelora bat, ihn zu mir zu bringen, ergriff sie voller Bedauern meine Hand und streichelte sie tröstend. Der Botschafter war am Tag zuvor mit all seinen Leuten abgereist, um ein letztes Mal mit dem maior T'jana wegen eines dauernden Friedens zu verhandeln. Die Allianz lege großen Wert auf gefestigte, klare Verhältnisse, bedeutete mir Veelora, und der unsichere Frieden zwischen S'aavara und der Krone bedrohe ernstlich unser Bündnis mit der Allianz. Galen sei fest entschlossen, diesen Frieden zu bekommen, und er habe seine Leute wohl mit sich genommen, um so seinen Forderungen etwas mehr Druck verleihen zu können, erklärte Veelora belustigt.
»Und wenn er v-versagt?« fragte ich beunruhigt.
Veelora lachte laut auf. »So, wie ich den Botschafter vor seiner Abreise erlebt habe, legt er eher den Palast des maior und seine gesamte Hauptstadt in Schutt und Asche, als unverrichteter Dinge wieder abzureisen. Ich hätte nicht geglaubt, daß dieser listige Fuchs einmal so etwas wie Temperament zeigen würde, aber jetzt bin ich recht froh, daß er es für gewöhnlich unterläßt. Das ist kein Mensch, das ist ein feuerspeiender Berg!«
Karas, der bei Veeloras letzten Worten eingetreten war, prustete vergnügt. »Wahrhaftig, Liebste, das war ein Schauspiel, das es wert gewesen wäre, vor einem größeren Publikum gezeigt zu werden!« Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und tupfte sich schwer atmend den Schweiß von der Stirn. Besorgt sah ich, wie unsicher seine Hände dabei waren. Veelora nahm ihm sanft das Tuch aus der Hand und trocknete ihm die Stirn. Er dankte es ihr mit einem liebevollen Blick und fuhr, nachdem er wieder bei Atem war, fort: »Er hat sich hinterher richtiggehend dafür entschuldigt, Vee, das hast du nicht mehr mitbekommen. Sein Captain hat ihn nur wütend angestarrt, und er hat sich umgedreht und war wieder ganz förmlich und kalt, wie er immer ist. Es hat mich richtig durchgeschüttelt, ich dachte, wir hätten ein Erdbeben oder so etwas ähnliches. Göttin, wenn das sein eigentliches Temperament ist, sollten wir denen dankbar sein, die ihn Selbstbeherrschung gelehrt haben.« Die beiden hatten mich vollständig vergessen, sie saßen da, hielten sich bei den Händen und lachten sich an. Ich verdaute diese Neuigkeit schweigend und fügte sie meinem Fragenkatalog hinzu.
Das andere, was mich belastete, war die Tatsache, daß Jenka mich mied. Ich wußte, daß sie öfter als ihre Kolleginnen vor meinem Quartier Wache hielt, aber ich bekam sie nie zu Gesicht. Jemaina, die ich schließlich verlegen deshalb befragte, gab mir zum ersten Mal keine Antwort. Sie sog an ihrer Pfeife und schwieg. Ich bat sie, Jenka einen Gruß von mir auszurichten, was sie wohl auch tat – aber ich erhielt keine Antwort darauf.
Mit jedem verstreichenden Tag fühlte ich mich heimischer in meiner Haut. Ich begann, mich nach etwas mehr Freiheit zu sehnen. Schließlich bat ich Leonie, als wir wieder einmal vor dem spiel saßen, mein Quartier verlassen und ein wenig Spazierengehen zu dürfen.
Sie zog eine bedenkliche Miene und überlegte. »Du weißt, daß du immer noch in größter Gefahr bist, solange Julian auf freiem Fuß ist.«
»Wollt ihr mich hier einsperren, bis ich alt und grau geworden bin?«
Sie wehrte es mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. »Er wird sehr bald kommen und den Zweikampf um den Rang des Obersten Magus fordern, Kind. Mit Sicherheit, noch ehe der Sommer vorbei ist. Julian war nie ein Magier der Winterkräfte, das ist viel eher meine Zeit. Also sei geduldig und warte, es ist besser so.«
Ich saß also an meinem Fenster und sah die Rosen erblühen und sehnte mich so schmerzlich nach Sonne auf meiner Haut und Luft, die über meine Wangen strich, daß ich glaubte, in meinem Zimmer ersticken zu müssen. Ich lag Karas damit in den Ohren und schaffte es endlich, ihn zu erweichen.
»Also gut, Elloran – aber du gehst nur hier in den Rosengarten, hörst du? Und deine Wache begleitet dich dabei, sonst bringt Leonie mich um!« Ich zog einen Flunsch, doch er blieb hart.
Mit klopfendem Herzen, als ginge es zu einem Abenteuer und nicht zu einem schlichten Spaziergang durch den kleinen Garten, durfte ich endlich meine Tür öffnen und hindurchgehen. Die Wache war von Karas in Kenntnis gesetzt worden und folgte mir dichtauf. Ich ging durch den mit blühenden Hecken bepflanzten Garten, füllte meine Lungen mit der duftenden Brise und fühlte mich wie im Paradies. Meine Großeltern bemerkten mit Freude, wie wohl mir mein Spaziergang getan hatte und daß meine allzu blassen Wangen endlich sogar eine Spur von Farbe und einige zaghafte Sommersprossen zeigten. Sie entschieden, daß ich nun täglich unter den wachsamen Augen eines Soldaten hinaus in den Rosengarten gehen durfte.
Dann kam der Morgen am Ende des Jungsommers, als ich meine Türe öffnete und in Jenkas dunkles Gesicht sah. Ich stieß einen freudigen Laut aus und streckte ihr strahlend meine Hand hin. Sie sah mich fremd und kalt an, salutierte förmlich und fragte: »Ihr befehlt, Herrin?«
Ich ließ meine Hand sinken und seufzte. »Ich m-möchte in den Rosengarten, Jenka«, murmelte ich, und sie folgte mir stumm. Meine schweren Füße trugen mein trauriges Herz zu meinem Lieblingsplatz: einer fast überwucherten Bank unter einem blütenschwer überhängenden Busch mit süß duftenden gelben Rosen. Ich setzte mich nieder. Jenka blieb ein kleines Stück entfernt auf dem Weg stehen und mied meinen Blick.
»Jen«, sagte ich schließlich flehend. »Meine Freundin, was habe ich dir getan, daß du mich so strafst? Bitte, sprich doch mit mir!«
»Herrin«, sagte sie steif. Ich wartete auf weitere Worte, aber sie schwieg verbissen. Ich sprang auf und trat dicht an sie heran, nahm ihre widerstrebende Hand zwischen meine Hände und zog sie an mein Herz. »Bitte, Jenka, ich flehe dich an! Ich weiß nicht, was ich dir angetan habe, aber ich b-bitte dich um Verzeihung – ich wollte dich nicht verletzen, glaube mir!« Meine Stimme brach, und ich preßte die Lippen zusammen, um nicht in ausuferndes Weinen auszubrechen. ›Verdammte Heulsuse‹ hörte ich meinen Bruder maulen. Jenka sah mich regungslos aus ihren lackschwarzen Augen an. Entmutigt ließ ich ihre Hand los und wandte mich ab.
»Du machst es einer Freundin nicht leicht«, hörte ich sie heiser hinter mir sagen. Ich blieb wie erstarrt stehen, wagte nicht, mich umzudrehen. »Du bist mein einziger Freund auf Salvok gewesen, und ich war so ungeheuer stolz darauf. Dann kamst du endlich auch hierher und hattest dich verändert und verändertest dich immer mehr. Ich habe es – hingenommen. Du warst mein allerbester Freund, und ich habe dich ...« Sie unterbrach sich.
Ich drehte mich langsam zu ihr um und suchte ihren Blick. Sie wich ihm aus und fuhr stockend fort. »Du hast dich in diesen gräßlichen Kerl verliebt. Ich habe versucht, es zu verstehen. Du hast ihn umge ... – er war tot und du im Verlies, und ich habe um dich geweint. Dann warst du fort. Ich habe in jeder Sekunde an dich gedacht: was du machst, ob es dir gut geht, ob ich dich überhaupt jemals wiedersehen würde!« Ihre Stimme wurde lauter und steigerte sich zu einem herzzerreißenden Aufschrei. »Dann endlich kamst du zurück, und ich mußte dabei zusehen, wie du dich tötetest und dachte, mein Herz muß brechen – und plötzlich stehst du wieder da und bist eine Frau! Was, bei Denen-Die-Sind, kommt als nächstes, Elloran? Kannst du mir das sagen? Auf was muß ich mich noch einrichten?« Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in heftiges Weinen aus. Ich stürzte zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie sträubte sich heftig, versuchte mich von sich zu stoßen, und als ich nicht nachgab, versetzte sie mir einen heftigen Schlag mit der Faust. Ich taumelte zurück und preßte den Handrücken gegen meine aufgeplatzte Lippe.
»O nein, das wollte ich nicht«, rief sie und sprang auf mich zu. »Elloran, bitte, das wollte ich wirklich nicht!« Sie zog meine Hand fort und tupfte mir das Blut ab. Ihr Gesicht war sehr nah an meinem. Ich sah in ihre Augen. Mir war, als hätte ich Jenka noch nie zuvor gesehen. In all meiner Selbstbezogenheit hatte ich es nicht erkannt, aber jetzt sah ich es mit aller Klarheit: Sie liebte mich, sie liebte mich schon seit Jahren und hatte es mir nie zu verstehen gegeben – oder etwa doch?
»Jen«, stammelte ich beschämt. »Jenka, meine liebste Freundin. Ich war so blind und so eigensüchtig – kannst du mir vergeben?« Sie senkte den Blick, und ihre Hände fielen an ihre Seite. Wir standen stumm voreinander, und ich fühlte einen schrecklichen Verlust.
»Ich weiß nicht«, sagte sie endlich. »Laß mir Zeit, Elloran. Bitte, laß mir Zeit.« Schweigend gingen wir zurück ins Gebäude und trennten uns ohne ein weiteres Wort vor meiner Tür.
Danach sah ich sie für längere Zeit nicht wieder. Meinen täglichen Spaziergang bewachte nun immer jemand anderes. Auf diese Weise schien ich nach und nach die gesamte Kronengarde kennenzulernen. In der dritten Woche des Kornsommers holte mich wieder einmal ein redseliger junger Soldat ab, dem ich insgeheim den Spitznamen ›Pfannkuchen‹ gegeben hatte, weil auf seinem muskulösen Körper ein so rundes und teigiges Gesicht saß. Ich war nicht sehr gesprächiger Laune an diesem Tag, und so bat ich ihn, mich allein in das Heckenlabyrinth gehen zu lassen, wo ich ein wenig lesen wollte. Er stimmte zu, bestand aber darauf, mit mir zuerst bis zum Mittelpunkt zu gehen, um zu überprüfen, daß dort nicht irgendein Unhold auf mich lauerte. Mit ihm im Schlepptau wanderte ich durch den grünen Irrgarten. Endlich waren wir am Mittelpunkt des Labyrinths angelangt. Ich sank aufatmend auf die Bank dort, griff nach meinem Buch und ließ ihn sich umsehen.
»Du siehst, es lauert niemand hier«, sagte ich nach einer Weile mit leiser Ungeduld, weil er immer noch keine Anstalten machte, sich zu verabschieden. Er stand da und sah mich an, und ich starrte sehr sichtbar auf die Seiten meines Buches nieder und bemühte mich, ihn zu übergehen. Warum ging er nicht endlich fort und ließ mich allein? Oh nein, jetzt setzte er sich auch noch neben mich! Seufzend ließ ich meine Lektüre sinken und holte tief Luft, um ihn zurechtzuweisen. Ich sah ihn strafend an und blickte unvermittelt in ein Paar amüsierter seegrüner Augen.
»Julian«, ächzte ich und wollte aufspringen, aber er hob seine knochige Hand und hielt mich auf. Ich sank wie gebannt zurück und starrte ihn an. Er saß da, vollkommen entspannt, und nichts Drohendes oder Beängstigendes war an ihm. »Was m-machst du hier?« fragte ich ihn entgeistert.
»Ich wollte mich mit dir unterhalten«, entgegnete er gelassen. »Aber das ist nicht einfach, du bist ja besser bewacht als der Kronschatz!« Ich dachte an das unscheinbare Holzkästchen in Karas' Schreibtischlade und mußte schmunzeln. Er erwiderte mein Lächeln und musterte mich von oben bis unten. »Ich bin wirklich beeindruckt. Du warst ja schon immer ein hübsches Kerlchen, aber jetzt als Frau ...« Er berührte sacht eine Locke, die mir ins Gesicht fiel und machte ein ganz versonnenes Gesicht. »Du bist eine richtige Schönheit, Ell. Schöner sogar als meine Schwester, wer hätte das gedacht!« Ich war sprachlos. Was hatte er vor, wollte er mich vielleicht mit billigen Schmeicheleien einlullen?
»Was willst du von mir, Julian?« fragte ich grob. Er seufzte und ließ seine Hand von meinem Haar auf meine Schulter sinken. Ich machte eine abwehrende Geste, aber er kümmerte sich nicht darum.
»Sie haben dich komplett eingewickelt, richtig?« sagte er spöttisch. »Meine geschätzten Eltern und meine alte Meisterin – sie haben dir die kitschige Fabel vom verlorenen und wiedergefundenen Kälbchen vorgespielt, und du hast es geschluckt. Ach, Elloran, ich hatte solch große Hoffnungen in dich gesetzt, und du hast mich so tief enttäuscht.«
Seine Finger spielten mit meinen Haaren. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn anzustarren. Seine Augen strahlten in einem unirdischen Feuer. Er berührte sanft meine Wange und sagte: »Es ist noch nicht zu spät, meine verirrte kleine Nichte. Noch können wir das Spiel zu unseren Gunsten wenden.«
Ich wandte heftig den Kopf zur Seite und schüttelte mich vor Widerwillen. »Julian, wie kannst du glauben, daß ich dir nach all dem, was du mir angetan hast, noch h-helfen würde?«
Sein melancholisches Gesicht wurde noch etwas trauriger, und er griff nach meiner Hand. Ich ließ es wie betäubt zu. »Dir angetan? Ich habe dir nie geschadet, im Gegenteil«, ereiferte er sich. »Ell, haben sie dir derart den Kopf vernebelt, daß du diese Lügen glaubst? Hast du vergessen, wie nahe wir uns einmal standen?« Sein Gesicht schien ehrlich betrübt.
»W-was hast du vor?« flüsterte ich benommen. Er streichelte zärtlich meine Finger und neigte sich nah zu mir. Seine Augen zogen mich in einen Bann, den ich nicht brechen konnte oder wollte.
»Wir werden über diese Welt herrschen«, hauchte er, und ich lauschte ihm gefesselt und zugleich abgestoßen. »Wir alleine und für eine längere Zeit, als irgend jemand hier sich ausmalen kann, meine Freundin. Wir werden unsterblich sein!« Sein Atem ging hastig. Er schien mich mit seinen Augen aufspießen zu wollen.
»Du bist wahnsinnig, Julian«, krächzte ich.
Er lächelte und legte seine bleichen Finger liebkosend an meine Wange. »O nein, ich bin klarer bei Verstand als alle anderen hier. Ich biete dir die Unsterblichkeit, Elloran. Das und ewige Macht – willst du dies einfach so ablehnen, nur weil deine starrsinnigen Großeltern mich unbedingt als den bösen schwarzen Mann darstellen wollen?« Ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte.
»Deine Freunde von der Allianz«, fuhr er flüsternd fort. »Sie haben das Geheimnis des ewigen Lebens gelöst. Ich bin fest entschlossen, es ihnen zu entreißen!« Sein wilder Blick klebte auf meinem Gesicht. Ich konnte die Augen nicht abwenden.
»Unser Kommandant«, hauchte er. »Nikal – er hat mir, ohne es zu wollen, einiges verraten. Ich war sehr geschickt darin, ihm sein Geheimnis zu entlocken. Rate, wie alt er war, als du ihn zuletzt sahst!«
Ratlos antwortete ich: »Genau kann ich es dir nicht s-sagen, Julian. Sicher sehr viel älter als mein Vater, aber jünger als Karas, denke ich.«
Er lachte höhnisch. »Weit gefehlt, meine Liebe. Er hatte sein hundertstes Lebensjahr schon lange überschritten. Die anderen aus seiner Vergangenheit sind alle ähnlich alt – einer von ihnen, dieser Anführer namens Omelli, muß sogar noch weitaus älter sein als Leonie!« Er lehnte sich zurück und sah mich triumphierend an.
Trotz meines Entsetzens mußte ich lachen. »Julian, du redest wirklich irre! Überlege doch, du hast Nik lange genug gekannt: er ist in den Jahren gealtert, wie jeder Mensch das tut. Beweist das nicht, daß du dich irrst?«
Er schüttelte heftig den Kopf, daß seine schwarzen Haare flogen und neigte sich wieder zu mir. Er legte seinen Arm um meine Schultern und wisperte mir ins Ohr: »Aber nein. Du verstehst es nicht. Es durfte ja nicht auffallen, wie hätte es denn ausgesehen, wenn er ewig jung geblieben wäre! Das gehörte alles zu seiner Tarnung. Denk doch an die Fremden, die ihn suchten, weil er ein alter Freund von ihnen sei: Erschienen sie dir dafür nicht viel zu jugendlich?«
Das machte mich allerdings nachdenklich. Er sah mich beschwörend an. »Vielleicht hast du ja r-recht«, erwiderte ich zögernd. »Aber was hat das mit uns – mit dir zu tun?« Mein Versprecher erschreckte mich; vor allem, weil er ihn natürlich mit deutlicher Befriedigung zur Kenntnis nahm.
»Mit deiner Hilfe werde ich ihnen das Geheimnis entlocken«, erklärte er. »Denk doch nur, Elloran – wir werden länger leben, als selbst das alte Volk der Magier es je getan hat! Du und ich, meine Schönste!« Er zog meine Hände an seinen Mund und küßte sie voller Leidenschaft. Seine Lippen brannten wie eisiges Feuer. »Jetzt sage mir eines«, fuhr er eifrig fort, »was plant Leonie? Wie will sie das Duell gewinnen?«
Sein mageres Gesicht war sehr dicht an meinem, und ich antwortete mechanisch: »Ich weiß es nicht, Julian. Sie hat es mir nicht verraten. Aber sie sagte ...« Ein lauter Ruf aus dem Garten unterbrach mich jäh.
Julian preßte die Lippen erbost aufeinander, dann drängte er: »Sprich weiter, meine Liebste! Was hat sie gesagt?« Aber der Zauber war gebrochen. Ich entriß ihm meine Hände und schrie entsetzt auf.
»Elloran!« antwortete mir Jenkas Stimme. »Was ist?«
Julian stand vor mir, die Hände zu Klauen geformt und griff nach meinen Schultern, um mich grob zu schütteln. »Was hat sie gesagt?« zischte er. Ich schrie wieder, laut und ein wenig hysterisch.
Jenka brüllte: »Ich komme, halte durch!« Zweige rauschten, knackten und brachen, als sie sich mit ihrem Schwert den kürzesten Weg durch die Hecken in das Herz des Irrgartens bahnte. Julian schrie haßerfüllt, und ein Rabe schwang sich häßlich krächzend in die Luft. Einen Wimpernschlag später stand Jenka vor mir, heftig atmend, zerzaust und mit einer bösen Schramme auf der Stirn. Sie fuhr herum, das Schwert in der Faust und suchte den kleinen Platz ab, aber außer mir war niemand dort. Stirnrunzelnd kehrte sie sich zu mir um und fragte ergrimmt: »Warum kreischst du eigentlich so, bist du noch ganz bei dir? Ich dachte, du wirst ermordet!« Zornig stieß sie ihr Schwert in die Scheide zurück. Ich sah ihr zerrauftes Haar mit all den abgebrochenen Zweigen und Blättern darin und ihren wütenden Blick und fing hilflos an zu lachen. Ich konnte nicht damit aufhören. Ich krümmte mich, hielt mir die Seiten, Tränen liefen über mein Gesicht, und ich rang verzweifelt nach Luft.
Sie wandte sich erbost ab und wollte gehen, aber ich stieß atemlos hervor: »Jen, nein! Du hast mich g-gerettet. Julian ...«
Wieder packte mich der nächste Lachanfall. Ich befürchtete schon, daran schmählich ersticken zu müssen, als ein nicht allzu sanfter Schlag meine Wange traf. Ich japste erschreckt, und eine zweite Ohrfeige landete auf der anderen Wange. Das wirkte wie ein Guß kalten Wassers und ließ mein wahnwitziges Gelächter endlich vollständig verstummen. Ich blickte in Jenkas Gesicht und brach in Tränen aus. Ihre Arme umfingen mich und hielten mich fest. Sie strich über meine bebenden Schultern und drückte ihr Gesicht an meine brennenden Wangen. Ihre Lippen streiften über mein nasses Gesicht.
»Wie – warum hast du überhaupt nach mir gesucht?« fragte ich endlich unter Schluchzern. Sie zog mich auf die Bank, wo ich eben noch mit Julian gesessen hatte und legte ihre Arme schützend um mich.
»Tante Jemaina sagte, ich solle nach dir sehen. Sie war beunruhigt, konnte mir aber nicht sagen, weshalb. Nur, daß sie das Gefühl hatte, du seist in großer Gefahr.« Sie sah sich mißtrauisch um. »Wo ist eigentlich deine Wache? Bist du alleine hergekommen?«
Ich schüttelte den Kopf und erklärte ihr, was vorgefallen war. Sie zog mich wieder an sich und schimpfte halblaut: »Dieser Mistkerl, dieses bleiche, schleichende Scheusal! Ich habe ihn noch nie leiden können, früher schon nicht! Der soll mir zwischen die Finger kommen!« Ich mußte darüber lachen, wie sie sich ereiferte, aber dieses Mal war es ein gutes Lachen. Sie sah mich zuerst beleidigt an, aber dann lachte sie mit mir. Wir hielten uns umschlungen und kicherten wie zwei kleine Mädchen.
Ich pflückte einen kleinen Zweig aus ihrem krausen Haar und gluckste: »Wie d-du ausgesehen hast, als du durch die Hecke getrampelt kamst! Schade, daß er das nicht mehr gesehen hat, er wäre vor Schreck bestimmt gestorben.«
Sie lachte und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um die Blätter daraus zu entfernen. »Was wird bloß die Krone sagen, wenn sie sieht, was ich aus ihrem schönen Irrgarten gemacht habe.«
»Sie wird dir einen Orden verleihen und dich zu ihrer Hand ernennen«, erwiderte ich übermütig lachend. Dann wurde es mir ganz warm uns Herz, und ich wiederholte sehr ernst: »Sie wird dich zu ihrer Hand ernennen, Jen!«
Sie sah mich mit einem spöttischen Grinsen an und entgegnete: »Aber sicher, Ell. Die Krone wird auf mich zutreten und sagen: ›Liebe Jenka, Wir sind so beeindruckt von deinen überragenden Fähigkeiten beim Heckenzertrampeln und Rosenschlachten, daß Wir Veelora in Pension schicken und dir Unseren Schutz übertragen.‹ Du spinnst, Geliebte.«
Sie schlug die Hand vor den Mund. Ihre Augen waren weit aufgerissen – vor Verlegenheit über das, was ihr da entfahren war. Ich sah sie dasitzen, das dunkle Gesicht heiß vor Scham und wußte nichts besseres zu tun, als sie zu küssen.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort inmitten des zerstörten Labyrinths saßen und uns küßten und streichelten. Wir konnten nicht mehr voneinander lassen. Es war, als hätten wir jahrelang darauf gewartet und alle Zärtlichkeit für diesen verzauberten Augenblick aufgespart.
Jemainas Rufen störte uns auf – wir fuhren auseinander, und ich blickte errötend in die amüsierten Augen von Jenkas Tante. »Hier seid ihr«, sagte sie friedlich. »Jenka, mein Schatz, ich habe mir, wie du dir vielleicht denken kannst, ein wenig Sorgen gemacht, als du nicht zurückkamst.«
Leiser Tadel klang in ihrer Stimme mit. Jenka begann stammelnd, sich zu entschuldigen, aber ich nahm sie heftig in Schutz. »Sie hat mir das Leben gerettet, Jemaina. Bitte, schilt sie nicht!«
Jemaina wurde sehr nachdenklich, als ich ihr von Julians Versuch, mich auszuhorchen, berichtete. »Du bist noch immer in Gefahr«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, ob es nicht doch besser ist, wenn du auf deinem Zimmer bleibst, bis alles vorbei ist.« Ich protestierte heftig, denn trotz des eben ausgestandenen Schreckens hing ich zu sehr an meinem kleinen Traum von Freiheit, als daß ich ihn so ohne weiteres wieder aufgegeben hätte. Jenka versprach, sie würde mich ab jetzt keine Sekunde mehr aus den Augen lassen. Dabei drückte sie verstohlen meine Hand, und ich mußte ein Kichern hinunterschlucken.
Jemaina seufzte und sah uns an, wie wir da wie gescholtene Kinder vor ihr standen. »Wir werden Leonie fragen«, entschied sie. »Du wirst tun, was sie dir befiehlt, Elloran. Keine Diskussionen, hörst du?« Ich nickte ergeben. Gegen die Oberste Maga konnte ich meinen Dickkopf ohnehin nicht durchsetzen, das wußte ich sehr wohl.
Doch was Leonie uns zu sagen hatte, ließ alles andere in den Hintergrund rücken. Sie stand am Fenster, als wir ihre Gemächer betraten und blickte gedankenverloren in den Himmel, der sich langsam abendlich zu färben begann. Ihre Finger spielten mit einigen schwarzweißen Federn, streichelten sie, fächerten sie auseinander und legten sie sanft wieder zusammen. Auf ihrer Schulter saß ein Rabe, völlig regungslos, als sei er ausgestopft. Sie wandte sich nicht um, als wir eintraten, nur ihre Hände hielten inne.
»Es ist soweit«, sagte sie still.
Jemaina neben mir erstarrte. »Wann?«
»Beim Mondwechsel«, antwortete Leonie. Jemaina stieß ein Geräusch aus, das fast ein Schluchzen war. Ich blickte sie verwundert an. Ihr Gesicht war unbewegt, doch ich sah, wie ihre Brust sich hob und senkte. Jenka tauschte einen beunruhigten Blick mit mir. Leonie wandte sich um und ergriff die Hand der kleinen Heilerin. »Jemaina. Du mußt es nicht annehmen, das weißt du. Ich werde dich nicht dazu zwingen – das kann ich auch gar nicht. Wenn du lieber ...«
»Nein«, entgegnete Jemaina heftig. »Es ist gut, Leonie! Wir werden es so machen, wie wir es besprochen haben.«
»Gut.« Leonie klang erleichtert. »Es bleiben uns noch drei Tage bis zum Mondwechsel, das gibt uns mehr als genug Zeit für die Vorbereitungen.« Sie sah mich an, und unübersehbare Besorgnis stand in ihren Vogelaugen. »Er verlangt, daß du dabei bist, Elloran.« Jemaina fuhr auf, aber Leonie hob herrisch die Hand. »Es hat mich auch zuerst erschreckt, Freundin, aber jetzt bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob er damit nicht einen Fehler gemacht hat. Er denkt wahrscheinlich, er könnte dich immer noch kontrollieren, Elloran.« Sie trat an mich heran und legte ihre Hände um mein Gesicht. Forschend blickte sie mich an. »Was glaubst du, Elloran? Wie stark ist sein Einfluß auf dich?«
»Stark«, flüsterte ich.
»Wirst du ihm widerstehen können?«
Ich erzitterte. Sie entließ mich nicht aus ihrem Blick. »Kannst du ihm widerstehen, Elloran?« wiederholte sie eindringlich.
»Ja«, antwortete ich fest. »Ja, Leonie, das kann ich.« Sie lächelte und küßte mich auf die Stirn. Der Rabe auf ihrer Schulter regte sich sacht. Ich sah bestürzt auf ihn. Seine harten Augen fixierten mich auf beunruhigende Art und Weise.
»Laßt mich nun mit Jemaina alleine«, befahl die Oberste Maga. Jenka nahm gehorsam meine Hand und zog mich hinaus.
»Diese Frau verursacht mir immer noch eine Gänsehaut«, sagte sie halblaut, als wir zu meinem Zimmer zurückgingen. Ich erwiderte nichts. Mir ging es oft genug nicht anders.
»M-mit der Zeit gewöhnst du dich daran«, sagte ich schließlich und hörte Jenkas Lachen. »Wie hast du das eigentlich gemeint, du würdest mich keine Sekunde aus den Augen lassen?«
»Genau wie ich es sagte«, antwortete sie übermütig und zog meinen Arm unter den ihren. »Ich weiche dir von jetzt ab Tag und Nacht nicht mehr von der Pelle. Wenigstens so lange nicht, bis dieses Ungeheuer unschädlich gemacht wurde!«
»Das sind ja schöne Aussichten!« schimpfte ich und öffnete die Tür zu meinem Zimmer. »Soll das heißen, daß ich von nun an ständig dein Gesicht vor der Nase haben werde?«
Sie blieb im Gang stehen und sah mich verlegen an. »Wenn ich dir lästig falle ...«, stotterte sie.
Ich lachte auf und zog sie an mich. »Dummes Ding«, flüsterte ich in ihr Ohr und schloß die Tür hinter uns. Sie ergab sich erleichtert in meine Umarmung und schenkte mir einen schnellen, kleinen Kuß, den ich ihr in den nächsten Minuten gerne und mit Zinsen zurückzahlte.
Jemaina und Leonie ließen sich zwei Tage lang nicht sehen. Was auch immer in dieser Zeit hinter der geschlossenen Tür zu Leonies Gemächern stattfand, ich hoffte, daß es zu unserem Sieg beitragen würde. Jenka machte ihre Ankündigung wahr und wich nicht mehr von meiner Seite: nachts schliefen wir eng aneinandergeschmiegt in meinem schmalen Bett, und tags bewachte sie mich auf Schritt und Tritt. Veelora hatte nur geschmunzelt und sie bereitwillig für diesen Dienst freigestellt, als ich verlegen darum bat.
Am Morgen des Tages, an dem der Zweikampf stattfinden sollte, ließ ich mich von Jenka wieder zum Labyrinth begleiten. Ich fühle mich beklommen, wenn ich an das Kommende dachte – niemand wußte, wie dieser Tag enden würde. Schweigend und bedrückt folgten wir dem Weg ins Herz des Irrgartens. Auf der Bank in seiner Mitte saß bereits jemand: ein hochgewachsener, sehr schlanker Mann mit weißem Haar, der uns den Rücken zuwandte. Jenka griff nach ihrem Schwert und schob sich schützend vor mich. Ich blickte die Gestalt an. Er hatte uns anscheinend noch nicht bemerkt. Etwas an seiner Haltung kam mir vertraut vor und ließ mich innerlich zu Eis erstarren.
»Geh, Jen«, hauchte ich. Sie fuhr auf, aber ich schob sie zurück hinter eine blühende Hecke. »Bitte, Jenka, laß mich allein«, flehte ich leise, und sie murmelte protestierend: »Aber ich bleibe in Rufweite!«
Ich wandte mich um und trat geräuschlos auf den Mann zu, der wie in tiefem Nachsinnen seinen Kopf in die Hände gestützt hatte. Jetzt schien er meine Anwesenheit zu spüren. Seine Schultern versteiften sich, und er drehte sich um. Wir sahen uns stumm und mit angehaltenem Atem an. Endlich atmete er zitternd aus und sagte: »Ja. Jetzt stimmt alles. So ist es endlich richtig.«
»Was b-bist du?« fragte ich verwirrt. Er lächelte sein altes, unendlich vertrautes Lächeln, das sein Gesicht in tiefe Falten legte. Seine Hände streckten sich nach mir aus, ich ergriff sie zögernd, und meine Finger umklammerten warmes, lebendes Fleisch.
»Was soll ich denn deiner Meinung nach sein?« fragte er mit sanftem Spott.
»Tot«, antwortete ich. »Tot, Nik.«