10

In aller Frühe weckte Uliv mich, während Leena still in der Tür des Hauses stand und darauf wartete, mir einen Beutel mit liebevoll zurechtgemachtem Proviant zu geben. Ich umarmte sie mit Tränen in den Augen. Sie legte eine Hand auf meinen Scheitel und flüsterte einen Segen. Dann trat sie ins Haus zurück und schloß die Tür. Uliv saß auf einem offenen Karren, der mit Getreidesäcken beladen war und reichte mir eine Hand, um mir auf den Bock zu helfen. Der kräftige Braune, der vorgespannt war, zog an, und wir kutschierten langsam vom Hof. Ich warf einen letzten Blick zurück auf das Haus und erhaschte einen Schimmer von Rhians Gesicht in einem der Fenster.

Die kühle Morgenluft machte mich trotz meiner Jacke frösteln. Der Bauer saß schweigend neben mir, und wir fuhren durch die üppigen Hügel L'xhans. Das hier war die Heimat meiner Mutter und Großmutter, für die ich bisher keine Augen gehabt hatte. Mein Ziel, die Kronenburg, war endlich in greifbare Nähe gerückt. Meine Lebensgeister erwachten, und ich sah mich neugierig um. Hinter uns klatschten Flügel. Eine vertraute Stimme kreischte laut und etwas erbost. Die ungetreue Magramanir hatte sich seit dem Überfall auf unser Lager nicht mehr sehen lassen.

Mit einem besonders häßlichen Begrüßungskrächzen landete die kleine Rabenfrau auf meiner Schulter und sah mich aus schwarzen Knopfaugen beleidigt an. Dann begann sie mit heftigen Bewegungen, ihren weißen Bauch zu putzen. Ich kramte ein Stückchen Käse aus meinem Vorratsbeutel und bot es ihr an. Sie nahm den Brocken besänftigt entgegen und verschlang ihn gierig. Ich strich über ihren glänzend schwarzen Kopf und dachte: Nicht ich habe dich sitzen lassen, kleine Freundin. Sie sah mich an, als hätte sie mich verstanden und lachte.

Uliv hatte alles mit offenem Mund beobachtet. »Gehört der Vogel dir?« fragte er erstaunt. Ich nickte der Einfachheit halber. »Ich habe noch nie gehört, daß man Raben zähmen kann«, sagte er beeindruckt. Ich gluckste amüsiert. ›Zahm‹ und ›Magramanir‹ meinten nicht gerade dasselbe.

»Du bist ja nicht besonders gesprächig heute«, sagte Julians fröhliche Stimme auf meiner Schulter. Erschreckt blickte ich zu Uliv hinüber, aber der sah ungerührt geradeaus auf die Ohren seines Pferdes.

»Keine Angst, er hört mich nicht. Wie ist es dir denn in der letzten Zeit so ergangen?« Hörte ich da einen höhnischen Unterton in Julians Stimme, oder war ich in meiner Behinderung überempfindlich geworden? Hilflos und stumm blickte ich in Mags Augen. »Na gut, wenn du nicht mit mir reden willst ...«, sagte Julian beleidigt, und der Vogel flog auf. Ich sah ihm nach, wie er in einem schwarz-silbernen Aufblitzen hinter der Kuppe des nächsten Hügels verschwand und schlug in ohnmächtiger Wut mit der Faust auf den Sitz. Uliv blickte mich verwundert an. Ich schnitt eine Grimasse und bedeutete ihm, es sei alles in Ordnung.

Am frühen Mittag erreichten wir das Gehöft von Ulivs Nachbarn Senn. Er stand im Hof: ein großer, dickbäuchiger Mann mit struppigem Haar und einem jovialen, dunkelroten Gesicht. Uliv erklärte ihm unser Anliegen. Senn kratzte sich nachdenklich am Kopf. Seine kleinen, listigen Augen musterten mich scharf, und ich erwiderte seinen Blick so freimütig, wie es mir möglich war. Dann grinste der Bauer, wobei er etliche schadhafte Zähne enthüllte, und schlug mir auf die Schulter, daß ich in die Knie ging.

»Meinetwegen, ich nehme den Burschen mit«, brüllte er. »Es schadet nicht, wenn ein zweites Paar Augen die Ladung im Blick behält. Sehen kann er ja wohl, oder?« Sein dröhnendes Lachen entlaubte mit einem Schlag alle umstehenden Bäume und ließ die Vögel in Scharen tot vom Himmel fallen. Ich rieb mir mit verzerrtem Grinsen meine schmerzende Schulter und dachte mit Schrecken an die folgende Fahrt. Zwei oder drei Tage neben Senn auf einem Wagen würden mich mit Sicherheit zusätzlich zu meinem Sprachproblem auch noch ertauben lassen.

Uliv warf mir einen verstohlen mitfühlenden Blick zu und reichte mir die Hand. »Mach's gut, Junge«, sagte er schwerfällig und ging zurück zu seinem Karren, von dem ein Knecht inzwischen die für die Kronstadt bestimmten Getreidesäcke auf Senns Wagen umgeladen hatte. Er winkte mir noch einmal zu, dann rollte sein Karren vom Hof, den Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich stand mit meinem Bündel etwas verloren in Senns Hof herum. Er kommandierte derweil seine schwitzenden Knechte herum, biß zwischendurch in ein Brot, das mit einem halben Schwein belegt war, soff den Ertrag eines mittelgroßen Weinbergs aus und fluchte, daß mir angst und bange wurde. Ich hatte in meinem Leben von meinen Lehrern und Freunden einiges an deftigen Flüchen zu hören bekommen, aber dieser Mann entlarvte beide im nachhinein als saftlose Knäblein und blutige Anfänger in dieser edlen Kunst. Vielleicht würde diese Fahrt doch noch ganz lehrreich werden – falls ich sie heil überstand.

Endlich war alles zu seiner Zufriedenheit geregelt, er stieg auf den ächzenden und unter seinem Gewicht protestierenden Kutschbock und winkte mir ungeduldig zu. »Was ist, Bürschchen? Brauchst du eine Einladung?«

All meinen Befürchtungen zum Trotz wurde es ein unterhaltsamer Tag. Senn hatte keine Probleme mit meiner Stummheit, er sprach für uns beide. Zwischendurch trank er aus einem gutgefüllten Weinschlauch, den er mir immer wieder anbot, und sang mit erstaunlich wohlklingender Stimme erstaunlich schlüpfrige Lieder, die ich mir für den Fall merkte, daß ich irgendwann einmal wieder Tom über den Weg laufen sollte. Er würde sie zu schätzen wissen, da war ich sicher. Ich war inzwischen ganz und gar nicht mehr nüchtern, hatte ich doch noch nie etwas Berauschenderes als Apfelwein zu mir genommen – und auch den nie in solchen Mengen.

Zum ersten Mal in meinem Leben betrunken, schlief ich in dieser Nacht auf dem Karren, meinen Kopf auf mein Bündel gebettet. »Schrei, wenn Diebe kommen«, hatte Senn grinsend gesagt, ehe er, anscheinend noch genauso nüchtern wie am Morgen, mit schweren Schritten in der Schänke verschwand, vor deren Tür wir zur Nacht Halt gemacht hatten.

Ich wurde früh wach, geweckt von meinen rebellierenden Eingeweiden. Ich erbrach gründlich alles, was ich zuvor getrunken hatte, stolperte zum Brunnen und steckte meinen dröhnenden Kopf in einen Eimer mit eisig kaltem Wasser. Tropfend, mit geschwollenen Augen, blinzelte ich in meine Umgebung. Neben mir auf dem Brunnenrand saß Magramanir und sah mich spöttisch an.

»Na, mein Kleiner? Ein bißchen gebechert gestern?« zog Julian mich auf. Ich ächzte nur. Magramanir legte den Kopf schief. »Sprichst du immer noch nicht mit mir?« fragte er. Ich deutete verzweifelt auf meinen Mund und schüttelte heftig den Kopf. »Ja, das habe ich ja nun begriffen«, klang es etwas ungeduldig aus dem Schnabel. »Erspare mir bitte weitere mittelmäßige Pantomimen. Wie stellst du dir also jetzt unsere Verständigung vor?« Ich hob die Schultern. Sollte er sich doch den Kopf darüber zerbrechen; wer von uns beiden war denn hier der Magier? Magramanir stieß ein höhnisches Keckern aus und spreizte abflugbereit die Flügel.

»Einen Augenblick Geduld noch, Mag«, sagte Julian gereizt. »Hör zu, Elloran, ich lasse mir irgend etwas einfallen. Kommst du einstweilen auch so klar?« Ich nickte ernüchtert. 

Magramanir, erleichtert, daß sie nicht mehr stillsitzen mußte, schwang sich auf und verfolgte einen erschreckten kleinen Spatzen. Ich blieb neben dem Brunnenrand hocken und lehnte meinen schmerzenden Kopf an die kühlen Steine. So fand mich etwas später Senn, der mich zum Frühstück holen wollte. Um ihn nicht zu verletzen, zwang ich ein paar Mundvoll Nußbrei herunter, wobei er mich breit lächelnd beobachtete.

»Du verträgst nicht viel, Bürschchen«, dröhnte er und klatschte mir auf den Rücken. Das hätte fast zur Folge gehabt, daß mir mein spärliches Frühstück wieder aus dem Gesicht gefallen wäre, aber es gelang mir, mich zu beherrschen. Ich fühlte mich ohnehin schon blamiert genug. »Egal, das lernst du schon noch!« Es klang fast drohend. Ich nickte blaß und war froh, wieder auf dem Karren sitzen zu dürfen.

Dieser Tag war genau wie der vergangene, mit dem Unterschied, daß ich, durch Schaden klug geworden, den dargebotenen Weinschlauch verschmähte und mich an meinen Wasservorrat hielt. Senn lenkte mich mit weiteren Kostproben seines unerschöpflichen Repertoires an schmutzigen Liedern und obszönen Geschichten von meinen revoltierenden Eingeweiden ab. Ich hörte ihm aufmerksam zu. Der Himmel mochte wissen, wofür ich all das einmal würde brauchen können.

Am späten Nachmittag, während gerade die deftige Geschichte von der Bauersfrau, die von ihrem Mann mit dem Knecht im Heu erwischt wurde, ihrem unvermeidlichen Höhepunkt zusteuerte, rollten wir über die westliche Brücke nach Kronstadt hinein. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben so viele Menschen auf einem Fleck versammelt gesehen, noch nicht einmal an den Markttagen von Corynn. Auf der gemauerten Brücke drängten sich Karren wie der Senns neben Fußvolk mit Handwagen und Vieh, dazwischen bahnten sich staubbedeckte Reiter mühsam ihren Weg. Weit vor uns blitzten Speerspitzen, und farbige Banner flatterten in der Luft; das mußte die Eskorte eines hochgestellten Herren sein. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, der sich noch steigerte, als wir uns schrittweise dem Stadttor näherten. Neben unserem Karren fluchte ein dunkelhäutiger Reiter in der weichen Mundart von Olyss. Er trug den hellen Mantel eines Boten und sah erschöpft aus. Es waren überhaupt erstaunlich viele Fremde hier. Hinter uns rollte eine kleine, geschlossene Kutsche mit dem Wappen eines norrländischen Adligen und einem grobknochigen, weißblonden Kutscher auf dem Bock. Das edle Paar Grauschimmel, das die Kutsche zog, war sichtlich ermüdet und verstört von all dem Lärm und dem Getriebe rundum.

Stückchen für Stückchen rückten wir dem Stadttor näher. Die Kronstadt war von einer rötlichgrauen, mehrere Meter hohen und sicherlich mannsdicken Steinmauer umgeben. Das Tor, dem wir uns näherten, besaß riesige Torflügel aus Eisenholz, die wahrscheinlich nur durch den vereinten Krafteinsatz mehrerer starker Männer bewegt werden konnten. Allerdings wiesen alle Anzeichen darauf hin, daß das in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal vorgekommen sein konnte: Die Angeln waren moosbedeckt, niedriges Gebüsch wucherte im Türspalt, und roter Efeu rankte sich an dem rissigen, dunklen Holz empor und breitete sich auf der Stadtmauer aus.

Vor lauter Gaffen und Staunen hatte ich inzwischen den Anschluß an Senns Geschichte verpaßt. » ... sagte die Bäuerin: ›Wenn ihr euch so anstellt, dann hole ich mir eben den Stier!‹« schloß er gerade triumphierend und brach in brüllendes Gelächter aus. Ich grinste höflich und stieß ihn in die Seite. Immer noch lachend, blickte er auf meinen ausgestreckten Finger und dann auf das, worauf ich deutete. Zwei Wachsoldaten standen am Tor und kontrollierten Papiere und Gepäck der Reisenden.

Senn hörte auf zu lachen und zog die Stirn kraus. »Seltsam«, brummte er. »Ich bin hier noch nie angehalten worden.« Er grinste wieder. »Wahrscheinlich die allerneueste Art, das Stadtsäckel zu füllen, wart's nur ab. Sie werden uns irgendeinen Zoll abknöpfen.« Ich seufzte. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Hoffentlich reichten meine spärlichen Mittel dafür aus.

Senn sah mich verständnisvoll an. »Keine Sorge, Bürschchen. Ich bring dich schon rein in die Stadt. Wäre doch schade, wenn deine Großeltern umsonst auf dich warteten.«

Nach einer endlosen Spanne des Wartens, Vorrückens, Weiterwartens, die Senn uns zum Gaudium aller Umstehenden mit einer Auswahl seiner unanständigsten Lieder verkürzte, waren wir endlich auch an der Reihe. Der Wachsoldat, der auf uns zutrat, war schlecht rasiert und trug eine nicht sehr saubere und nachlässig geschlossene Uniform. Nikal wäre hochgegangen wie ein Feuerwerkskörper, wenn einer seiner Männer es gewagt hätte, seinen Dienst so anzutreten.

»Papiere?« fragte der Soldat gelangweilt. Senn reichte ihm einige zerfledderte, zusammengefaltete Blätter. Der Mann überflog sie und gab sie mit einem Nicken zurück. »Was transportierst du, und für wen ist deine Ladung bestimmt?« fragte er weiter. Während Senn antwortete, musterte ich die Umgebung. Ich wurde erst wieder aufmerksam, als der Soldat mich etwas fragte. Ich sah ihn hilflos an und hob die Schultern.

»Er ist stumm«, sagte Senn eilig. Einige Münzen wechselten unauffällig ihren Besitzer. »Mein Enkel Iakov, der Älteste von Hana, meiner zweiten Tochter.« Er begann, dem Soldaten meine gesamte Lebensgeschichte vorzulügen. Der Mann hob gequält die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Ihr könnt passieren!« Senn ließ den Karren anrollen. Ich legte meine Hand auf Senns Schulter und drückte sie dankbar. Er sah mich an, mit einem Ausdruck gelinder Verwirrung in den Augen.

»Er hat keinen Wegezoll verlangt«, sagte er überrascht. »Was soll der ganze Aufwand, wenn sie kein Geld von Leuten wollen?« Kopfschüttelnd sah er wieder geradeaus. »Wo soll ich dich denn nun absetzen?« fragte er nach einer Weile. Wir rollten durch eine enge Gasse im Gerberviertel. Ich hielt mir seit geraumer Zeit die Nase zu und wedelte unbestimmt mit meiner freien Hand. Er lachte polternd.

»Hauptsache, nicht hier, richtig? Keine Angst, dein empfindliches Näschen wird keinen bleibenden Schaden davontragen. Gleich sind wir am Markt. Weißt du, wo deine Großeltern wohnen?« Ich nickte. »Findest du alleine hin?« Ich bejahte wieder. »Gut, dann setze ich dich am Markt ab. Ist dir das recht?« Mir war alles recht, wenn nur dieser infernalische Gestank endlich aufhörte.

Kurz darauf erreichten wir den Marktplatz. Der umfaßte schätzungsweise die Fläche von Burg Salvok – samt Dorf und Weiher. Ich glotzte schon wieder wie ein Schaf in die Runde. Wenn die Kronenburg ähnlich gigantische Ausmaße hatte wie diese Stadt, dürfte es einige Zeit in Anspruch nehmen, meine Großmutter dort ausfindig zu machen. Vor allem – und jetzt wurde mir heiß und kalt vor Schreck – wo noch immer kein einziges Wort über meine Lippen kommen wollte.

Senn ließ mich absteigen und reichte mir seine riesige Pranke zum Abschied. »War nett mit dir, Bürschchen. Endlich mal einer, der mir zugehört hat, ohne mich ständig zu unterbrechen!« Unter seinem dröhnenden Gelächter entfernte sich der Karren, und ich stand mitten auf dem riesigen, wimmelnden Platz.

Ziellos ließ ich mich treiben, mitgezogen von der sich drängenden, schiebenden Menge. Die Rufe der Händler, die ihre Waren anpriesen, das Schwatzen und Lachen und Schimpfen der Schaulustigen, darüber das pausenlose Brüllen, Meckern, Gackern und Schreien der zum Kauf angebotenen Tiere, all das schlug über mir zusammen, vermischte sich mit tausend Gerüchen, angenehmen und solchen, die die Nase beleidigten. Exotische Gewürze, Blut und Stallmist, gebratenes Fleisch, ungewaschene Körper, menschlicher und tierischer Urin, Duftwässer und Blumen, frische Früchte, faulende Abfälle ... mir wurde schwindelig unter diesem Ansturm von Gerüchen, Farben und Geräuschen. Mein Magen begann zu protestieren und erinnerte mich daran, daß ich heute außer einem eher symbolischen Frühstück und sehr viel Wasser noch nichts zu mir genommen hatte. Ich kramte in meinem Beutel und zählte meine Barschaft. Es war nicht viel, aber für eine Mahlzeit und ein oder zwei Übernachtungen in einem billigen Gasthof sollte es eigentlich reichen. Ich sah mich auf dem Platz um und ließ mich schließlich von meiner Nase führen. Am Stand einer rundlichen, unordentlichen Raulikanerin erstand ich einen großen Napf mit dickem Eintopf und dazu ein noch ofenwarmes Fladenbrot. Ich zog mich auf ein niedriges Mäuerchen zurück und verschlang gierig das heiße, wohlschmeckende Essen. Dann wischte ich gesättigt den Napf mit dem letzten Stück Brot sauber und brachte ihn zurück an den Stand. »Noch einen Nachschlag, junger Mann?« fragte die Händlerin, doch ich lehnte dankend ab.

So gestärkt bummelte ich weiter über den Markt, bis es dämmerte und die ersten Laternen angesteckt wurden. Es wurde Zeit, mich um einen Schlafplatz zu kümmern. Und morgen – morgen die Burg.

Nach einer unruhigen Nacht auf einer harten Pritsche mit einem genau wie der Marktplatz vor allerlei Leben wimmelnden Strohsack war ich froh, an einer Bude im Stehen einen Becher Tee und eine Schüssel Hirsebrei mit gedörrten Früchten zu mir nehmen zu können. Der Schlafplatz in dem schmutzigen Gasthof war erheblich kostspieliger gewesen, als ich gehofft hatte, und meine Reserven waren nun so gut wie aufgebraucht. Eine weitere Übernachtung würde ich mir nicht leisten können, also sollte ich jetzt besser schleunigst meine Großmutter ausfindig machen. Ich schulterte mein Bündel und verließ den Platz. Munteres Begrüßungsgeschrei ließ mich anhalten und auf Magramanir warten, die es sich kurz darauf auf meiner Schulter bequem machte.

»Also«, begann Julian zögernd zu sprechen, »ich hätte da möglicherweise eine Lösung für dein kleines Problem.« Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen. Magramanir putzte sich in aller Ruhe, und mit einem Schnabel voller Federn konnte anscheinend sogar Julian nicht sprechen.

Endlich fuhr er fort: »Ich habe mich bei meinen Kollegen ein wenig umgehört. Da gibt es eine Frau in der Burg, die du aufsuchen könntest. Sie ist eine von denen, die unseren Botenvögeln ihre Sprache verleihen.« Magramanir sah mich stolz an. »Vielleicht kann sie dir helfen, deine Stimme wiederzufinden. Ihr Name ist Leonie.« Magramanir pickte mich ins Ohrläppchen und flatterte fort. Der Markt und seine streng riechenden Angebote wirkten sicher unwiderstehlich auf den kleinen Räuber.

Zumindest ein Hoffnungsschimmer. Ein wenig mehr hätte mir Julian allerdings schon über diese Frau namens Leonie erzählen können. Wie sollte ich sie finden, wenn ich nichts von ihr wußte als ihren Namen?

Der Aufstieg zur Burg war mühselig. Es dauerte eine gute Stunde, bis ich den Fuß des Burgberges erreicht hatte. Soweit ich es überblicken konnte, war die Kronstadt rund um den Burgberg gewachsen, so daß er jetzt mitten in der Stadt lag wie das Dotter im Ei. An der steilen Flanke des Bergs zogen sich Gebäude hoch, zumeist kleine, ärmlich wirkende Katen. Ich folgte den Serpentinen der Straße bis unter die ragenden Mauern der Burg. Gegen diese mächtigen Steinwälle wirkten die Mauern meines heimatlichen Salvok wie die armseligen Hügel einer kindlichen Sandburg. Abweisend standen sie über mir und schienen den Himmel selbst herauszufordern. Durch den Anblick kleinmütig geworden, trat ich schließlich an das hausbreite Tor und pochte mit der Faust dagegen. Eine entmutigende Ewigkeit später öffnete sich über meinem Kopf eine kleine Luke. Ein Wachsoldat fragte mich gelangweilt nach meinem Begehr. Ich bedeutete ihm, daß ich stumm sei und gerne die Burg betreten hätte. Er musterte mich abfällig von oben bis unten und antwortete nicht unfreundlich: »Bettler werden auf der Burg nicht gerne gesehen. Du hast doch bestimmt keine Einladung von der Krone, oder?« Er lachte über seinen Witz und schloß mit einem endgültigen Knall die Luke hinter sich.

Enttäuscht hockte ich mich in den Schatten der Mauer. Doch, ich hatte eine Einladung der Krone – oder besser gesagt, ich hätte sie gehabt, hätte mein Vater sie nicht vor meinen Augen zerrissen. Ich rappelte mich auf und begann, um die Burgmauer herumzuwandern. Mich trieb die irrationale Hoffnung, irgendwo ein Schlupfloch zu finden, durch das ich die Burg auf anderem Weg betreten konnte. Erschöpft und ernüchtert hatte ich gegen Abend meinen Ausgangspunkt wieder erreicht, um nichts reicher als einige Blasen an den Füßen und keinen Schritt weiter als am Morgen. Geschlagen schleppte ich mich in die Kronstadt zurück, mit der Aussicht auf eine Nacht unter freiem Himmel.

Ich fand schließlich einen halbwegs geschützten Platz unter dem vorspringenden, tiefgezogenen Dach an der Seitenwand einer Schankwirtschaft, fegte dort den gröbsten Unrat beiseite und rollte mich auf dem Boden zusammen, mein Bündel unter dem Kopf. Glücklicherweise war es immer noch spätsommerlich warm, obwohl wir uns bereits in der ersten Woche des Herbstes befanden. Eigentlich war dieser Schlafplatz sogar noch besser als der der letzten Nacht: hier gab es entschieden weniger Ungeziefer, die Luft war besser, und er kostete mich keinen Pennych. Morgen würde ich erneut versuchen, in die Kronburg zu kommen. Es mußte einen Weg geben, und ich würde ihn finden!

Ich konnte erst eine oder zwei Stunden geschlafen haben, als jemand mich heftig wachrüttelte. Verwirrt blinzelte ich in das Licht einer Fackel und wollte Tom fragen, was los sei. Erst als ich die röchelnden Laute aus meinem Mund kommen hörte, fiel mir wieder ein, wo ich war. Ein fremdes, bärtiges Gesicht blickte mich an. Als meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sah ich, daß es einem Mann in der dunkelbraunen Uniform der Stadtwache gehörte.

»Bist du krank?« fragte er als erstes besorgt. Das mußten ihm die tierischen Laute aus meiner Kehle nahegelegt haben; ich schüttelte schnell den Kopf und zeigte meine übliche Pantomime. Sein Gesicht entspannte sich, und er lächelte sogar ein wenig. »Du kannst hier nicht schlafen«, sagte er. »Hast du kein Zuhause? Eltern? Familie? Einen Dienstherrn?« Ich schüttelte auf jede seiner Fragen den Kopf. Sein Gesicht wurde immer bedenklicher. »Ich muß dich auf die Wache mitnehmen«, sagte er. »Vagabunden und Bettler sind hier in der Stadt nicht gerne gesehen.« Das hatte ich heute schon einmal zu hören bekommen. Ich stand also auf und folgte dem Soldaten, der sich mein Bündel unter den Arm geklemmt hatte – wahrscheinlich, damit ich nicht auf den Gedanken kam, durchzubrennen. Den Rest der Nacht verbrachte ich in einer engen, schmutzigen Zelle der Stadtwache, wo ich dem Komfort und der frischen Belüftung meines vorherigen Quartiers nachtrauerte. Meine Zellengenossen rochen alle ähnlich betäubend wie der große Marktplatz. Die dicke Luft und dazu das ständige Ächzen, Schnarchen, Murmeln und Rascheln der Männer und Frauen um mich herum ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Zerschlagen und übernächtigt stand ich in aller Frühe vor einem zerknautscht aussehenden Offizier der Wache, der mich äußerst mißmutig musterte, während er seinen Tee trank.

»Streuner, Beutelschneider, Einbrecher, nicht gemeldeter Lustknabe?« fragte er. Ich sah ihn verständnislos an. Er schnaubte ungeduldig. »Bursche, erspar uns beiden doch bitte dieses Theater. Du bist doch nicht zum ersten Mal aufgegriffen worden. Was war bisher gewöhnlich der Grund? Hast du jemandem die Taschen ausgeräumt oder bist du in ein Haus eingestiegen ...« Ich öffnete empört den Mund und schloß ihn gleich wieder. Dann schüttelte ich heftig den Kopf. Er sah mich aus blutunterlaufenen Augen müde und angewidert an und knallte dann ein Blatt Papier auf den Tisch. »Gut, wenn du darauf bestehst, dann eben auf die umständliche Tour. Glaub bloß nicht, daß dir das irgendwie helfen wird! Name?«

Ich führte erneut meine Pantomime auf. Langsam begann mir meine Sprachlosigkeit wirklich lästig zu werden. Der Offizier warf mir einen fassungslosen Blick zu und vergrub dann den Kopf in den Händen.

»Auch das noch«, hörte ich ihn dumpf stöhnen. Ich tippte ihm auf die Schulter und wies auf das Papier unter seiner Hand. Er blickte mich begriffsstutzig an. Ich griff nach der Feder, die auf dem Tisch lag und deutete wieder auf das Papier. Er verstand und sah tatsächlich etwas freundlicher aus.

»Na, wenigstens etwas«, sagte er gnädig und schob mir Papier und Tintenfaß hin. »Also noch mal: Name?« Ich tat ihm den Gefallen und kritzelte meinen Namen auf das Blatt. Dann fügte ich ungefragt hinzu: Ich bin der Enkel der Herrin von Kerel Nor. Bitte benachrichtige meine Großmutter, daß ich hier bin. Ich schob ihm das Blatt hin und sah zu, wie er die Nachricht las. Er hob den Kopf und sah mich verblüfft an. Dann legte er den Kopf in den Nacken und schrie vor Lachen.

»Junge, das ist wirklich die unverschämteste Lüge, die mir hier je serviert worden ist, und ich habe in meinem Leben einige zu hören bekommen«, keuchte er schließlich und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Das ist wirklich zu stark!« Er schneuzte sich und zerknüllte das Papier. »Moriss!« Ein älterer, grämlich dreinblickender Soldat trat ein und salutierte nachlässig. »Bring den Jungen hier ins Arbeitshaus. Streunerei, drei Neunwochen.«

Das Arbeitshaus lag auf der anderen Seite der Stadt. Mir knurrte heftig der Magen, während ich neben Moriss hertrottete.

»Du hast Hunger, hm?« brummte er. Ich nickte beschämt, und er setzte wortlos seinen Weg fort. Wir kamen an einer Garküche vorbei, aus der es verlockend roch. Er sah mich von der Seite an und zuckte mit den Schultern. »Ich hab auch noch nicht gefrühstückt«, sagte er. »Also rein mit dir.« Er schob mich durch die Tür und setzte sich mit mir an einen der langen Tische. Bei einer adretten Schankmaid bestellte er einen Humpen Bier für sich und eine Portion Suppe und Brot für mich. Ich aß wie nach einem Tag auf Ulivs Feldern. Als wir wieder auf der Straße waren, versuchte ich ihm zu erklären, daß ich noch Geld im Bündel hatte und ihm mein Frühstück bezahlen wollte. Er knurrte nur: »Laß gut sein, Junge. Spar dir deine paar Pennychs für Notzeiten auf.«

Im Arbeitshaus, einem heruntergekommenen zweistöckigen Bau in der Nähe des Marktplatzes, wurden mir zuerst meine Sachen abgenommen, und ich bekam die Anweisung, mich gründlich zu waschen. Der untersetzte Bursche, der mich dabei beaufsichtigte, beäugte mich neugierig, während ich mich im Hof abschrubbte.

»Von deiner Sorte hatten wir schon lange keinen mehr hier«, sagte er. »Weswegen haben sie dich gegriffen?« Es hing mir inzwischen zum Halse heraus, aber ich machte erneut meine stumme Erklärung. Er nickte und grinste. »Pech für dich. Dann kommst du hier wahrscheinlich nicht so schnell raus.« Er erklärte mir nicht, was er damit meinte. Ich stieg in die groben, kratzigen und erstaunlich sauberen Kleider, die er mir gab und folgte ihm zum Leiter des Arbeitshauses. Der hatte inzwischen Moriss' Bericht in Empfang genommen und mein Bündel durchsucht. Er drehte den Beutel mit dem halben Krontaler und den drei Pennychs, die mir noch geblieben waren, in den Händen und fragte: »Wo hast du die her?«

»Er ist stumm«, warf mein Begleiter hilfreich ein. Der Mann hinter dem Tisch warf ihm einen vernichtenden Blick zu und würdigte ihn keiner Antwort. »Also?« fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf und deutete auf meine Brust. Er warf den Beutel auf den Tisch und beugte sich zu mir herüber. Sein nach Zwiebeln riechender Atem strich über mein Gesicht, und ich mußte mir alle Mühe geben, nicht zurückzuweichen.

»Hör zu, Bursche. Symyn da drüben«, der stämmige Bursche grinste mich an, »wird dir erklären, wie du dich hier bei uns zu verhalten hast. Du wirst dich an die Hausordnung halten und ohne zu widersprechen – ich meine, ohne dich zu weigern – alle Arbeit tun, die man dir aufträgt. Du kannst lesen und schreiben, sagte Moriss?« Ich nickte. »Gut. Vielleicht finde ich sogar Arbeit für dich. Aber rechne lieber nicht damit. Es gibt auch so genug zu tun. Jetzt packt euch!«

Ich folgte also notgedrungen dem Jungen Symyn, der mich durch das Haus führte und dabei pausenlos redete. »Hier ist deine Pritsche«, zeigte er mir und grinste. »Neben meiner; gut, näh?« Ich grinste zurück, er war mir irgendwie sympathisch in seiner unkomplizierten Art. Er runzelte die Stirn, daß seine struppigen braunen Haare sich sträubten. »Wie heißt du eigentlich? – Ach, scheiße, ja«, winkte er ab, als ich ihm nur einen entnervten Blick zuwarf. »Weißt du was?« Er grinste schon wieder. »Ich nenne dich ›Roter‹, jepp?« Ich verdrehte die Augen, aber was sollte ich dagegen machen? Es hätte ihm auch noch Dümmeres einfallen können.

Die Hausordnung war streng, aber nicht übertrieben grausam. Die Arbeiten im Haus wurden gleichmäßig auf alle Insassen verteilt, ihrem Alter und ihren Fähigkeiten angemessen. Mit mir lebten zur Zeit noch zwanzig andere Jungen zwischen sieben und sechzehn Jahren hier. Symyn erklärte mir, daß es noch vier oder fünf andere Arbeitshäuser in der Stadt gab. Eines davon war den Mädchen vorbehalten, die anderen beherbergten ebenfalls Jungen, die aus irgendwelchen Gründen in der Stadt aufgegriffen worden waren; sei es, daß sie kein Zuhause hatten oder wegen irgendeines Vergehens. Ich erfuhr, daß sechzehn das Höchstalter für einen Aufenthalt in einem der Arbeitshäuser darstellte. Erwachsene landeten entweder im Gefängnis oder in einem Arbeitslager außerhalb der Stadt, wo sie zur Feldarbeit herangezogen wurden oder in einem der Steinbrüche schuften mußten. Die Jungen in den Arbeitshäusern wurden für allerlei Arbeiten an die Bürger der Stadt und der Burg vermittelt. Dafür zahlten die Dienstherren dem Arbeitshaus eine Art Mietgebühr, die als Beitrag zu Kleidung und Verpflegung verwandt wurde. Manchmal konnte ein Junge das Arbeitshaus auch ganz verlassen, wenn der Dienstherr ihn fest in Brot und Lohn nahm. Die Arbeitshäuser waren ganz sicher eine sehr vernünftige, gut durchdachte Einrichtung, die ich noch weit mehr hätte bewundern können, wenn ich nicht selbst in einem von ihnen festgesteckt hätte.

In den folgenden Wochen fügte ich mich zähneknirschend in mein Schicksal und fegte den Hof, tat Küchendienst, schrubbte die Böden, reparierte baufällige Mauern und versuchte zu vergessen, daß mir die Zeit davonlief. Wenn meine Großmutter erst nach Kerel Nor zurückgekehrt war, standen meine Chancen äußerst schlecht, hier noch vor dem Frühjahr herauszukommen. Es hatte sich mir noch keine Gelegenheit geboten, das Haus für eine Arbeit zu verlassen. Alle anderen Jungen waren in der Zeit, in der ich hier war, schon mehrfach für kürzere oder längere Zeit draußen gewesen. Jetzt erst begriff ich Symyns Äußerung, daß ich hier so bald nicht herauskäme. Anscheinend legte kein Dienstherr Wert auf einen Stummen. Es sah so aus, als würde ich meine Strafe hier im Haus absitzen müssen.

Anfangs schmiedete ich noch Fluchtpläne. Aber das war reine Spielerei, um mich abzulenken; die Fenster waren allesamt fest vergittert und der Hof war von einer übermannshohen Mauer umgeben. Selbst wenn ich mich mit allen Kräften bemühte, die obere Kante mit einem Sprung zu erreichen, trennte meine Fingerspitzen immer noch ein guter Meter von der Mauerkrone. Die Eingangshalle durften wir nur in Begleitung eines Betreuers betreten; wer dort ohne Erlaubnis erwischt wurde, wurde schwer bestraft. Symyn, der einschlägige Erfahrung besaß – nicht nur in diesem Haus – verriet mir außerdem, daß die Eingangstüre ständig verschlossen und verriegelt war.

Zu all den äußeren Hindernissen kam meine schreckliche Stummheit. Ich hatte inzwischen alle Hoffnung aufgegeben, daß dieser Zustand wieder vorübergehen könnte. Der Gedanke kaufte mir nach und nach allen Schneid ab. Ohne Schrecken stellte ich fest, daß ich mich mit allem abzufinden begann. Ich fügte mich in das eintönige, stumpfe Leben des Arbeitshauses, als hätte ich niemals etwas anderes gekannt oder erhofft. Symyn, der einzige, der sich mit mir stummem Fisch abgeben mochte, verließ das Haus zum Ende des Herbstes, weil sein Dienstherr ihn behalten wollte. Von da an war ich völlig isoliert. Ich konnte mit keinem der anderen reden, und die anderen hatten keine Lust, sich in einseitige Unterhaltungen mit mir zu stürzen. Also blieb ich für mich und vergaß beinahe, wie es war, sich mit anderen Menschen in menschlicher Sprache auszutauschen.

Ich hörte auf, die Tage zu zählen, die ich hier schon festsaß und sah wie alle anderen zu, daß ich meinen gerechten Anteil an den Mahlzeiten bekam – wenn möglich, auch etwas mehr als das, denn die Verpflegung war kärglich – und mir meinen Schlaf zu holen, wann immer sich mir eine Gelegenheit bot. In dieser Zeit lernte ich, zu jeder Tageszeit, in jeder Haltung und von einer Sekunde auf die andere mit offenen Augen einzuschlafen und sofort wieder hellwach zu sein, wenn etwas in meiner Umgebung es erforderte.

Die Nachrichten von draußen kümmerten mich immer weniger. Ich lauschte zwar hin und wieder noch den Erzählungen der anderen, aber die Außenwelt war zu einem verschwommenen Bild für mich geworden: etwas, das es vielleicht sogar geben mochte, das aber unerreichbar und damit reizlos für mich geworden war. Noch nicht einmal die Gerüchte über einen drohenden Krieg zwischen den Kronstaaten und S'aavara vermochten meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Abgestumpft wanderte ich durch die Gleichförmigkeit der Tage. Dieser eintönige Trott erfuhr erst irgendwann gegen Anfang des Winters seine Unterbrechung, als eine Welle von Erkrankungen durch die Stadt ging, wie einer der gerade zurückgekehrten Jungen berichtete. Fast ein Drittel der Stadtbewohner litten an einem lästigen Fieber, das zwar nicht tödlich war, die Betroffenen aber für längere Zeit ans Bett fesselte. Nur dank unserer Abgeschlossenheit von der Außenwelt waren wir bisher davon verschont geblieben.

Eines Mittags in der Viertwoche des Hohen Winters betrat ich das Zimmer des Leiters. Er hatte mich rufen lassen, das erste Mal, seit ich hier war. Aber noch nicht einmal dieses einmalige Ereignis riß mich aus meiner grausamen Lethargie. Gleichgültig blieb ich an der Tür stehen und hörte die letzten Worte mit an, die der unauffällig gekleidete, ältere Mann, der neben dem Tisch saß, mit einer sanften, kultivierten Stimme äußerte.

»Es ist wirklich zu ärgerlich.« Er hielt einen Becher mit Würzwein in der gepflegten Hand und führte ihn geziert an seinen kleinen, weichen Mund. Sein rundes Gesicht gab sich alle Mühe, ergrimmt auszusehen, aber das gelang ihm nur unzureichend. »Dieses idiotische Fieber hat mir meine Schreibstube so gut wie entvölkert. Und das zu einer Zeit, in der wir uns vor Arbeit nicht retten können!« Er seufzte affektiert auf. Ich konnte ihn mir nur zu gut als wohlhabenden Kaufmann vorstellen, der in seinem Kontor saß und Zahlenkolonnen addierte. Er stellte den Becher ab, faltete die rundlichen Hände über seinem gemütlichen Spitzbauch und sah zu mir herüber.

»Ist das der Junge?« fragte er, während er mich aus wäßrigblauen Augen kurzsichtig anblinzelte. Der Leiter bestätigte das. Der Besucher fuhr sich nachdenklich durch das schütter werdende graue Haar. »Ja«, sagte er zögernd, »das ist natürlich schön, daß er lesen und schreiben kann. Aber stumm ...« Er ließ das Doppelkinn auf die Brust sinken und hauchte nachdenklich einen protzigen Siegelring an, den er am linken kleinen Finger trug.

»Wäre das denn nicht sogar von Vorteil bei einem Schreiber in Euren Diensten, domu?« beeilte sich der Leiter zu sagen. Ich bemerkte mit neuerwachendem Interesse die formelle Anrede, die er dem Besucher gegenüber verwendete, und besah mir den Mann genauer. Er war klein und korpulent, wenn auch nicht eigentlich fett. Er glich einem üppigen, einladend weich gepolsterten Diwan: eine harmlose Erscheinung, die eher zu einem untergeordneten Beamten paßte als zu einer Persönlichkeit von höherer Stellung, wie die förmliche Anrede des Leiters vermuten ließ.

Augenscheinlich hatte der Besucher sich inzwischen entschieden. Er griff nach dem schlichten Stock, der neben seinem Stuhl lehnte, stemmte sich auf die Füße und zog umständlich sein hellgraues Wams über dem fülligen Leib zurecht.

»Gut, mein Lieber, ich nehme ihn mit. Etwas anderes bleibt mir in meiner augenblicklichen Lage ohnehin nicht übrig.« Er zog ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor und betupfte seine Nase damit. »Hol's der Teufel, ich fürchte, jetzt habe ich mich auch noch erkältet!« schniefte er und hinkte, schwer auf den Stock gestützt, auf mich zu. »Wie ist dein Name – ach, ich vergaß!« Er blickte fragend zu dem Leiter zurück, der eilfertig in den Papieren auf seinem Tisch blätterte.

»Wo hatte ich denn ... Hier, domu Karas: Er heißt Elloran. Ein fleißiger, fügsamer Junge«, fügte er hinzu. »Er hatte einige Besitztümer, die muß ich ihm noch holen lassen, und seine Kleider ...«

Der Mann neben mir winkte ab. »Nicht jetzt, ich bin in Eile. Sei so gut und schicke mir die Sachen zur Burg hinauf.«

Zur Burg! Sollte dieser Mann wahrhaftig die Lösung meines Problems darstellen? Meine Knie wurden weich, und ich mußte kurz am Türrahmen Halt suchen. Der Mann bemerkte die flüchtige Bewegung im Augenwinkel, und sein Kopf ruckte zu mir herum. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte in seinen Augen etwas auf, das alles andere als harmlos wirkte. Dann war es aber schon vorbei und ich nahm an, mich wegen meines Schwächeanfalls in meiner Wahrnehmung getäuscht zu haben.

»Ist er etwa krank?« fragte er oberflächlich besorgt.

»Nein, keine Sorge, Kammerherr. Die Jungen sind nur alle etwas unterernährt. Ihr wißt schon, die Kürzungen im Stadtsäckel betreffen uns stark ...«

Der Kammerherr nickte verständnisvoll und etwas ungeduldig. »Ich werde sehen, ob sich da etwas für dich tun läßt«, versprach er. Der Leiter dankte dem Kammerherrn mit einem stummen Blick und half ihm in seinen Mantel. Dann reichte er mir seine Hand.

»Betrage dich anständig, Elloran, dann kannst du vielleicht auf der Burg bleiben. Ich wünsche dir alles Gute und daß wir uns nie wiedersehen müssen!« Eigenartig gerührt drückte ich seine Hand und beeilte mich, dem hüstelnden Kammerherrn zu folgen. Der Pförtner öffnete uns die Tür, und ich stand zum ersten Mal seit Wochen wieder auf einer ganz gewöhnlichen nebelfeuchten Straße. Mir kamen beinahe die Tränen. Viel Zeit für Besinnlichkeit blieb mir allerdings nicht. Der Kammerherr hinkte mir erstaunlich flott voraus und blieb neben einer unauffälligen, zweispännigen Kutsche mit dem Wappen der Krone stehen. »Zurück zur Burg«, befahl er dem livrierten Kutscher, der jetzt geflissentlich vom Bock sprang und seinem Herrn in die Kutsche half. Ich zögerte, ungewiß, ob ich mitgenommen werden würde. Der Kutscher warf mir einen verächtlichen Blick zu und wies nur mit dem Kinn auf den Bock. Gehorsam schwang ich mich darauf und ließ unauffällig den angehaltenen Atem ausströmen, als jetzt die Pferde antrabten. Insgeheim hatte ich damit gerechnet, daß jemand mich zurückhalten würde oder aber der Kammerherr es sich noch anders überlegte und mich wieder hineinschickte – aber jetzt waren wir wahrhaftig auf dem Weg, der zur Burg führte!

Wir passierten anstandslos das Tor, an dem ich vor Wochen gescheitert war, und rollten durch den äußeren Burghof zur Inneren Mauer. Dort sprang der Kutscher vom Bock und verschwand für kurze Zeit im Torhaus. Er kehrte mit einem Soldaten zurück, der diensteifrig auf die Kutsche zueilte und den Kopf hineinsteckte. Er empfing offenbar einige Anweisungen, denn er trat salutierend einen Schritt zurück und schnarrte zackig: »Zu Befehl, domu Karas!«

Wir rollten durch das aufgezogene Tor in den Haupthof der Kronenburg. Ich sperrte Mund und Nase auf und gaffte so angestrengt in die Runde, daß mir die Augen zu tränen begannen. Die mächtigen Außenmauern hatten die wahren Ausmaße der eigentlichen Burg nur schwach erahnen lassen. Gegen diese prachtvollen, gewaltigen Bauten nahm sich meine väterliche Burg aus wie ein Kaninchenbau.

Die Kutsche schwenkte elegant um einen Stallknecht herum, der drei ausnehmend edle Rösser über den Hof führte, und rollte an einer prächtigen Freitreppe vorbei, die sicher zur Haupthalle der Kronenburg hinaufführte. Vor einem der schlichteren Nebengebäude riß der Kutscher die Tür der Kutsche auf und half seinem rundlichen Herrn heraus. Ich stieg vom Bock und stand etwas verloren da. Der Kammerherr hinkte auf den Eingang zu und hatte meine Existenz augenscheinlich völlig vergessen. Erst in der Tür schien er sich meiner zu erinnern und winkte mir, ich möge ihm folgen. Ich trabte hinter ihm her in das Gebäude. Sein Stock schlug hallend auf die Steinfliesen eines von Türen gesäumten Ganges, durch den wir gingen.

»Ich führe dich zuerst zur Schreibstube«, erklärte er mir kurzatmig. »Dort wirst du von Meister Rowald in deine Arbeit eingewiesen. In der Zwischenzeit lasse ich dir eine Kammer herrichten und anständigere Kleidung besorgen. Meister Rowalds Anweisungen ist in jeder Hinsicht Folge zu leisten, hast du mich verstanden?« Ich nickte matt, geschwächt von den Aufregungen dieses Tages. Er sah mich aufmerksam an und lächelte plötzlich. Die unvermutete Wärme in seinem Blick überraschte mich nicht wenig.

»Wenn ich dich richtig einschätze, wird dir die Arbeit hier gefallen«, sagte er nüchtern, wieder so ernst und geschäftig wie zuvor. »Es ist eine gute Stelle für einen aufgeweckten jungen Mann und bietet sehr schöne Aufstiegsmöglichkeiten, wenn du dich anstellig zeigst.« Ich verbarg ein Schmunzeln. Schöne Aufstiegsmöglichkeiten in der Schreibstube waren nicht gerade das, was ich mir immer für mein Leben erhofft hatte. Dennoch fühlte ich mich von dieser unverhofften Freundlichkeit seltsam angerührt.

Wir hielten vor einer der vielen Türen, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, und der Kammerherr pochte mit dem Knauf seines Stockes dagegen. Eine dünne alte Stimme rief: »Nur herein!« Wir betraten einen weitläufigen Raum mit großen Fenstern, in dem mehrere Reihen dunkler Schreibpulte standen und dessen Wände von unzähligen Schränken gesäumt waren. Nur wenige der Pulte waren besetzt, die meisten standen verwaist und mit einer dünnen Staubschicht bedeckt da. Es war still, nur das leise Kratzen von Federn auf Papier flüsterte durch den Raum.

Gegenüber den Pultreihen stand erhöht auf einem Podest ein einzelnes Stehpult, von dem aus uns ein mageres, weißhaariges Männchen entgegenblickte. Auf seiner spitzen Nase saß ein dünnes Drahtgestell, an dem kleine, blitzende Glasscheiben befestigt waren. Neugierig fragte ich mich, wozu dieses Gerät wohl dienen mochte und was es auf der Nase hielt, aber der Kammerherr unterbrach meine müßigen Spekulationen. Er schob mich auf das Pult zu und sagte: »Dies ist dein neuer Schreiberlehrling, Meister Rowald. Er heißt Elloran.« War da eine seltsame Betonung in seiner Stimme? »Er ist stumm, aber mir wurde versichert, daß er fleißig und anstellig sei.«

Das Männchen stieß ein krächzendes Kichern aus und reichte mir eine trockene Hand zur Begrüßung. »Ein stummer Schreiber? Das ist ein Meisterstück, Karas!«

Er musterte mich mit scharfen, schwarzen Knopfaugen über die Ränder des auf seiner Nasenspitze thronenden Gestells hinweg. Ich stellte begeistert fest, daß das Ding mit Hilfe von zwei Drahtbügeln an seinen Ohren befestigt zu sein schien.

Der Kammerherr wirkte leicht verschnupft. »Es war nicht gar so einfach, überhaupt einen des Schreibens kundigen Burschen aufzutreiben, Meister Rowald«, verteidigte er sich beleidigt. »Wäre es dir lieber gewesen, einem allzu redseligen Schüler erst einmal das Alphabet beibringen zu müssen?« Die beiden Männer grinsten sich verständnisinnig an. Dann griff Meister Rowald mit einer mageren Hand nach meinem Ellbogen und schob mich zu einem der leeren Schreibpulte.

»Sehen wir uns erst einmal an, wie es um deine Handschrift bestellt ist«, sagte er und wischte mit dem Ärmel den Staub vom Tisch. Seine lange Jacke machte den Eindruck, als würde sie in dieser Weise häufiger zweckentfremdet. Der Kammerherr, vergessen und am Pult stehengelassen wie ein lästiger Bittsteller, nickte uns knapp zu und ging hinaus. Ich hörte das regelmäßige Klacken seines Stockes sich auf dem Gang entfernen. Inzwischen hatte Rowald mir Tinte und Feder bereitgelegt und ein Federmesser, einen kleinen Lappen und einige Blätter Papier, teils beschrieben, teils leer, aber bereits liniert, von einem der anderen Pulte geholt. Ich bemerkte, daß einer der Schreiber in meiner Nähe aufgehört hatte, die Feder über das Papier zu führen und zu mir hersah. Ich sah ihn an, und er nickte mir freundlich zu. Dann neigte er erneut seinen Kopf über die Arbeit. Rowald hatte seine umständlichen Vorbereitungen nun beendet und klopfte leicht mit den Fingern auf den Tisch, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Siehst du dieses Schreiben, junger Mann?« Er tippte mit seinem spitzen Zeigefinger auf ein eng beschriebenes Blatt. Ich nickte ergeben. Hielt er mich auch noch für blind? »Ich möchte, daß du es kopierst. Meinst du, daß du das kannst?« Ich nickte wieder, leicht erheitert von seinen Fragen. »Gut, dann lasse ich dich jetzt arbeiten.« Er wandte sich ab und beugte sich über die Arbeit eines der anderen Schreiber. Ich tunkte die Feder ein, strich sie säuberlich ab und schrieb:

 

Beglaubigung

Es handelte sich um ein langes, unendlich geschraubtes Elaborat aus der Feder irgendeines mit der Sprache gewöhnlicher Sterblicher offensichtlich auf dem Kriegsfuß stehenden Beamten, das mich zu Tränen langweilte. Aber ich bemühte mich, das Machwerk penibel in all seiner sprachlichen Scheußlichkeit abzuschreiben. Mir lag wenig daran, wegen Unfähigkeit oder Nachlässigkeit wieder ins Arbeitshaus zurückgeschickt zu werden. Endlich hatte ich es bis zur verschnörkelten Fußnote geschafft, legte aufatmend die Feder beiseite und blickte auf. Meister Rowald stand an seinem Pult und blickte durch die merkwürdige Konstruktion auf seiner Nase auf ein Bündel wichtig aussehender Schriftstücke in seiner Hand nieder. Von einem meinte ich, das Siegel der Krone herabhängen zu sehen. Ich hob die Hand, und er sah zu mir herüber.

»Ja? Hast du ein Problem?« Er stieg steifbeinig von seinem Podest herunter und kam zu mir. Die Hände auf den Rücken gelegt, beugte er sich über meine Arbeit, die ich ihm hingeschoben hatte. Er ruckte an dem Gestell vor seinen Augen und räusperte sich einige Male. »Hm. Hmhm. Hmmm.« Endlich blickte er auf und nickte mir ernst zu.

»Schön, sehr schön, junger Mann. Sehr ordentlich, eine gut leserliche Schrift. Und in einer durchaus angemessenen Zeit, das muß ich sagen. Ja. Das wird den Kammerherrn außerordentlich freuen.« Er räusperte sich wieder, und sein Adamsapfel rutschte den langen, faltigen Hals auf und ab. Der Schreiber, der mir eben zugelächelt hatte, sah wieder herüber und grinste breit und etwas boshaft. Dann zwinkerte er mir zu und wandte sich wieder ab. Meister Rowald hatte inzwischen das Originalschreiben und meine Kopie vom Tisch eingesammelt und mir einige weitere Blätter bereitgelegt. Dann klopfte er mir väterlich auf die Schulter und krächzte: »Immer weiter so, mein Junge. Immer weiter so.«

Es wurde dämmrig. Ein Diener entzündete die Lampen auf unseren Tischen. Das beständige Kratzen der Federn war während des ganzen Nachmittages die Grundlage gewesen, auf der das leise Hüsteln und die gelegentlichen halblauten Anweisungen des Meisters, Rascheln von Papier und Klappen von Schranktüren und die hin und wieder eintretenden Botenjungen mit zu kopierenden Schreiben die einzigen kleinen Unterbrechungen darstellten.

Ich dehnte meine verkrampften Schultern, streckte die steifgewordenen Finger meiner rechten Hand und griff gerade nach dem nächsten Blatt Papier, als ein livrierter Lakai eintrat und Meister Rowald etwas zuflüsterte. Der nickte nur und deutete auf mich. Der Lakai trat an mein Schreibpult und sagte: »Ich soll dir deine Kammer zeigen, Junge. Würdest du mir bitte folgen?« Ich blickte zu Meister Rowald hinüber, der Weisung eingedenk, die ich vom Kammerherrn erhalten hatte. Rowald winkte fahrig und rief: »Geh nur, geh. Du hast für deinen ersten Tag ein schönes Pensum geschafft. Ich sehe dich morgen wieder.« Ich wandte mich ab, um dem Lakaien zu folgen, der schon ungeduldig in der Tür stand, da ging es mir wie ein Ruck durch den Körper. Wo hatte ich die ganze Zeit meinen Verstand gelassen? Ich war in der Kronenburg, ich hatte Papier und Schreibzeug zu meiner Verfügung und hatte meine Zeit zu nichts anderem genutzt, als bürokratischen Papierkram abzuschreiben. Ich klatschte mir vor die Stirn und setzte mich wieder an mein Pult. Der Lakai sah mich mit halboffenem Mund an. Ich bedeutete ihm, ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen. Er seufzte entnervt und setzte sich an eins der leerstehenden Pulte. Ich griff eilig nach einem Bogen Papier und schrieb: Großmutter, während du das liest, bin ich hier in deiner Nähe auf der Kronenburg. Ich bin von zu Hause fortgelaufen, weil Morak mich nicht zu dir lassen wollte. Kammerherr Karas weiß, wo du mich finden kannst. Bitte, melde dich bei mir. Dein Enkel Elloran.

Ich streute Sand über die nasse Tinte, pustete ihn fort, faltete den Bogen zusammen und schrieb in säuberlichen Buchstaben ‚An Veelora Rhiantochter, Herrin von Kerel Nor’ darauf. Dann klopfte ich dem inzwischen halbwegs eingedösten Lakaien auf die Schulter und hielt ihm den Brief unter die Nase. Er blickte darauf, schüttelte den Kopf und ging damit zu Meister Rowald. Der blickte fast erschreckt auf, sichtlich verwundert, daß der Diener und ich immer noch nicht fort waren und blinzelte dann auf die Anschrift hinunter. Sein Mund formte ein erstauntes Oh! Er winkte mich zu sich und sah mich aus zusammengekniffenen Augen seltsam an.

»Was hast du mit domna Veelora zu schaffen?« fragte er. Ich zuckte die Achseln. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Na gut, es geht mich ja auch nichts an. Aber du hast Pech, die domna ist nicht mehr hier.« Mein Magen hob sich. Ich tippte verzweifelt auf meinen Brief, auf die Stelle, wo Kerel Nor geschrieben stand. Fragend öffnete ich meine Hand. Meister Rowald spitzte bedauernd die Lippen und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, mein junger Freund. Die Herrin von Kerel Nor ist als Sonderbotschafterin vor wenigen Tagen mit Säcken voller Sendschreiben, Depeschen, Beglaubigungen und Zusicherungen nach S'aavara abgereist, um den Krieg vielleicht doch noch zu verhindern. Wir haben Tag und Nacht durchgearbeitet, um alles noch rechtzeitig fertigzustellen!«

Ich deutete auf die Schreibfeder, die neben seiner Hand lag und kritzelte fahrig Leonie? auf den nutzlos geworden Brief. Möglicherweise kannte Meister Rowald ja die Frau, die Julian mir genannt hatte.

Er las den Namen und ließ seine Augenbrauen noch weiter hochrutschen. »Du pflegst ja sonderbare Bekanntschaften für einen Jungen aus dem Arbeitshaus!« sagte er erheitert und etwas ungeduldig. Dann nickte er dem hinter mir stehenden Lakaien zu, der mich am Arm packte und zur Tür drehte.

 

Betäubt ließ ich zu, daß der Diener mich wie ein Schaf aus dem Raum trieb. Er führte mich schweigend die Treppe hinauf und durch unzählige andere mit Türen gesäumte Flure in einen anderen Trakt des Gebäudes. Dort deutete er auf eine Tür und sagte: »Hier ist deine Kammer. Hat man dir schon den Weg zum Speisesaal der Bediensteten gezeigt?« 

Ich schüttelte den Kopf und merkte jetzt erst, wie hungrig ich eigentlich war. Er seufzte, murmelte etwas, wovon ich nur das Wort ›lästig‹ verstand und winkte mir, ihm zu folgen. Verzweifelt darum bemüht, mir meinen Rückweg zu merken, folgte ich seinem unwillig steifen Rücken durch weitere Flure, eine Treppe hinab und über einen kleinen Innenhof zu einer großen Halle mit unzähligen Tischen und Stühlen. Außer uns waren nur einige wenige Männer in der Livree der Krone und eine Handvoll jüngerer Frauen anwesend, bei denen es sich wahrscheinlich um Stubenmädchen oder Küchenpersonal handelte.

Mein schweigsamer Führer zeigte mir, wo ich mein Essen abholen konnte und verließ mich dann sichtbar erleichtert. Ich nahm den Teller mit Fleisch und Brot von einer dicken, mütterlich wirkenden Köchin in Empfang und zog mich damit in eine Ecke zurück, von der aus ich den Raum gut im Blick hatte. Er füllte sich jetzt langsam. Ich beobachtete die Menschen, die einzeln und in kleinen Gruppen mit Tellern und Schüsseln in den Händen an mir vorbeigingen. Nicht alle Männer trugen Livree; viele steckten in ähnlich derber Arbeitskleidung wie ich, andere waren wie Meister Rowald und seine Schreiber in unauffällige lange Jacken und dunkle Hosen gekleidet, und wieder andere, wohl untergeordnete Beamte, glichen in ihrem Äußeren dem Kammerherrn Karas, der mich hierhergebracht hatte. Die Frauen trugen langärmelige Mieder; weite, dunkle Röcke in gedeckten Farben und fast alle auch Schürzen und entweder kleine Hauben oder Kopftücher über ihrem geflochtenem Haar. Mir fiel auf, daß keiner der Männer einen Bart trug und nur sehr wenige von ihnen längeres Haar. Mit meinen inzwischen überschulterlangen, nachlässig zusammengebundenen Haaren hätte ich hier eigentlich auffallen müssen wie ein Schwein im Hühnerhaus, aber ich sah nicht, daß irgend jemand mich deswegen anstarrte.

Mit einem Mal war ich todmüde. Ich blickte auf meinen leeren Teller hinunter und konnte mich nicht erinnern, was ich eigentlich gegessen hatte, so sehr hatte mich meine neue Umgebung beschäftigt. Ich brachte den Teller zurück und machte mich daran, meinen Schlafplatz zu suchen. Nachdem ich mich zuerst in einen Teil des Gebäudes verirrt hatte, dessen Gänge statt mit Fliesen mit einem dicken Teppich ausgelegt und dessen Wände mit Stoff bespannt waren, gelang es mir endlich doch, den richtigen Flur und darin auch die augenscheinlich richtige Tür wiederzufinden. Denn als ich sie vorsichtig öffnete und hineinschaute, fast sicher, jemanden aufzustören, sah ich eine winzige, sparsam möblierte Kammer, auf deren Bett mein eigenes, weitgereistes Bündel lag. Mir kamen bei seinem Anblick die Tränen, als hätte mich in der Fremde ein alter Freund empfangen. Neben meinem Bündel lag ein kleiner Stapel Kleidungsstücke: Wäsche, zwei hellgraue Hemden und Jacke und Hose, wie sie die anderen Schreiber trugen. Ich hielt sie mir an und stellte fest, daß der Kammerherr mit einem guten Augenmaß gesegnet sein mußte: Die Kleider schienen, wiewohl eindeutig nicht neu, doch wie für mich gefertigt zu sein. Ich schob alles beiseite auf den einzigen Stuhl im Zimmer und öffnete das kleine Fenster. Die kalte Luft vertrieb für kurze Zeit den Schlaf aus meinen Augen. Ich blickte neugierig hinaus auf einen kleinen, gartenähnlichen, mit winterkahlen Bäumen und Büschen bestandenen Innenhof. Im Sommer, wenn alle die Pflanzen grün waren, mußte er einen hübschen Anblick bieten. Ob ich dann noch hier sein würde? Im Augenblick sah es allerdings nur zu sehr danach aus. Die Göttin allein wußte, wann meine Großmutter an den Hof zurückkehrte, und bis dahin konnte ich kaum etwas an meiner Lage ändern. Im Grunde mußte ich dankbar dafür sein, diese Anstellung in der Schreibstube erhalten zu haben – und sollte mich tunlichst darum bemühen, sie auch zu behalten. Über diesem wenig tröstlichen Gedanken schlief ich endlich ein: und so endete mein erster Tag in der Kronenburg immerhin mit guten Vorsätzen.