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Als der Herbst das Laub der Albiabäume im Goldenen Hain silberweiß zu färben begann, saß ich an einem meiner Lieblingsplätze, auf dem sonnenbeschienenen Altan, einen meiner geliebten Schmöker auf dem Schoß und dachte über meine Familie nach. Mein Vater schien sich meiner Existenz nur in seltenen Ausnahmefällen zu erinnern, und ich hegte weder liebevolle noch irgendwelche anderen Gefühle für den Burgherrn, nicht einmal Groll deswegen, weil er mich so vollständig ignorierte. Die Eltern meines Vaters waren schon seit langer Zeit tot, aber er hatte einen wesentlich älteren Bruder, der uns hin und wieder besuchte.
Über die Familie meiner Mutter wußte ich so gut wie nichts. Ellemir sprach fast nie von der Herrin von Kerel Nor, meiner Großmutter, und auch Malima erwähnte sie nur selten, dann aber immer in ehrfürchtigem Tonfall.
Ich stellte sie mir sehr würdevoll und erhaben vor, und malte mir aus, wie sie edel und zerbrechlich mit weißem Haar und überaus prächtig gekleidet in einem prunkvollen Schloß residierte, umgeben von glanzvollem Gefolge, edlen Rittern und Hoffräulein. Sie war die Hand der Krone, was bedeutete, daß sie eines der höchsten Ämter des Reiches innehatte. Wahrscheinlich frühstückte meine Großmutter jeden Morgen mit unserer jungen Regentin, die gewiß bildschön war. Von meinem Großvater war nie die Rede. Wahrscheinlich war er tot, gefallen in einem heldenhaften Kampf um die Befreiung einer edlen Dame.
Ich malte mir diesen Kampf in den schönsten Farben aus und schwang soeben ein mächtiges, blitzendes Schwert gegen einen Feuer und Rauch speienden Drachen, als eine kleine Schar Berittener durch das Burgtor in den Hof trabte. Sie saßen ab und versammelten sich mit ihren Pferden um den Brunnen. Etwas an den fremden Soldaten machte mich stutzig. Ich kniff die Augen gegen die Sonne zusammen, und was ich erblickte, versetzte mich derart in Aufregung, daß ich aufsprang, ohne auf das zu Boden polternde Buch zu achten.
Ich rannte hinunter in den Hof und baute mich in sicherer Entfernung zu den Fremden auf, Maulaffen feilhaltend wie ein zurückgebliebenes Schaf. Die munter schwatzenden und sich am kühlen Brunnenwasser erquickenden Soldaten waren unzweifelhaft allesamt weiblichen Geschlechts. Nie zuvor hatte ich Frauen in Männerkleidern zu Gesicht bekommen. Mein Gesicht bei ihrem Anblick muß starke Ähnlichkeit mit dem von Dorias, dem Dorfschwachsinnigen, aufgewiesen haben, wenn er versuchte, seine Finger zu zählen.
Hinter mir trat meine Mutter aus der Tür. Sie hatte ihr Haar offensichtlich in aller Eile gekämmt und hochgesteckt und einen Mantel umgeworfen, der Malima zu gehören schien. Ich sah meine so auf ihr Äußeres bedachte, schöne Mutter zum ersten Mal nachlässig gekleidet und frisiert, sie wirkte aufgelöst und alles andere als glücklich über den unangemeldeten Besuch.
Meine Aufmerksamkeit wandte sich wieder den exotischen Fremden zu. Ihre Kommandantin, eine ungewöhnlich großgewachsene, knochige Frau mit kräftigen Armen und Schultern, war wie die anderen in ein einfaches Lederkoller gekleidet. Das derbe Reitleder an ihren Beinen und die festen, hohen Stiefel zeigten deutliche Spuren einer langen, staubigen Reise. Sie lachte über die Bemerkung einer ihrer Frauen, und ich hörte ihre laute Stimme über den Hof schallen: »Ich kümmere mich eben mal um unsere Unterbringung.«
Ellemir seufzte leise und umklammerte meinen Arm, als die Frau mit weit ausgreifenden Schritten auf uns zusteuerte. Mit ihrem starken, sommersprossigen Gesicht, über dem sich ein Schopf roter, graudurchschossener Locken kringelte, machte sie einen überaus achtunggebietenden Eindruck.
»Seid gegrüßt«, rief sie uns zu. »Sagt, wo können meine Frauen ihr Quartier aufschlagen?«
»Unser Kommandant wird sich um sie kümmern«, erwiderte Ellemir zurückhaltend. »Da kommt er schon.« Tatsächlich trat Nikal gerade aus der Wachstube und näherte sich den Soldatinnen. Ich sah mit Erstaunen, wie er sie herzlich begrüßte und wie ein alter Bekannter von ihnen empfangen wurde.
»Sie werden im Burgfried untergebracht, wenn dir das recht ist«, sagte Ellemir. Dann lächelte sie gezwungen und setzte gespielt munter hinzu: »Hallo, Mutter.«
»Na, das nenne ich mal eine herzliche Begrüßung!« knurrte die Frau – meine Großmutter – und musterte mich gründlich von oben bis unten. »Du mußt mein Enkel Elloran sein.« Ohne mich aus den Augen zu lassen, wandte sie sich zu Ellemir: »Na, wenigstens hast du dafür gesorgt, daß er deinem hohlköpfigen Ehemann nicht ähnlich sieht!«
»Mutter!« Ellemir schnappte empört nach Luft, und ich kämpfte darum, nicht zu lachen. Meine Großmutter entließ mich nicht aus ihrem Blick, aber jetzt lockerte sich ihre strenge Miene zu einem breiten, warmen Lächeln. Sie reichte mir die Hand, und ich ergriff sie, um herzhaft ihren festen Druck zu erwidern. Die Herrin von Kerel Nor war ganz und gar nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte, aber ich war nicht im mindesten enttäuscht.
Großmutter Veelora legte einen Arm um meine Schulter, als wir gemeinsam zum Palas hinübergingen. Ich konnte eine Nase voll von ihrem unverwechselbaren Duft erschnuppern: eine Mischung aus Leder, Pferden, Schweiß und exotischen Gewürzen. Sie roch noch nicht einmal wie eine Frau! Es war unglaublich, daß ein solches Wesen eine Tochter wie Ellemir besaß. Ich konnte mir beim allerbesten Willen nicht vorstellen, wie diese beiden Frauen miteinander auskommen würden.
Die alte Malima flatterte inzwischen aufgeregt durch den Palas, um für eine angemessene Unterbringung der domna Veelora zu sorgen und machte mit ihren hektischen Anweisungen die gesamte Dienerschaft verrückt. Ich saß mit Großmutter, die die ganze Aufregung gelassen übersah, mitten im Gewühl der Kammerjungfern und Dienstmädchen und ließ mich von ihr ausfragen. Bald hatte ich ihr gegenüber jedes Gefühl von Fremdheit verloren und schwatzte mit ihr wie mit einer alten Freundin. Sie lachte nur, als ich ihr meine schändliche Unfähigkeit im Umgang mit dem Schwert beichtete.
»Das scheinst du von deiner Mutter geerbt zu haben. Ellemir ist in dieser Beziehung auch völlig aus der Art geschlagen. Wahrscheinlich zeigst du mehr Geschick mit allem, was sich werfen oder schießen läßt, richtig?«
Ich staunte. Abgesehen davon, daß es stimmte, war ich völlig überrumpelt von der Vorstellung, meine Mutter könnte irgendwann einmal eine Waffe in ihrer zarten Hand geführt haben. Veelora sah meine Verwirrung und stöhnte.
»In was für einer Umgebung muß mein Enkelkind aufwachsen! Hier sind Frauen nur für Haushalt und Kinderaufzucht gut, oder? Natürlich hat deine Mutter gelernt zu kämpfen! Sie ist schließlich eine Tochter von Kerel Nor!« Sie lachte über mein überraschtes Gesicht und fuhr mir durch die Haare. »Es wird wirklich Zeit, daß du hier mal rauskommst. Wie alt bist du eigentlich?«
»Vierzehn, Großmutter.«
»Möchtest du mich für eine Weile besuchen, Elloran? Du bist mir willkommen, und ich denke, deine Tante und deine Kusinen würden sich auch freuen, dich endlich kennenzulernen.«
Ich schnappte entzückt nach Luft. Fort von Salvok, und dann gleich so weit weg, bis nach L'xhan! Sicher würde ich auch die Kronenburg zu sehen bekommen, die Hauptstadt des Reiches. Doch Ellemir machte mir einen Strich durch diese Rechnung. Sie befand mich für zu jung, um eine solche Reise zu unternehmen und beschuldigte ihre Mutter, mir Flausen in den Kopf zu setzen.
Nikal unterbrach die Auseinandersetzung. Er überbrachte meiner Großmutter die Meldung, daß ihre Frauen untergebracht seien. Die beiden begrüßten sich ungemein herzlich.
»Was macht dein Freund, dieser nette junge Soldat aus Norrbrigge? Wie hieß er noch ...?« fragte Großmutter.
Nikal räusperte sich unbehaglich. »Sanders war sein Name, domna Veelora. Er ist vor Jahren schon in unsere Heimat zurückgekehrt, es gefiel ihm hier im Süden nicht.«
Veelora beäugte ihn neugierig. Seine Verlegenheit entging ihr genausowenig wie mir. »Und, hast du jemand anderes?«
»Nicht ganz«, antwortete er ausweichend.
Großmutter betrachtete die Schweißperlen auf seiner Stirn und hatte endlich Erbarmen mit ihm. Sie legte einlenkend eine Hand auf seinen Arm und lächelte ihn gewinnend an. »Entschuldige, Hauptmann. Ich vergesse immer wieder, wie seltsam die Raulikaner in dieser Hinsicht denken. Aber ich dachte, du als Norrländer ...«
Nikal grinste gequält, und Großmutter entließ ihn mit einer gnädigen Handbewegung. Dann klatschte sie mir munter auf den Rücken und stand auf. »Komm, mein Junge. Führe mich ein wenig herum. Ich bin seit der Hochzeit deiner Mutter nicht mehr auf Salvok gewesen.«
Ich fühlte so etwas wie Besitzerstolz, als ich mit ihr über das Burggelände ging. Veelora zeigte großes Interesse für die Stallungen und die prächtigen S'aavaranischen Jagdpferde, die unser Stallmeister im letzten Frühjahr auf dem großen Viehmarkt von Corynn erstanden hatte.
»Kümmert Morak sich immer noch ausschließlich für die Jagd?« fragte sie, während sie das Gebiß einer rotbraunen Stute untersuchte. Ich nickte etwas betreten. Großmutter schien nicht allzuviel von meinem Vater zu halten, und ich verspürte nicht den Drang, ihn zu verteidigen.
Veelora gab der Stute einen freundlichen Klaps und blickte mich forschend an. Um sie abzulenken, warf ich ihr die nächstbeste Frage hin, die mir durch den Kopf ging: »Wo ist eigentlich mein Großvater?«
Sie hob gleichgültig die Schultern. »Wahrscheinlich irgendwo auf dem Südozean. Er ist Kapitän eines Handelsschoners.«
»Ich weiß so wenig über dich und ihn und meine Familie. Mutter erzählt mir nie etwas von euch.«
»Ellemir ist inzwischen eine echte Raulikanerin geworden. Sie hielt noch nie etwas von der L'xhanschen Lebensweise. Rhian, deine Tante, ist ganz anders – dabei war ihr Vater ein Raulikaner.«
»Was, Mutter hat einen anderen Vater als ihre Schwester?« unterbrach ich sie verblüfft.
»Na, du scheinst ja wirklich nichts über deine Familie zu wissen.« Sie hockte sich auf die Brunneneinfassung und klopfte einladend mit der Hand auf den Platz an ihrer Seite. »Dann hör mal zu. Du weißt doch wenigstens, daß deine Mutter die jüngere der beiden Schwestern ist?« Ich nickte. »Rhian ist meine Erbin, und Ellemir hätte als ihre Hand bei ihr bleiben können. Aber sie hat es sich in den Kopf gesetzt, diesen Raulikaner zu heiraten und dann auch noch zu ihm zu ziehen.« Sie schüttelte in belustigter Mißbilligung den Kopf. »Ich hatte nicht allzuviel Verständnis dafür, das muß ich zugeben.«
Nach einer Weile spazierten wir schweigend und in Gedanken versunken weiter. Am Eckturm angelangt, erzählte ich ihr stolz von dem Magier, der dort lebte.
»Was für ein Magier?« fragte sie scharf.
»Er heißt Julian«, stotterte ich, beunruhigt durch das unerklärliche Aufwallen von Zorn in ihrer Miene. Sie umfaßte mein Handgelenk mit einem so harten Griff, daß ich glaubte, die Knochen knirschen zu hören.
»Julian!« fauchte sie. Dann spuckte sie einen Fluch aus, wie ich ihn noch nie aus dem Mund einer Frau vernommen hatte und ließ mich einfach stehen. Ich sah ihr mit offenem Mund hinterher, wie sie die Treppe zum Palas erstürmte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, als gälte es, eine Schlacht zu schlagen.
Ich schüttelte meine Betäubung ab und rannte ihr aufgeregt nach. Drinnen mußte ich nicht lange nach ihr suchen, denn ihre Stimme dröhnte mir aus der Kemenate meiner Mutter entgegen.
»Ausgerechnet Julian duldest du in Ellorans Nähe?«
Das alptraumhafte Gefühl, dieselbe Szene schon einmal erlebt zu haben, überfiel mich. Nur, daß es diesmal zwei Frauenstimmen waren, die sich hinter dieser Tür über mich stritten. Mit zitternden Knien und einem ordentlich schlechten Gewissen bezog ich meinen Lauschposten. Da niemand aus meiner Umgebung bereit war, mir freiwillig etwas zu verraten, mußte ich mir meine Neuigkeiten eben auf diese schmähliche Weise besorgen.
»Warum glauben eigentlich alle, sie könnten mir Vorschriften über die Erziehung meines Kindes machen?« Ellemirs Stimme klang schrill vor Empörung.
»Ich bin wahrhaftig nicht ›alle‹, ich bin verdammt noch mal deine Mutter! Ich habe dir eingeschärft, Elloran von allen Zauberern fernzuhalten, und du läßt zu, daß ausgerechnet er ...« Ich hörte Veelora mit erregten Schritten durch das Zimmer stapfen.
»Er ist hier aufgetaucht mit einem Schreiben der Obersten Maga in der Hand. Was hätte ich tun sollen? Außerdem ist nichts passiert. Julian gibt dem Jungen sogar Unterricht.«
Großmutter stöhnte entsetzt. »Was, wenn Julian dahinterkommt?«
»Oh, aber er weiß es doch längst«, erwiderte Ellemir selbstgefällig.
Eine ganze Weile herrschte unheilvolles Schweigen. Als Veelora wieder sprach, klang ihre Stimme sehr sanft und ruhig. »Wenn er es wirklich weiß, warum hat er dann nicht gehandelt?«
»Julian hat versprochen, daß er uns nicht verrät. Er will uns helfen.«
Großmutters Lachen klang bitter. »Ein Zauberer mit Familiensinn – die Göttin stehe mir bei! Das macht meine Bitte nur noch dringender: Ich möchte Elloran so bald wie möglich zu mir holen. Die Lage hier ist zu unsicher ... Was sagt übrigens Ellorans Vater? Macht er sich keine Sorgen?«
»Natürlich sorgt er sich, sogar mehr, als es für meinen Geschmack gut ist. Er gehört auch zu denen, die glauben, sich ständig in Ellorans Erziehung einmischen zu müssen. Wahrscheinlich bildet er sich ein, ein Recht darauf zu haben, weil die beiden dauernd zusammenstecken.«
Ich traute meinen Ohren nicht. Was bezweckte sie nur mit dieser Lüge? Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als sich eine Hand schwer auf meine Schulter legte. Ich fuhr empor und blickte in das vor Zorn puterrot angelaufene Gesicht meines Vaters.
»Ich glaube es nicht!« brüllte er. »Mein mißratener Sohn hockt hinter Türen und lauscht!« Er schüttelte mich heftig. Ich wünschte, der Erdboden täte sich unter mir auf, oder ein Blitz käme vom Himmel, um mich zu erschlagen, aber nichts davon geschah. Statt dessen standen jetzt auch noch Ellemir und meine Großmutter im Zimmer und starrten mich an. Gleichzeitig erntete ich eine Maulschelle, daß meine Ohren klingelten. Morak holte ein zweites Mal aus, aber meine Mutter fiel ihm in den Arm.
»Laß ihn los«, bat sie. Morak gehorchte knurrend. Ich rieb mir die Wange und blickte auf meine Füße herab.
»Also?« fragte Ellemir scharf. Ich war mir der drei Augenpaare, die auf mich gerichtet waren, nur zu bewußt. »Mein Sohn, ich erwarte eine Erklärung für dein ungeheuerliches Betragen!« Ich schluckte trocken. Was konnte ich da schon erklären?
»Elloran, würdest du mich bitte ansehen?« Mutters Beherrschung lag wie ein dünnes Häutchen über einer vor dem Aufblühen stehenden Knospe aus Zorn. Moraks wütendes Brummen wurde lauter. Ich beendete die Inspektion meiner Fußspitzen.
»Ich – ich wollte nur endlich einmal wissen ...« Mein spärlicher Mut verließ mich vollends beim Anblick von Mutters Miene.
»Was wolltest du wissen?« fragte sie gefährlich leise. Ich sah hilfesuchend zu meiner Großmutter hinüber. Zu meiner Überraschung blickte sie mich alles andere als böse an, sie schien mir sogar aufmunternd zuzunicken.
»Was ihr mir ständig verschweigt!« platzte ich heraus. »Ihr lügt mich alle nur an und sagt mir nicht, was mit mir los ist. Aber ich habe doch ein Recht darauf ...«
Klatsch! hatte ich meine nächste Ohrfeige geerntet. Dieses Mal kam sie von meiner Mutter, die keine wesentlich zartere Handschrift führte als Morak.
»Du gehst jetzt sofort auf deine Kammer und bleibst dort. Ich will dich heute nicht mehr sehen!« Mutters Stimme bebte vor Zorn.
Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, da hörte ich drinnen meinen Vater losbrüllen, aber ich war nicht so tollkühn, den folgenden Streit ebenfalls zu belauschen. Meine Schande wog zu schwer.
So schmorte ich während des weiteren Aufenthalts meiner Großmutter auf Salvok im Stubenarrest. Ich saß herum, blätterte gelangweilt in meinen Ritterschmökern und schmiedete unsinnige Fluchtpläne. Bedeckt mit Ruhm und beladen mit Reichtümern würde ich erst als Erwachsener zurückkehren, und alle würden mir zujubeln und es schrecklich bereuen, mich so schändlich behandelt zu haben.
Eine Handvoll Kiesel, die vor meinem Bett auf den Boden prasselten, riß mich unsanft aus meinen Tagträumen. Ich blickte neugierig hinaus und entging um Haaresbreite einer zweiten Ladung kleiner Steine, die an mir vorbei ins Zimmer regnete. Auf dem Wehrgang, der vom Burgfried zum Palas führte, stand Jenka und hüpfte ungeduldig von einem Bein auf das andere.
»Was ist?« rief ich gedämpft.
»Kommst du raus? Ich muß mit dir reden.«
»Geht nicht, ich habe Arrest.«
»Pferdescheiße!« Sie kratzte sich am Kopf, dann musterte sie die Mauer zwischen dem Wehrgang und meinem Fenster. Sie spuckte in die Hände, bohrte ihre kräftigen Finger in die unregelmäßigen Fugen zwischen den Steinen und hangelte sich zu mir hinüber.
»Jen, bist du übergeschnappt?« Ich fiel vor Schreck fast aus dem Fenster.
»Halt den Mund, hilf mir lieber«, keuchte sie, eng an die Wand gepreßt, mit nichts unter sich als einer schönen Aussicht auf den Burghof. Ich suchte fieberhaft nach irgend etwas, mit dem ich ihr Halt geben konnte. Schließlich riß ich in meiner Panik das Laken von meinem Bett und schleuderte es ihr zu. Es landete auf ihrem Kopf, und sie fluchte herzhaft, weil sie nun zu allem Überfluß auch noch vollständig blind war. Vorsichtig zog ich das Laken wieder zurück und hängte mich weit hinaus, um ihr meine Hand zu reichen. Jenka klebte an der Wand, als hätte sie Saugnäpfe an Händen und Füßen und schob sich stetig immer weiter in meine Richtung. Endlich war sie nah genug, daß ich ihr Handgelenk packen und sie das letzte Stück zu mir herüberzerren konnte.
Keuchend und erhitzt, mit sich aufgeregt in alle Richtungen sträubenden Locken, hockte sie unter meinem Fenster auf dem Boden und saugte an ihren aufgeschürften Fingerknöcheln. Ich beschimpfte sie heftig für ihren Leichtsinn, aber sie lachte nur. »Was willst du, es hat doch geklappt.«
»Was gibt es denn nun für weltbewegende Dinge, die du mit mir bereden mußt, daß du deswegen riskierst, dir alle Knochen zu brechen?«
»Hast du die Soldatinnen gesehen?« Ich stöhnte. Natürlich, Großmutters Gefolge war Wasser auf den Mühlen ihrer Träume!
»Klar habe ich sie gesehen. Meine Großmutter befehligt sie.« Ich muß zugeben, daß eine kleine Portion Stolz bei diesen Worten mitschwang. Jenka sprang auf wie von einem Schwarm Ameisen gebissen und ruderte wild mit den Armen.
»Du mußt mich ihr vorstellen! Du mußt mich ihr unbedingt vorstellen!«
Ich preßte ihr eine Hand auf den Mund. »Schrei doch nicht so! Wenn dich einer hört ...« Jenka blubberte etwas und nickte heftig. Ich ließ sie los und horchte an der Tür. Auf dem Gang rührte sich nichts, Göttin sei Dank. Wir hockten uns nebeneinander auf mein Bett und flüsterten miteinander.
»Was willst du denn überhaupt von meiner Großmutter?«
»Ich will sie fragen, ob sie mich mitnimmt und ausbildet.« Ihre Augen blitzten kriegerisch und begeistert. Mir verschlug es die Sprache.
»Du willst hier weg?« stotterte ich schließlich.
Jenka griff aufgeregt nach meinem Arm. »Komm doch mit, Ell. Das wäre fein, meinst du nicht?« Ihre Begeisterung steckte mich an. Das wäre wirklich fein! Großmutter wäre bestimmt einverstanden, allerdings würde es ein hartes Stück Arbeit bedeuten, meinen Eltern die Zustimmung zu diesem Vorhaben abzuringen.
Es klopfte. Ich schnappte erschreckt nach Luft und schubste Jenka vom Bett. Sie plumpste auf den Boden und quiekte empört auf. »Versteck dich!« Ich hatte es kaum ausgesprochen, da schlängelte sie sich schon unter das niedrige Bettgestell. Meine Großmutter, die es wohl satt hatte, auf meine Einladung zu warten, öffnete die Tür und trat ein.
Verschwörerisch legte sie einen Finger auf den Mund und flüsterte: »Deine Mutter weiß nichts von meinem Besuch, also sei bitte leise.« Ich spürte ein unbändiges Kichern in mir aufsteigen. Heute schienen sich alle verschworen zu haben, mich heimlich in meiner Haft zu besuchen.
»Ich werde in Kürze abreisen und wollte vorher noch mit dir sprechen. Wahrscheinlich hebt Ellemir deinen Stubenarrest erst auf, wenn ich fort bin.« Sie kniff den Mund zusammen, als hätte sie unvermutet in etwas Saures gebissen. »Meine Einladung war ernst gemeint, Elloran. Ich würde dich gerne besser kennenlernen. Es wäre schön, wenn du eine Zeitlang bei mir leben könntest.«
»Ich glaube nicht, daß meine Eltern mich hier so bald weglassen«, entgegnete ich traurig. Veelora wiegte zustimmend den Kopf.
»Ich lasse mir etwas einfallen«, sagte sie zuversichtlich. »Über den Winter werde ich mich wahrscheinlich in Kerel Nor aufhalten, es ist keine gute Zeit zum Reisen. Im Frühling breche ich zur Kronenburg auf und bleibe dort bestimmt bis zum Ende des Herbstes.« Sie klopfte mit dem Zeigefingernagel gegen ihre Zähne und überlegte. Dann schnippte sie mit den Fingern und stieß ein kurzes Lachen aus. »Ich werde die Krone davon überzeugen, daß mein einziger Enkel im richtigen Alter für eine Einführung bei Hofe ist. Einer persönlichen Einladung der Krone können deine Eltern kaum etwas entgegensetzen!«
Ich umarmte sie wortlos. Veelora rieb sich vergnügt die Hände und wandte sich zur Tür.
»Ach, übrigens«, verharrte sie, »willst du mir nicht deinen Freund vorstellen?« Ich folgte ihrem Blick zum Fußende meines Bettes und sah einen nackten, schmutzigen Fuß darunter hervorragen.
»O – äh – ja, selbstverständlich. Das ist – nun ...« Ich kam mir reichlich albern vor, wie ich dastand und meiner Großmutter einen Fuß vorzustellen versuchte. »Bei allen Geistern, komm da raus, Jen!« Sie schob sich folgsam unter dem Gestell hervor; der Aufenthalt dort hatte sie nicht sauberer gemacht, im Gegenteil. Ich nahm mir fest vor, künftig auch unter dem Bett zu kehren. Meine Großmutter verbiß sich ein Lachen. Jenka wischte sich würdevoll etliche Staubflocken und eine beleidigte Spinne aus dem Gesicht und versuchte sich an einer Art Hofknicks. Veelora erwiderte den ungeschickten Gruß mit einer feierlichen Verbeugung, und ich rechnete es ihr im stillen hoch an, daß sie sich dabei nicht über Jenka lustig machte.
»Du bist eine Freundin von Elloran?«
»Sie ist meine beste Freundin«, mischte ich mich mit Nachdruck ein. »Sie möchte dich etwas fragen, Großmutter.« Veelora sah sie freundlich fragend an. Jenka suchte offensichtlich eingeschüchtert nach Worten.
»Jenka möchte Soldatin werden. Würdest du sie mit dir nehmen und ausbilden?« nahm ich die Sache in die Hand.
Jenka trat mir erbost auf den Fuß. »Doch nicht so mit der Tür ins Haus«, zischte sie, wunderbarerweise wieder der Sprache mächtig.
Großmutter musterte sie streng. »Sind deine Eltern damit einverstanden?«
»Meine Mutter? Ja, domna. Sie weiß, wie sehr ich mir das wünsche.«
»Gut, dann wollen wir es miteinander versuchen. Ich gehe aber zuerst zu deiner Mutter und rede mit ihr.« Veelora schmunzelte über Jenkas höflich gedämpfte Begeisterungsschreie. »Allerdings müßtest du morgen schon mit uns reiten«, setzte sie hinzu. Die beiden hockten sich auf mein Bett und besprachen die Einzelheiten der Abreise und die Bedingungen der Ausbildung. Mir war mulmig zumute. Ich hatte nur daran gedacht, Jenka zu helfen, mir aber in meinem Überschwang nicht vorgestellt, daß sie sofort abreisen würde. Wir hatten doch eigentlich gemeinsam gehen wollen ...
Es war plötzlich sehr still in der Kammer. Zwei Gesichter, ein dunkles und ein helles, sahen mich besorgt an. Ich zwang mich zu einem unechten Lächeln, das meinen Wangen weh tat. »Ich freue mich für dich, Jen. Ich komme so bald wie möglich nach, das verspreche ich dir.«
Großmutter klopfte mir sacht auf die Schulter. »Laß den Kopf nicht hängen, Elloran. Der Winter ist schnell vorüber, und im Frühjahr schicke ich sofort nach dir.« Sie lächelte mich aufmunternd an. Ich nickte tapfer und sah ihr zu, wie sie die Tür öffnete und vorsichtig in den Gang hinausspähte. Jenka kam noch einmal zurück, um mich fest zu umarmen, dann schloß sich die Tür, und ich war allein mit mir und meinen trüben Gedanken.
Jenka und die Frauen von Kerel Nor verließen die Burg am Morgen des nächsten Tages. Ellemir hatte mir Amnestie gewährt, damit ich meine Großmutter verabschieden konnte. Großmutters Soldatinnen waren noch nicht aufgesessen, aber Jenka saß schon auf einem kräftigen kleinen Apfelschimmel, der unruhig hin- und hertänzelte. Sie trug Reithosen und ein Lederkoller wie die anderen und wirkte darin sehr erwachsen und fremd auf mich. Aufregung und Stolz standen ihr deutlich ins glühende Gesicht geschrieben. Ich beneidete sie so sehr, daß es schmerzte.
Großmutters Abschied von meinen Eltern fiel recht kühl und kurz aus. Sie befahl ihren Frauen aufzusitzen und bahnte sich den Weg zu mir. Ihr Gesicht war liebevoll und mitfühlend, als sie mich umarmte. »Keine Sorge, im Frühling hörst du von mir«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Und hüte dich vor Zauberern!«
Sie drückte mich noch einmal fest an sich, dann stieg sie in den Sattel ihrer roten Stute und gab das Zeichen zum Aufbruch. Die Schar trabte in einer großen Staubwolke zum Tor hinaus. Ich sah noch einen Schimmer von Jenkas winkender Hand, dann waren sie fort.