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Der Herbst, der so schön begonnen hatte, endete naß und stürmisch. Ich war zu meinen alten Beschäftigungen zurückgekehrt. Julian hatte sich in der letzten Herbstwoche endlich wieder auf Salvok eingefunden, noch eine Spur schweigsamer und menschenscheuer als zuvor. Er bestand darauf, daß ich den durch seine Abwesenheit versäumten Unterricht nachholte. Es war mir nur zu recht, wie mir alles recht war, was mich von der schmerzhaften Leere ablenkte, die Jenkas Abwesenheit verursachte. Ich vermißte sie unsagbar. Da waren Julians steigende Ansprüche an meine Fortschritte hilfreich, denn seine Lektionen ließen mir kaum Zeit für fruchtlose Grübelei.
Inzwischen durfte ich mich auch an schwierigeren Zaubern versuchen, hatte Julian aber versprechen müssen, sie vorerst nur in seinem Beisein zu üben. Das größte Vergnügen bereitete mir meine neuerworbene Fähigkeit, mich mit dem Geist eines Tieres zu verbinden und durch seine Augen zu sehen. Ich war noch nicht in der Lage, das Tierbewußtsein vollkommen zu kontrollieren, wie Julian das so meisterlich beherrschte, aber als unbemerkter Gast eines Falken mitzureisen, während er sich auf seinem atemberaubenden Flug durch die Lüfte schwang, oder mit einer winzigen Maus durch die dunkelsten Winkel der Burg zu huschen – das war spannender als alle Zauber, die ich bisher von Julian gelernt hatte.
Am Nachmittag des Purpurdornfestes – in der trüben Luft lag eine erste Ahnung von Schnee – kämpfte ich mit der Herstellung einer Geistverbindung zu meinem Lehrer. Ich hatte es in den vergangenen Tagen einige Male geschafft, einfache Bilder und einmal sogar einen ganzen Gedankensatz in sein aufnahmebereites Bewußtsein zu senden. Aber noch immer war es vom Zufall bestimmt, wann mir das gelang und wann nicht. Diese Übung war weitaus schwieriger als das Herstellen einer Verbindung mit einem tierischen Bewußtsein. Der Schweiß lief mir bei meinen Bemühungen in Strömen über das Gesicht.
Julian hatte schließlich ein Einsehen und hieß mich abbrechen. »Laß gut sein, Elloran, das führt heute zu nichts mehr. Du strengst dich zu sehr dabei an. Wir werden es morgen wieder versuchen.« Er legte seine knochigen Hände um meine Schläfen und sah mir lange und tief in die Augen. In meinen Ohren klingelte es leise, und mein Blick verschwamm. Julian ließ mich los und seufzte ungeduldig. Er wandte sich ab und hantierte mit einem Becher und einigen Tiegeln und Fläschchen herum. Dann trat er zu mir, den Becher in der Hand, und reichte ihn mir. Ich roch überrascht an dem heißen Tee und sah Julian fragend an. Er lächelte schmal und bedeutete mir, den Becher zu leeren. Folgsam schluckte ich die gallenbittere Flüssigkeit hinunter und wartete auf eine Erklärung für Julians seltsames Betragen.
Er nahm mir den geleerten Becher aus den Fingern und sagte: »Das wird dich entspannen, Elloran. Ich habe nicht gut auf dich aufgepaßt bei unseren Übungen, daher hast du dich zu sehr verkrampft. Aber ich kann dir wenigstens die Kopfschmerzen ersparen, die du sonst heute nacht erdulden müßtest.«
Ich dankte ihm für seine Besorgnis und lief die Treppe hinab und zur Halle, in der Hoffnung, dort noch Nikal auf ein Schwätzchen zu treffen. Er saß mit einigen seiner Männer in der Nähe des Feuers und ließ die Würfel rollen. Ich hockte mich neben ihn und sah zu. Es juckte mich in den Fingern, meine wachsenden Fähigkeiten der Levitation an den Würfeln auszuprobieren – sie besaßen genau die richtige Größe dafür – aber ich dachte an Julians Verbot und verzichtete voller Bedauern darauf. Die Würfel klapperten hohl und rollten über den Tisch – ich hatte plötzlich Schwierigkeiten, ihre Augenzahlen zu erkennen. Die Würfel klapperten wie Knochen; es war unerträglich heiß, so dicht neben dem Feuer. Ich bat um etwas Wasser, und meine Mutter gab mir zu trinken. Die Würfel klapperten und rollten und klapperten und tanzten über eine endlos lange graue Tischplatte. Sie wollten gar nicht mehr zur Ruhe kommen, und Jemaina wischte mir mit einem feuchten Tuch über die Stirn und flößte mir einen übelschmeckenden Absud ein. Die Würfel rollten, das Feuer loderte, und Malima saß neben mir und stopfte dicke Winterstrümpfe. Meine Zähne klapperten wie die Würfel, mir war heiß und kalt zugleich. Mutter beugte sich sorgenvoll über mich. Die Würfel tanzten vor meinen Augen einen wilden Tanz – es waren gar keine Würfel, es waren kleine hölzerne Figuren: ein König, eine Schwertfrau, ein Rabe, ein Narr mit Schellenkappe und spitzen Schuhen – Jemaina schüttelte den Kopf und sagte: »Ich weiß nicht weiter. Ich habe alle Mittel versucht, die das Fieber vertreiben, aber nichts will anschlagen.«
Ich vernahm die Antwort meiner Mutter nicht. Als der Tanz der seltsamen Figuren mich wieder etwas sehen ließ, hatte Jemaina sich wundersamerweise in Julian verwandelt. Seine kühlen Finger hielten meinen Kopf.
»Was können wir tun?« hörte ich meine Mutter fragen.
»Ich habe es erwartet«, antwortete der Magier. »Es war an der Zeit. Du mußt dich jetzt entscheiden, Ellemir.«
»Du weißt, was ich mir wünsche!«
»Dann laß mich jetzt bitte mit ihm allein.« Die Tür klappte, die Figuren schienen mich anzugrinsen, und dann war es für einen unnennbar langen Zeitraum still und dunkel um mich.
Eine Stimme rief mich aus dem Dunkel, die Stimme meiner Mutter – oder doch nicht? Ich sah ihr Gesicht vor mir, jünger, gerade so alt wie ich selbst. Ein flehender Blick aus ihren Augen traf mich, und es waren meine eigenen Augen: dunkelblau, nicht grün wie die Ellemirs.
»Hilf mir, Elloran«, erklang wieder ihre Stimme, und es war meine eigene – oder doch nicht? Ich wollte zu ihr, aber ich steckte bis zu den Hüften in eisigkaltem schwarzen Marmor und konnte mich nicht bewegen. Sie streckte ihre Hände nach mir aus, und auf ihrem verzweifelten Gesicht glänzten Tränen.
»Hilf mir doch! Sie wollen uns trennen!«
»Wer? Wer will das tun?« schrie ich. Ein schwarzer, gestaltloser Schatten griff nach ihr und ließ ihre Gestalt verschwimmen. Sie erschien mir so fremd und gleichzeitig so vertraut. Schwach drang ihre Stimme an mein Ohr: »O hilf mir doch! Du bist der einzige, der mich retten kann! Laß nicht zu, daß sie mich für immer fortschicken!«
»Wer bist du?« rief ich verzweifelt ihrer verschwindenden Gestalt hinterher.
»Ell ...«, verwehte ihre Stimme in der Nacht, und ich wußte nicht, hatte sie nach mir gerufen oder war die gehauchte Silbe der Anfang ihres Namens gewesen? Das Gefühl eines ungeheuren Verlustes drückte mich zu Boden. Ich weinte kalte Tränen, die an meinen Wangen zu Eis erstarrten und wie blitzende Diamanten zu Boden fielen. Teilnahmslos sah ich zu, wie sich mein Körper in schwarzen Marmor verwandelte. »T'svera«, flüsterte hämisch etwas in meinem Kopf. »T'svera!« Der schwarze Stein griff nach meinem Gesicht, kroch über Kinn und Wangen und berührte meine Augen. Blind und fühllos stand ich in der unendlichen Schwärze, ohne Hoffnung und ohne Angst.
Eine fremde Stimme fragte: »Warum forderst du mich gerade jetzt heraus, Schüler? Meinst du nicht, das ist zu früh?«
Eine andere Stimme lachte leise und antwortete: »Im Gegenteil, verehrte Meisterin. Ich befürchte fast, es könnte zu spät sein. Weigerst du dich, meine Herausforderung anzunehmen?«
»Aber nein«, entgegnete die Frauenstimme sanft. »Ich freue mich sogar darauf.«
Sanfte Hände strichen über meinen Kopf, fuhren durch mein Haar. Ich blinzelte und sah in das blasse Gesicht meiner Mutter. Meine trockenen Lippen versuchten vergeblich, Worte zu formen. Ellemir schrie leise auf und beugte sich tiefer über mein Lager. Ihr Gesicht war müde und sorgenvoll, aber in ihren Augen flackerte Hoffnung.
»Elloran! Du bist wach?« Ich krächzte schwach und nickte. Sie schluchzte auf und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Mein Blick wurde allmählich klarer, und ich konnte den Raum um mich herum erkennen. Es war die Kemenate meiner Mutter und ihr eigenes Bett, in dem ich lag. Hinter ihr stand Malima, die Hände vor dem Mund gefaltet und Tränen der Freude auf ihrem lieben, alten Gesicht. Eine blasse Sonne schien herein, und der Raum sah friedlich und heimelig aus. Mir war, als wäre ich von einer endlosen Reise zurückgekehrt. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ ich den Kopf in die Kissen zurücksinken und fiel in einen traumlosen, heilsamen Schlaf, der keinerlei Ähnlichkeit mit den dunklen Bewußtlosigkeiten der vergangenen Zeit aufwies.
Schritt für Schritt kehrte ich in meine Welt zurück. Ich war schwach wie ein Säugling, aber mit jedem verstreichenden Tag fühlte ich mich kräftiger. Bald konnte ich für kurze Zeit aufstehen und in eine warme Pelzdecke gehüllt am Fenster sitzen. Jemaina, die mehrmals täglich nach mir sah, wie sie es auch während der Wochen meiner Krankheit getan hatte, ließ bald Besuch für mich zu. Julian kam häufig vorbei und las mir vor.
»Damit du nicht alles wieder vergißt, was du gelernt hast«, sagte er mit einem Zwinkern. Nikal sah täglich zwischen seinen Diensten nach mir und brachte mir den neuesten Burgklatsch mit. Nach und nach erfuhr ich, daß ich wahrhaftig den gesamten Hohen Winter lang zwischen Leben und Tod gehangen hatte wie ein Bergsteiger über einem Abgrund. Keiner konnte mir sagen, welcher Art dieses Fieber gewesen war, und noch weniger, warum es mich aus seinen Klauen entlassen hatte. Jetzt mußte ich wie ein kleines Kind erst wieder laufen lernen. Nikal versprach, mich bald wieder in Form zu haben, wenn ich erst einmal so weit gekräftigt sei, daß ich nicht nach drei oder vier Schritten nach Luft ränge wie ein alter Mann. Er lachte, doch seine Augen blieben seltsam kalt und unbeteiligt dabei.
Während der Wochen meiner Krankheit war ich in die Höhe geschossen. Als ich mich das erste Mal im Spiegel sah, wußte ich nicht recht, ob ich lachen oder weinen sollte – das Lachen lag dann allerdings doch näher. Mich blickte eine zottelige Vogelscheuche an, die rothaarige Zweitausgabe des Magiers Julian: lang und schlaksig und dünn wie ein Grashalm; mit riesigen Augen in einem mageren, bleichen Gesicht. Malima seufzte ergeben, stutzte mir das Haar und ließ die Kammerfrau andere Kleider für mich heraussuchen.
Meine Fieberträume hatte ich beinahe vergessen. Doch eines Morgens erwachte ich mit Tränen auf meinen Wangen und mit der Erinnerung an das Mädchen, das mir so glich wie eine Zwillingsschwester. Die Erscheinung ließ mir keine Ruhe. Ich grübelte über ihre Bedeutung, aber sie ergab keinen Sinn. Endlich faßte ich mir ein Herz und stellte meiner Mutter die Frage, die mir auf dem Herzen lag: »Habe ich eigentlich eine Schwester?«
Kaum waren die Worte heraus, hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. Noch plumper hätte ich diese Frage wohl kaum stellen können. Ellemir sah mich an, als traute sie ihren eigenen Ohren nicht.
»Wie kommst du denn auf diese Idee?« fragte sie fassungslos.
»Ich habe es geträumt«, entgegnete ich lahm. Es war zwar die reine Wahrheit, aber ich mußte selbst zugeben, daß es sich seltsam anhörte. Das schien auch Ellemir zu finden, nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen.
»Vergiß diesen Traum«, sagte sie scharf. »Du bist mein einziges Kind, Elloran.« Die Antwort war klar und deutlich, aber sie befriedigte mich nicht. Etwas daran schien nicht zu stimmen. Ich hatte in den letzten Monaten ein feines Gespür dafür entwickelt, wann meine Mutter mich anlog oder mir etwas verschwieg. Ich wollte nicht mehr Elloran heißen, wenn das nicht auch jetzt der Fall war.
Als ich mich einigermaßen sicher auf den Beinen fühlte, bedrängte ich Jemaina, mich aufstehen zu lassen. Sie willigte widerstrebend ein, nachdem ich ihr versprochen hatte, mich nicht zu überanstrengen und regelmäßig bei ihr blicken zu lassen.
Nikal war ehrlich erstaunt, als ich ihn in der Wachstube besuchte. Wir schwatzten ein paar Minuten miteinander, dann entschuldigte er sich, weil er die Wachablösung beaufsichtigen mußte. Ich sah ihm bedrückt nach, als er mit schwerfälligen Schritten den Raum verließ. Wie schon bei seinen Besuchen an meinem Krankenlager schien er mir verändert. Er war im letzten Jahr auf erschreckende Weise gealtert, sein Haar war inzwischen fast vollständig grau, und er hatte erheblich an Umfang zugenommen; aber das alleine war es nicht. Etwas unbestimmbar Fremdes schien unter der vertrauten Oberfläche zu lauern, etwas, das mich zutiefst verstörte.
Nach und nach konnte ich meine üblichen Tätigkeiten wieder aufnehmen. Zwar kostete mich alles noch immer mehr Mühe, als ich gewohnt war, aber die Fortschritte waren dennoch ermutigend. Eine unangenehme Überraschung hielt das Schicksal allerdings noch für mich bereit. Julian hatte seinen offiziellen Unterricht für die Zeit meiner Rekonvaleszenz in den Palas verlegt, um mir die steile Turmtreppe zu ersparen, aber ich brannte vor Ungeduld, endlich auch mit dem anderen, geheimen Teil meiner Schulung fortzufahren. So schleppte ich mich eines Tages unter vielen Atempausen hinauf in seine Stube. Julian war zwar überrascht, erhob aber keinerlei Einwände. Doch wir mußten feststellen, daß meine magischen Fähigkeiten vollständig verschwunden waren. All die mühsam erlernten Formeln und Gesten waren wie mit einem großen Schwamm aus meinem Gedächtnis gelöscht. Julian war darüber ähnlich erschüttert wie ich, meinte aber, das sei wahrscheinlich nur eine vorübergehende Nachwirkung des Fiebers, und meine Fähigkeiten würden früher oder später sicherlich zurückkehren. Ich mußte es ihm wohl oder übel glauben, aber es bedrückte mich trotzdem.
Alles war, wie es immer gewesen war, seit ich denken konnte. Die Burgbewohner gingen ihren winterlichen Beschäftigungen nach: besserten Kleider und Gerät aus, warteten die Waffen, setzten Karren und Wagen instand und kümmerten sich um das Vieh. Wenn dann das kurze Tageslicht schwand, saßen wir um das Feuer, erzählten Geschichten oder lauschten den Liedern. Es wurde gelacht, gestritten, gespielt, gegessen und geschlafen. Der Dunkle Winter war immer eine Zeit der Ruhe und Besinnung gewesen. Die Sturmgeister mochten zwar um die Burg heulen, aber all ihr Wüten konnte gegen die Stärke der dicken Mauern nichts ausrichten.
Alles war, wie es immer gewesen war, seit ich denken konnte – doch ich fühlte mich wie ein Fremder in einem fremden Land. Mein Schlaf war unruhig und wenig erquickend, meine Träume wirr und beunruhigend. Nach dem Aufwachen konnte ich mich nicht an sie erinnern, aber immer wieder tauchten tagsüber beängstigende Bilder in mir auf, die nur aus meinen nächtlichen Träumen stammen konnten. Mich quälten Vorstellungen von bösen, gesichtslosen Mächten, die danach trachteten, mich in zwei Hälften zu schneiden, wobei jede dieser Hälften ein vollständiges Abbild meiner selbst war, die eine männlich und die andere weiblich. Immer wieder erschien das angstvolle Gesicht des Mädchens, das mir so erschreckend ähnlich war, vor meinen Augen. Ich suchte deswegen Jemaina auf, und sie gab mir einen ihrer sonst so wirksamen Kräutertränke; doch diesmal half er mir nicht.
Nikal mein Leid zu klagen, erschien mir zwecklos. Wie hätte er mir beistehen können? Zudem verhielt er sich zunehmend mürrisch und gereizt, fast bösartig. Bei einer Gelegenheit brüllte er mich mit jähzorniger Röte in seinem zerfurchten Gesicht an, ohne daß ich ihm in irgendeiner Weise Anlaß dazu gegeben hätte: ich möge ihn, bei Omellis Glasauge, endlich einmal in Ruhe lassen, das sei doch wohl nicht zuviel verlangt, schließlich sei er nicht mein verdammtes Kindermädchen, auch wenn ich widerwärtige Rotznase mir das einzubilden glaube ...
So hatte ich Nikal noch nie zuvor erlebt, er erschien mir wie ein vollkommen Fremder. Versteinert stand ich da und wußte nicht, wie mir geschah. Dann war sein Wutanfall so plötzlich vorbei, wie er begonnen hatte. Wir starrten uns eine Weile lang stumm und fassungslos an, dann murmelte er hastig so etwas wie eine Entschuldigung und ließ mich stehen.
Nicht lange nach diesem unerfreulichen Zwischenfall suchte ich erneut Jemaina in ihrer Kate auf, in der Hoffnung, sie hätte inzwischen ein wirksameres Mittel gegen meine Alpträume gefunden. Neuerdings mußte ich den Kopf einziehen, wenn ich durch die niedrige Tür in den dämmrigen, nach getrocknetem Sommer duftenden Raum trat. Deshalb bemerkte ich zu spät, daß Jemaina bereits Besuch hatte. Er saß im Lehnstuhl neben dem Kamin und kehrte mir den Rücken zu, das Gesicht in den Händen vergraben. Kurzes graublondes Haar leuchtete im rötlichen Schein des Feuers. Die Heilerin, die schweigend und ihre Pfeife rauchend neben ihm saß, sah mich und gab mir ein Zeichen, mich ruhig zu verhalten. Ich wandte mich zum Gehen, aber sie hielt mich mit einer ungeduldigen Handbewegung zurück und deutete auf einen Hocker in der Nähe der Tür. Erstaunt über ihre ungewöhnlich betroffene Miene gehorchte ich und setzte mich leise nieder.
Lange war in der Stille des Raumes nur das Prasseln und Knacken des Feuers zu vernehmen. Dann begann Nikal zu reden, schleppend und verwaschen, als spräche er im Schlaf oder unter dem Einfluß von zu reichlich genossenem Bier.
»Ich hab dir nie von meinem Vater erzählt, oder? Wir haben uns ständig gestritten. Er hatte eine Stinkwut auf mich, weil ich nicht Arzt werden wollte – wie er. Alle Männer seiner Familie waren Mediziner, nur sein verdammter einziger Sohn pfiff auf die Tradition und ging zum Militär.« Er lachte kurz und freudlos auf, dann folgte eine lange Pause, in der nur sein schwerer Atem zu hören war. Ich dachte über das Gehörte nach. Nikal hatte nie viel von sich erzählt; was ich über ihn wußte, hatte ich mir aus beiläufigen Bemerkungen zusammengereimt. So wußte ich kaum mehr von ihm, als daß er Söldner gewesen war. Über seine Herkunft, seine Familie, seine Eltern hatte er nie auch nur ein Wort verloren.
Jemaina beugte sich vor, um ihre Pfeife am Kamin auszuklopfen. »Erzähl weiter, Kommandant«, bat sie behutsam. Er seufzte tief und hoffnungslos.
»Meine Mutter mußte uns alle allein durchbringen, als Vater starb«, fuhr er in der gleichen lallenden, undeutlichen Redeweise fort. »Er war Fischer und eines Tages ist er nicht mehr vom Meer zurückgekommen. Ich lag noch in den Windeln, kann mich nicht mal mehr richtig an ihn erinnern.« Wieder eine Pause. Jemaina warf mir einen alarmierten Blick zu, den ich verwirrt erwiderte. Was ging hier vor sich? Was redete er da für wirres Zeug?
»Bin dann bei Omellis Truppe gelandet. War ein guter Haufen, aber ich hab sie verloren. Weiß jetzt nicht mehr, wie ich nach Haus kommen soll. Weiß ja noch nicht mal, wo zu Hause überhaupt ist!« Er war laut geworden, und seine Stimme war voller Angst. Jemaina stand hastig auf und holte ein versiegeltes Gefäß von einem Bord voller Tiegel, Kannen und Flaschen herunter. Sie trat an Nikals Seite und ließ ihn daraus trinken. Seine Stimme verklang murmelnd, der Kopf sank ihm auf die Brust, und er schlief ein. Die Heilerin sah auf ihn nieder und drehte ratlos das leere Gefäß in ihren Händen. Endlich erinnerte sie sich an mich und kam zu mir an die Tür.
»Ich wollte, daß du dir das anhörst«, sagte sie gedämpft. »Du kennst ihn wahrscheinlich besser als alle anderen hier.«
»Was ist los mit ihm?« fragte ich, als sie nicht weitersprach. »Das war doch völlig irres Zeug, was er da erzählt hat. Ist er betrunken?«
»Unser ›Heiliger Nikal‹? Du machst Witze!«
Natürlich hatte sie recht, der Gedanke allein war absurd. Nikal war bekannt dafür, daß er niemals auch nur einen Tropfen Alkohol anrührte. So war er auch zu seinem Spitznamen gekommen, mit dem ihn seine Männer allerdings wohlweislich nur dann bedachten, wenn sie sicher waren, daß er es nicht hörte.
»Aber irgend etwas ist seit dem Sommer nicht mit ihm in Ordnung. Er benimmt sich immer häufiger so merkwürdig.«
Jemaina nickte und stellte endlich den Behälter beiseite. »Deshalb ist er auch zu mir gekommen. Er klagte wieder über Kopfschmerzen und Gedächtnislücken. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich annehmen, daß er eine üble Kopfverletzung hatte, aber das ist nicht der Fall.« Sie hielt inne und rieb sich müde mit einer Hand das dunkle Gesicht. »Ich bin am Ende meiner Weisheit, Ell. Dieser Winter raubt mir langsam mein gesamtes Selbstvertrauen. Erst dein unerklärliches Fieber, und jetzt das hier ...«
Ich strich besänftigend über ihre Schulter, obwohl ich selbst des Trostes bedurft hätte. Jemaina hob den Kopf und straffte ihre stämmige kleine Gestalt.
»Ich wollte dir nichts vorjammern, Ell. Du kannst mir vielleicht helfen. Berichte mir bitte alles Ungewöhnliche, was dir an Nikals Betragen aufgefallen ist.«
Ich trug zusammen, was mir dazu einfiel: Nikals Unbeherrschtheit und seine unerklärlichen Wutanfälle; daß er mich einige Male nicht erkannt hatte; mein Gefühl, es manchmal mit einem Fremden zu tun zu haben. Währenddessen ging Jemaina in geschäftiger Konzentration im Raum umher und nahm Büschel von getrockneten Kräutern von den Haken, an denen sie von der Decke hingen. Sie zerstieß sie in ihrem steinernen Mörser und fügte kleine Prisen einer mir unbekannten Ingredienz hinzu, die sie einem kleinen irdenen Tiegel entnahm. Schließlich gab sie eine winzige Menge einer grünlich schillernden, zähen Flüssigkeit zu den fein zerstoßenen Kräutern und verrührte alles zu einer dicken Paste. Sie breitete ein sauberes Leintuch auf dem Tisch aus und löffelte den Brei darauf. Mit ihren kurzen, geschickten Fingern formte sie kleine Kugeln aus der Paste, die sie fest in das Tuch eindrehte. Zum Schluß band sie ein Stück Schnur um beide Tuchzipfel und hängte es zum Trocknen in den Rauchfang.
»So, das hätten wir.« Die kleine Heilerin wischte sich die Hände ab und strich eine Haarsträhne ungeduldig beiseite, die sich aus ihrem Zopf ins Gesicht verirrt hatte.
»Was hast du da zubereitet?« wollte ich neugierig wissen. »Ein Heilmittel für Nik?«
Jemaina warf einen kurzen Blick auf den Schlafenden und schüttelte den Kopf. »Das wage ich nicht. Es ist gut möglich, daß er besessen ist.« Sie machte das Zeichen des Bösen Auges. »Dann könnten ihm die meisten meiner Arzneien eher schaden als nützen. Nein, das hier ist für dich. Du bist doch zu mir gekommen, um nach einem Mittel gegen deine Träume zu fragen.«
Ihre Hellsichtigkeit überraschte mich noch immer, obwohl ich die Heilerin schon so lange kannte. Es hatte manchmal etwas von Zauberei.
»Komm vor dem Schlafengehen noch einmal vorbei, dann ist das Mittel fertig.« Jemainas Aufmerksamkeit wanderte wieder zu Nikal am Kamin. »Diesmal wird es gelingen«, fügte sie geistesabwesend hinzu. »Die Mischung sollte es dir erleichtern zu träumen.« Ich starrte sie ungläubig an. Hatte sie mich so falsch verstanden? Ich wollte doch, daß diese Träume endlich aufhörten!
Jemaina schob dem schlafenden Kommandanten fürsorglich ein Kissen unter den Kopf und deckte ihn mit einer leichten Decke zu. Sie wandte sich um, und in ihrem Blick lag leise Verwunderung darüber, daß ich noch immer dastand.
»Ist noch etwas?« fragte sie freundlich, aber ein wenig ungeduldig. Ich schluckte meine Frage vorerst hinunter.
Pünktlich zum dritten Wachwechsel fand ich mich wieder in Jemainas Kate ein. Der Raum lag inzwischen fast vollständig im Dunkeln, nur auf dem Tisch brannte eine Talglampe und beschien gelblich die Seiten eines alten Buches. Jemaina saß darübergebeugt und hatte nachdenklich den Kopf in die Hände gelegt. Die Heilerin sah erschöpft aus, ihr Gesicht war grau vor Müdigkeit.
Ich klopfte leise an den Türpfosten und trat ein. Jemaina schlug das Buch zu und stand auf. Sie knüpfte das aufgehängte Leintuch los und schüttelte die mittlerweile getrockneten Kügelchen in ihre Hand. Dann füllte sie einen Becher mit Wasser und reichte ihn mir. Ihr Gesicht war verschlossen, und ihre Gedanken weilten sichtlich an einem andern Ort. Sie drückte mir drei der kleinen grün-bräunlichen Pillen in die Hand und bedeutete mir, sie hinunterzuschlucken. Ich zögerte. Das verschaffte mir endlich ihre gesamte Aufmerksamkeit.
»Was ist?« fragte sie befremdet.
»Wie geht es Nik?«
Sie zog ihr braunes Wolltuch fester um die Schultern und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Lehnstuhl am Feuer, der nun völlig im Schatten lag. Ich konnte undeutlich die massigen Umrisse eines Mannes ausmachen.
»Er schläft noch immer?«
»Ja. Und das ist wahrscheinlich auch gut so. Nimm deine Medizin, Kind.«
»Darf ich dich etwas fragen, Jemaina?«
»Was denn?«
»Du hast vorhin gesagt, die Arznei würde es mir erleichtern zu träumen. Aber meine Träume sind es doch, die mich ...«
»Mein Fehler«, fiel sie mir ins Wort. »Ich habe das zuerst falsch gesehen. Dein Problem ist weniger, daß du träumst, sondern daß du dich nicht daran erinnern kannst. Genaugenommen hilft die Arznei dir nicht beim Träumen, sondern beim Erinnern deiner Träume. Würdest du sie also bitte jetzt nehmen?« Ihre Stimme klang scharf, einen solchen Ton hatte ich von ihr noch nie zuvor zu hören bekommen. Sie bemerkte es im selben Moment und schloß für eine Sekunde erschöpft die Augen.
»Ich mache mir große Sorgen um den Kommandanten.« Sie ließ sich wieder schwerfällig am Tisch nieder und legte ratsuchend eine Hand auf das alte Buch. Ich spülte eilig die Pillen herunter und wartete, ob sie weitersprechen würde.
»Wenn wir zuhause in Hon'hjey wären, würde ich mit ihm zum Weinenden Berg gehen und Die-Die-Sind beschwören, damit sie den fremden Gast in ihm zum Gehen bewegen. Aber hier in Raulikar ...« Ihre Stimme verklang zu einem Flüstern. Sie blickte grübelnd vor sich hin.
»Wen meinst du mit ›fremder Gast‹?« wagte ich vorsichtig zu fragen.
»Es ist eine Form der Besessenheit, wie durch einen bösen Geist. Aber im Gegensatz zu diesem ist der fremde Gast nicht böse; er ist – verwirrt, so könnte man sagen. Es genügt meist zur Heilung, wenn Die-Die-Sind ihm den Weg zeigen, damit er gehen kann.«
»Ist Nik denn besessen?« fragte ich bedrückt.
»In ihm stecken zwei Männer, sie streiten miteinander, und beide sind unglücklich.« Sie zog finster die Brauen zusammen. »Was mich daran stört, ist, daß der Gast keinen Namen zu besitzen scheint. Ich würde es riskieren, ihn fortzuschicken, auch ohne die Hilfe Derer-Die-Sind, aber ich kann nicht sicher sein, daß ich nicht Nikal fortschicke – oder Teile von ihm – solange ich den Fremden in ihm nicht beim Namen nennen kann.« Die Heilerin schüttelte sich wie eine Katze, die von Wassertropfen getroffen wird. Dann streifte sie ihren fernen Blick ab und sah mich liebevoll an.
»Geh jetzt zu Bett, mein Junge. Die-Die-Träumen mögen dich behüten.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte mir einen Kuß auf die Stirn, der seltsam kühl nachglühte. Mit sanftem Nachdruck schob sie mich zur Tür hinaus. Ich hörte, wie sie hinter mir den Riegel zuschob, und trottete durch den nächtlichen Kräutergarten zurück zum Palas und in meine Kammer.
Ich war nicht wirklich müde, aber trotzdem sank ich in Schlummer, kaum, daß mein Kopf das Kissen berührte. Ich erwachte an einem dunkel glühenden Ort, der mir eigenartig vertraut erschien. Lange wanderte ich durch Gänge mit leuchtenden Wänden, die sich zu bewegen schienen, wenn ich nicht hinsah. Am Rande meines Blickfeldes tanzten sich windende Schatten, die in die Wände tauchten, wenn ich meinen Blick auf sie richtete, und leise, flüsternde Stimmen schienen mich unablässig zu rufen.
Endlich kam ich vor eine Tür aus glänzend schwarzem Marmor, deren obere Kante sich im Dämmerlicht verlor. Ich suchte nach einer Klinke, einem Knauf, irgendeinem Griff, der es mir ermöglicht hätte, die Tür zu öffnen, aber vergeblich. Meinen suchenden Augen bot sich nur makellose, spiegelnde Schwärze. Ich hob die Hände, um gegen das Türblatt zu drücken und zog sie mit einem Schmerzensschrei wieder zurück: die Tür war eiskalt. Ich sah mein Spiegelbild vor mir, wie es die eisverbrannten Handflächen an seiner schwarzglänzenden Brust barg. Mühsam, weil meine Hände erbärmlich schmerzten, zog ich mein Hemd aus und wickelte es mir um eine Hand. So geschützt, wollte ich die Tür erneut berühren. Schon lag meine Hand fast auf dem Marmor, da durchfuhr es mich wie ein kalter Blitz: mein Spiegelbild blickte mich an, voller Angst, beide nackten Hände auf der Brust gefaltet. Seine Lippen bewegten sich in stummem Flehen: »Elloran«, las ich. »Hilf mir!«
»Was soll ich tun?« rief ich verzweifelt. Mein Ebenbild hob bittend die Hände und streckte sie mir entgegen. Ich ergriff sie, ohne zu zögern. Eisig und brennend umklammerten schwarze Steinfinger meine Hände und zwangen mich in die Knie. Ich mußte schreckensstarr mitansehen, wie meine Haut verkohlte und in blutroten Schneeflocken zu Boden schneite. Das rohe Fleisch erstarrte zu Eis und ging in kalten blauen Flammen auf. Die Knochen meiner Finger zersplitterten mit einem grausigen Klingen und zerfielen zu Asche. Meine Traumschwester sah zu, wie ich mich in Qualen wand und weinte blutige Tränen, doch der unbarmherzige Griff ihrer eisigglühenden Hände lockerte sich nicht. Ich öffnete den Mund und schrie – schrie – schrie –
Jemand riß die Tür zu meiner Kammer auf und stürzte an mein Bett. »Kleiner, was ist mit dir?« Vertraute Arme umfingen mich, und eine große, warme Hand strich mir tröstend mein schweißnasses Haar aus der Stirn.
»Nikal!« schluchzte ich. Er hielt mich fest und wiegte mich wie einen Säugling.
»Ist ja gut. Es ist doch alles gut. Du hast geträumt, Ell.« Mein Schluchzen versiegte. Er wischte mir die Tränen ab und lächelte mich an. Ich zog die Nase hoch und erwiderte sein Lächeln etwas zittrig. Nikals Gesicht sah glatt und jung aus – in dem weichen Mondlicht, das durch das Fenster fiel.
»Geht es wieder?« Ich atmete tief ein und aus und nickte. Nikal deckte mich sorgsam zu, strich mir noch einmal über den Kopf und wandte sich wieder zur Tür. Vogelkrallen bohrten sich schmerzhaft in meine Schulter. Ich wandte den Kopf und sah in Magramanirs glänzende Augen.
Sie öffnete ihren Schnabel und sagte warnend mit meiner eigenen Stimme: »Glaube nicht alles, was du siehst.« Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Die Stimme sagte: »Manche sind nicht das, was sie zu sein scheinen.« Magramanir blinzelte mir zu und verwandelte sich mit einem Aufblitzen in mein Ebenbild.
»Dummes Geschwätz!« rief Nikal ärgerlich. Ich löste meinen Blick von den Augen meiner Traumschwester und sah ihn an. Ein ersticktes Geräusch kam aus meiner Kehle. Nikal stand vor mir, aber sein Gesicht war fort. Dort, wo Augen, Mund und Nase hätten sein müssen, war nur noch glatte, helle Haut. Das Wesen trat einen Schritt auf mich zu und fragte mit Nikals tiefer, freundlicher Stimme: »Was ist los, Kleiner? Was starrst du mich so an?« Ich schrie.
»Ich bin bei dir«, sagte meine Traumschwester. Ihre Hände auf meinen Schultern griffen fester zu. »Hab keine Angst. Ich bin bei dir, Elloran. Ich bin immer bei dir. Bei dir.«
Die Hände schüttelten mich sanft. » ... bei dir, Elloran. – Elloran! Wach auf, Kind. Wach doch auf!«
Ich fuhr mit einem Ruck hoch. Malima kniete vor meinem Bett, blasser Wintersonnenschein gefiltert durch die Fensterläden, und vom Waffenhof schallte Torkals Stimme herüber. Malimas besorgte Miene entspannte sich, als ich sie anblinzelte. Ächzend stützte sie sich am Bettpfosten ab und hievte sich schwerfällig auf die Füße.
»Ich hatte schon befürchtet, das Fieber wäre wiedergekommen, so schrecklich hast du geschrien. Ist alles mit dir in Ordnung, Kind?« Ich nickte nur und schwang mich aus dem Bett. Malima ging zum Fenster und öffnete die Läden.
»Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst diesen verflixten Vogel nicht in deine Kammer lassen«, schimpfte sie.
»Was meinst du?« Ich trat zu ihr ans Fenster. In der dünnen Schneeschicht auf dem Sims waren deutliche Abdrücke von Vogelkrallen zu sehen. Daneben lag eine von Magramanirs schwarzweißen Federn, und eine zweite lag dicht vor meinem Bett. Wie war sie durch die geschlossenen Läden ins Zimmer gekommen?
Malima legte einen Armvoll frischgewaschener Kleider auf mein Bett, schüttelte noch einmal zutiefst mißbilligend den Kopf und ging hinaus. Ich hörte, wie sie auf dem Gang eines der Mädchen ausschalt, weil sie schlampig gefegt hatte. Ihre Stimme wurde leiser und verklang. Ich hockte mich auf die Bettkante und drehte nachdenklich Magramanirs Feder in den Fingern. Jemainas Medizin hatte gewirkt, ich konnte mich an jede unerfreuliche Einzelheit meines Traumes erinnern. Und was hatte ich davon? Es machte mich nicht im geringsten klüger, ich wußte nur, daß ich keine Lust verspürte, noch mehr davon zu erleben.
Entschlossen stand ich auf und ging hinunter. Mein Atem stand in einer kleinen Wolke vor meinem Mund, aber die Luft erschien mir milder als in den letzten Tagen. Wir schrieben die Achtwoche des Dunklen Winters, er neigte sich nun endlich seinem Ende zu.
Jemainas Kate lag dunkel und still da. Ich klopfte, aber drinnen rührte sich nichts, und die Tür war verschlossen. Ich stand verloren im Schnee, und meine Hände wurden kalt. Ich stopfte sie in die Hosentaschen und lief über den Hof zum Eckturm. Nachdem ich die steile Treppe erklommen hatte, war mir wieder warm. Julian schien wieder einmal nicht da zu sein. Auch die Wehrplatte lag bis auf den hereingewehten Schnee leer vor meinem suchenden Blick. Also stieg ich wieder hinab in den Hof und stromerte unentschlossen ein wenig herum. Ich hätte gerne mit jemandem über meine Alpträume gesprochen, aber alle meine Freunde schienen sich verschworen zu haben, mir aus dem Weg zu gehen.
Schließlich besorgte ich mir aus der Küche ein Stück salzigen Käse zum späten Frühstück und zog mich damit auf die Zinnen über dem Torhaus zurück. Ich wickelte meine dicke Winterjoppe enger um mich, ließ meine Beine von der Mauer baumeln, kaute den bröckeligen Käse und dachte nach. Der Traum dieser Nacht hatte meine Überzeugung gefestigt, daß ich wirklich eine Zwillingsschwester besaß und daß sie in großer Gefahr schweben mußte. Aber welcher Art diese Gefahr war und wo ich mit der Suche nach ihr beginnen sollte, blieb mir verborgen.
Finster entschlossen, endlich einige Antworten zu erhalten, stapfte ich erneut hinüber in den Kräutergarten. Aus dem Schornstein der Kate kräuselte sich Rauch, und ich klopfte und trat ein. Jemaina war gerade dabei, Tee aufzubrühen. Als sie mich erblickte, stellte sie wortlos einen zweiten Becher auf den Tisch und schenkte ihn voll. Sie zog sich den Stuhl heran und fragte, wie ich geschlafen hätte.
Ich nahm einen großen Schluck von dem starken, süßen Tee und erzählte es ihr in allen Einzelheiten, ohne mit meiner Erbitterung über die Wirkung ihrer Pillen hinter dem Berg zu halten.
»Laß mich noch ein wenig darüber nachdenken«, bat sie. »Und nimm die Medizin weiter, Ell, ich bitte dich.« Ich protestierte, aber sie blieb hart. »Glaube mir, Kind, es ist besser für dich. Auch wenn du dich nicht an sie erinnerst, sind die Träume in deinem Geist und vergiften dich langsam.« Mitleidig strich sie mit ihrem dunklen Daumen über meine Handfläche, deren Haut leicht gerötet war, wie von zu heißem Wasser. Ich starrte sprachlos darauf nieder, dann schüttelte ich die düsteren Gedanken ab und fragte Jemaina nach meiner Schwester. Sie schwieg lange, die dunklen Brauen zusammengezogen. Endlich hob sie den Kopf und sah mich traurig an.
»Ich kann dir nichts dazu sagen, Elloran. Nein, unterbrich mich nicht«, mahnend hob sie die Hand. »Ich darf es nicht. Es gehört nicht mir. Die-Die-Spricht würde es mir verübeln, und Der-Der-Hört könnte sein Ohr von dir abwenden. Ich darf es nicht, Elloran.«
»Aber hör doch, Jemaina«, flehte ich. »Meinst du nicht, daß es mir gehören könnte? Schließlich erscheint sie nachts in meinen Träumen und bittet mich um Hilfe!«
»Ich bin nicht diejenige, die es dir weitergeben darf.« Jemaina blieb unnachgiebig. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie keinen Fingerbreit weichen würde. »Ell, sieh mich nicht so wütend an. Du mußt deine Mutter fragen, wenn du etwas wissen willst.«
»Das hat doch überhaupt keinen Zweck«, schrie ich aufgebracht. »Sie wird böse und schickt mich ohne Abendessen ins Bett, als wäre ich ein kleines Kind, und damit ist die Sache für sie erledigt!«
Das Klappen einer Tür unterbrach unseren Streit. Es kam aus dem kleinen Nebenraum der Kate, wo Jemaina hin und wieder Kranke unterbrachte, die ihre dauernde Aufmerksamkeit oder einfach nur ein wenig ungestörte Ruhe benötigten. Zu meinem Erstaunen war es Julian, der dort heraustrat. Ich hatte bislang in dem Glauben gelebt, daß Julian und Jemaina sich nicht besonders schätzten, zumindest gingen sie sich die meiste Zeit aus dem Weg.
Der Magier war tief in Gedanken. Jemaina schob ihm wortlos den Lehnstuhl zurecht und drückte ihm einen Becher mit Tee in die Hand. Ich saß unbehaglich zwischen den beiden und fragte mich, wer da eigentlich im Nebenzimmer lag, daß Jemaina es sogar für angebracht gehalten hatte, Julian hinzuzuziehen. Als es mir endlich dämmerte, fühlte ich mich ganz elend. Der Eindruck meines Traumes der letzten Nacht war so übermächtig gewesen, daß Nikal darüber völlig aus meinen Gedanken verschwunden war. Sein Traumbild, das so jung und fröhlich gewirkt hatte – vor seiner Verwandlung in etwas gesichtslos Bedrohliches – hatte mich seinen wahren Zustand vergessen lassen. Julians düsteres Schweigen und Jemainas bedenkliche Miene belehrten mich nun nur zu deutlich eines Schlechteren.
Der Magier stellte laut seinen Becher ab und legte beide Handflächen auf die dunkle Tischplatte. »Das beste wird sein, ich nehme ihn mit«, sagte er schroff.
»Er wird nicht mitgehen«, entgegnete Jemaina.
»Ich weiß keine andere Lösung. Du?«
Jemaina hob ernüchtert die Schultern. »Was denkst du über den fremden Gast, Julian?«
Der Magier schüttelte fast verächtlich den Kopf. »Es befinden sich zwei sehr unterschiedliche, widerstreitende Persönlichkeiten in seinem Geist; aber so seltsam das klingt: beide scheinen ganz und gar er selbst zu sein. Ich kann keine Zeichen eines fremden Einflusses erkennen. Er ist weder besessen noch verhext.«
Jemaina hob verzweifelt die Hände. »Er wird nicht mit dir gehen wollen. Und auch ich kann mir nicht vorstellen, wie deine Magierkollegen Rat wissen wollen, wo selbst du, der du ihn kennst, ratlos bist.« Julian biß sich auf die Lippen.
»Ich mag noch unerfahren sein«, gab er widerstrebend zu. »Aber wo meine Weisheit am Ende ist, endet das Wissen meiner Meisterin noch lange nicht. Die Oberste Maga wird ...«
»Du bist der Schüler der Obersten Maga?« unterbrach ich ihn unbedacht. Julian und Jemaina sahen mich beide erstaunt und ein wenig ungeduldig an.
Ich wurde rot und versuchte vergebens, mich unsichtbar zu machen, und Julian fuhr fort: »Sie wird wissen, was zu tun ist. Und falls sie es nicht weiß, wird sie keine Ruhe geben, bis sie es herausgefunden hat.« Seine sonst so kalten Augen blitzten lebhaft, und seine gleichmütige Stimme klang regelrecht fanatisch. So viel Leidenschaft hätte ich Julian mit seinem froschblütigen Wesen niemals zugetraut.
Jemaina gab auf. Sie erhob sich müde und murmelte: »Ich sehe noch mal nach ihm. Das Schlafmittel müßte eigentlich langsam seine Wirkung verlieren.« Die Tür schloß sich leise hinter ihr, und ich war allein mit dem Magier. Mit neuerwachtem Respekt musterte ich sein knochiges Gesicht. Er war der Schüler des Oberhauptes aller Zauberer und damit ein sicherer Anwärter auf ihre Nachfolge. Seine Miene war wie so oft undeutbar und von sanfter Melancholie.
»Ich brauche deine Hilfe, Elloran«, wandte er sich unvermittelt an mich. »Jemaina hat recht, Nikal wird nicht ohne weiteres bereit sein, mit mir zu kommen. Vielleicht kannst du ihn davon überzeugen, daß ihm keine andere Wahl bleibt.«
»Und wenn er nicht auf mich hört?« Julian antwortete nicht. »Was ist denn überhaupt mit ihm los? Leidet er an einer schweren Krankheit?«
»Der Kommandant wird irrsinnig«, sagte Jemaina, die in der Tür stand. Ich sah Julian an, zuversichtlich, daß er dieser ungeheuerlichen Aussage widersprechen werde. Aber er tat mir diesen Gefallen nicht.
»Jemaina, wir müssen ihn von jetzt ab ständig im Auge behalten. Wenn er gewalttätig wird ...«
»Julian!« schrie ich gequält auf. Jemaina blickte mich nur mitleidig an.
»Er kommt langsam wieder zu sich. Ich werde es wagen, ihm etwas gegen seine Kopfschmerzen zu geben. Alles andere liegt bei Denen-Die-Sind.«
Ich konnte es nicht fassen. Da saßen diese beiden Menschen, die ich liebte, und sprachen völlig unbeteiligt über Nikals vom Wahnsinn bedrohten Geist. Sie schienen es als unabwendbar gegeben hinzunehmen, daß er früher oder später zum tobenden Irren werden und wie ein toller Hund an die Kette gelegt werden mußte. Fast wunderte es mich, daß keiner vorschlug, ihn statt dessen einfach zu erschlagen. Julians einzige Sorge schien darin zu bestehen, wie er Nikal ohne Hilfe zur Stadt der Zauberer befördern sollte.
»Vielleicht sollte ich zwei seiner Soldaten zumindest ein Stück des Weges als Eskorte mitnehmen«, überlegte er gefühllos. »Zu dritt müßten wir in der Lage sein, einen Tobsüchtigen unter Kontrolle zu halten.«
Ich wollte meiner Empörung Luft machen, da verschlug es mir vor Schreck den Atem: In der Tür zum Nebenraum stand der totenbleiche Nikal und klammerte sich an den Rahmen. Er hatte offensichtlich das ganze grausame Gespräch mitangehört. Mein Herz zersprang beinahe vor Mitleid, ich stieß den Stuhl zurück und rannte blindlings aus der Kate.
Am Fluß kam ich wieder zu mir, voller Scham über meine feige Flucht. Grün und weiß schäumte das Wasser vorbei, nicht länger vom Eis behindert. Nur hier und da war der Fluß an den Uferrändern noch gefroren, ringsumher taute der Schnee.
Hinter mir knirschten schwere Schritte durch Schnee und feuchten Sand. Ich drehte mich nicht um. Ich konnte Julians Anblick so wenig ertragen, wie ich seine Stimme hören wollte – Pläne schmiedend, wie ich Nikal am geschicktesten zu seiner Abreise überreden konnte. Es widerte mich an. Er blieb so dicht hinter mir stehen, daß ich ihn atmen hören konnte. Aber er sagte nichts, stand nur da und wartete.
»Was willst du?« fragte ich schroff und den Tränen nahe. Er schwieg. »Geh bitte. Es kümmert mich nicht, was du mit Jemaina ausgeheckt hast. Nikal ist dir in Wirklichkeit doch völlig gleichgültig!«
Er holte tief und bebend Luft, ein hoffnungsloses Seufzen, das ganz und gar nicht nach dem Magier klang. Ich fuhr herum und blickte in Nikals Gesicht.
»Gehen wir ein paar Schritte?« bat er leise.
Wir wanderten langsam den Treidelpfad am Flußufer hinunter. Ich blickte ihn verstohlen von der Seite an. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, und er sah müde und gequält aus. Die kräftigen, stark geäderten Hände hingen reglos an seinen Seiten herab, sein Bauch wölbte sich weich unter der warmen Wolltunika, und die breiten Schultern begannen, sich unter der Last der Jahre zu beugen. Mein alter Freund hatte die Gefilde der Jugend erschreckend weit hinter sich gelassen. Das Gefühl hilfloser Liebe zu ihm, das mich bei seinem Anblick überkam, war so stark, daß es mich heftig im Halse würgte.
Wir waren schon fast beim Dorf angelangt, als Nikal sein Schweigen brach. »Denkst du auch, ich werde verrückt?« fragte er ruhig. Ich konnte nicht sofort darauf antworten. Ich wußte ja selbst kaum, was ich glauben sollte. Nikal blieb stehen und sah mich an. Sein freimütiger, fast kindlich vertrauensvoller Blick traf mich bis ins Mark.
»Nein«, hörte ich mich sagen. »Nein, Nik, das glaube ich nicht!« Ich will es nicht glauben, schoß mir durch den Kopf. Nikal wandte sich ab, um zur Burg zurückzukehren.
»Ich schon«, sagte er mit einer schrecklich unbeteiligten Stimme, als redeten wir über einen Fremden. »Ich werde wohl besser meinen Abschied nehmen, solange mir das noch ehrenvoll möglich ist.« Ich hätte ihn am liebsten geschüttelt. Wie konnte er nur so tun, als wäre nichts?
»Nik!« Mein Ruf brachte ihn zum Stehen. Ich blickte ihn unglücklich an und suchte nach Worten. Er lächelte; ein schwacher Abglanz seines gewohnten Lächelns, das erstarb, ehe es seine Augen erreichen konnte.
»Ich reite mit Julian, sobald das Wetter es zuläßt. Hoffentlich steht sich Jemaina mit ihren Göttern so gut, daß sie mir bis dahin einen halbwegs klaren Verstand bewahren kann. Ich habe wenig Lust, gebunden wie Schlachtvieh vom Hof gekarrt zu werden. He, Kleiner, du weinst doch nicht etwa!«
»Ich weine nicht«, behauptete ich trotzig. »Der kalte Wind ist schuld.«
»Ja, sicher«, sagte Nikal sanft. Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück und trennten uns wortlos am Burgtor. Ich sah ihm hinterher, als er schwerfällig zum Burgfried hinüberstapfte, und verfluchte das Schicksal in allen Tonlagen.
Inzwischen war es dämmrig geworden, und ich dachte mit Schaudern an die kommende Nacht. Nach diesem Tag voller Schrecken würden meine Träume bestimmt besonders furchterregend ausfallen, auch ohne die gräßlichen Pillen; aber lieber ertrug ich noch eine Nacht voller Alpträume als Jemainas Unwillen, weil ich ihre Anweisungen nicht befolgte.
Sie wartete schon auf mich, die unseligen Pillen lagen bereit. Ich schluckte sie mit Todesverachtung hinunter und wünschte Jemaina eine gute Nacht. Eine Weile stand ich noch im Hof und betrachtete den Himmel über mir. Die Nacht war sternenklar, und ich konnte das Halsband der Göttin sehen, weil erst einer der beiden Monde, der Kleine Bruder, im Aufgehen begriffen war. Ich schickte einen wortlosen Wunsch zum Halsband, Nikal und meine Traumschwester gleichermaßen einschließend, und ging fröstelnd hinein in die dumpfe Luft des schlafenden Palas.