17
Ich kauerte auf der Pritsche, Leonies merkwürdige Mitteilung in der Hand, und rieb mir die müden, brennenden Augen. Wieviele Nächte hatte ich nun nicht mehr richtig geschlafen! Es dämmerte, das trübe Licht, das durch das winzige Fensterloch hoch oben in der Wand fiel, reichte kaum noch aus, die Zelle zu erhellen. Schatten krochen in den Ecken hoch, und in jedem von ihnen glaubte ich, den blutigen Leib Cescos zu erblicken. Ich schauderte, konnte den Anblick dieser vorwurfsvollen toten Augen nicht mehr ertragen.
Jetzt hörte ich ihn auch noch, flüsternd, an der Tür kratzend: »Elloran!« Trübes Licht flackerte, ein leichter Luftzug traf mich und tastende Finger berührten meinen Arm. Ich ächzte und schlug um mich. »Elloran, verdammt! Wach auf!« Jemand rüttelte an meiner Schulter.
»Ich b-bin wach«, murmelte ich benommen. »Jenka, wie kommst d-du hier herein?« Sie kniete vor mir, eine blakende Fackel in der Hand, die ihr Gesicht unheimlich beleuchtete.
»Quatsch jetzt nicht, komm mit, aber still!« befahl sie leise und zog mich hoch. Ich sah, daß die Tür einen Spalt offen stand. Sie drückte sie noch weiter auf und blickte vorsichtig hinaus.
»Los, der Weg ist frei«, flüsterte sie und winkte mir, ihr zu folgen. Ich tappte hinter ihr her, fest der Überzeugung, mich wieder in einem meiner Alpträume zu befinden. Wir bewegten uns behutsam durch einen schwach beleuchteten Gang mit Wänden aus grob behauenem Stein. Wir mußten uns im ältesten Teil der Burg befinden, denn ich kannte diesen Gang nicht. An der ersten Ecke legte Jenka einen Finger auf die Lippen und bedeutete mir stehenzubleiben. Sie verschwand um die Biegung, und ich stand fröstelnd allein im Dämmerlicht. Bange Minuten später kehrte Jenka zurück und winkte mir zu. Kurz vor der offenen Tür einer Wachstube hieß sie mich anhalten und trat mit festem Schritt ein. Sie schob die Tür hinter sich zu, und ich huschte, wie sie mir bedeutet hatte, schnell an ihr vorbei zur nächsten Ecke.
»Guten Abend«, hörte ich sie grüßen. Tiefe Stimmen grüßten zurück. »Sagt, habt ihr Malen von der Leibgarde gesehen?« fragte Jenka. »Ich soll ihr eine Nachricht von unserer Kommandantin überbringen.« Die Antwort hörte ich nicht mehr, denn ich war um die Ecke gebogen und kauerte mich dort in einer Nische nieder, eng an die Wand gepreßt. Mein Herz schlug hart und schmerzhaft gegen meine Rippen. Laute, feste Schritte näherten sich, und ich bemühte mich, mit der Wand zu verschmelzen. Ich hielt den Atem an und stieß ihn erst wieder aus, als ich Jenka erkannte. Sie grinste mir zu, die Anspannung war aus ihrem Gesicht gewichen.
»Komm, von jetzt ab ist es ein Kinderspiel«, hauchte sie und zog mich weiter. Der Gang stieg jetzt steil an, und nach wenigen Metern standen wir im Freien. In tiefen Zügen atmete ich die klare, kalte Nachtluft ein und mußte an mich halten, um nicht laut zu jauchzen.
»Komm schon weiter«, drängte Jenka. »Noch haben wir es nicht geschafft.« Leise huschten wir von Schatten zu Schatten über den dunklen Hof. Irgendwo in den Stallungen wieherte ein Pferd, und aus dem Gesindehaus drang betrunkenes Grölen. »Heute war Winter-Krontag«, erklärte Jenka. »Inzwischen sind hoffentlich alle so weit hinüber, daß sie nicht mehr so genau hinsehen. Zur Pforte, Ell.«
Am Tor rief sie gebieterisch: »Holla, Pförtner! Zwei im Auftrag von domna Veelora! Öffne!«
Knurren drang aus dem Torhaus. »Ich komme ja schon. Was soll denn die Aufregung? Ich komme ja!« Schwerfällig trat der Torwächter heraus und schwankte zum Tor. Er entriegelte die kleine Pforte in dem riesigen Torflügel und wartete ungeduldig, daß wir hindurchtraten. Knarrend schlug die Pforte hinter uns zu, und knirschend schoben sich die Riegel wieder vor. Ich hatte Tränen der Erleichterung in den Augen. Ein Stück des Wegs hinunter, an einem dürren Baum angebunden, entdeckte ich ein stämmiges kleines Pferd aus Berg-Raulikanischer Zucht. Jenka klapste auf seine Kruppe und sagte halblaut: »Ich habe dir ein Bündel mit warmen Kleidern und ein wenig Geld zusammengepackt. Da ist ein Messer und ein Jagdbogen. Proviant findest du in der Satteltasche. Jetzt sieh zu, daß du Land gewinnst!«
Voller Dankbarkeit griff ich nach ihren Händen. »Jenka, du wirst schrecklichen Ärger bekommen, w-wenn sie dahinterkommen.«
»Ist mir klar«, antwortete sie knapp. »Aber wenn du glaubst, ich sehe mit an, wie mein bester Freund ...« Sie verschluckte, was sie hatte sagen wollen und umarmte mich heftig. Ich drückte sie an mich und spürte Feuchtigkeit auf meinem Gesicht. Sie küßte mich mitten auf den Mund und wischte sich dann mit einer ungeduldigen Bewegung die Tränen ab. »Geh jetzt endlich«, sagte sie rauh. »Und paß auf dich auf, Ell.« Sie verschwand in der Dunkelheit. Für einen Augenblick drückte ich mein Gesicht an den warmen Hals des struppigen kleinen Pferdes. Es wieherte leise und trat unruhig einen Schritt zur Seite. Ich griff nach den Zügeln und schwang mich in den Sattel. Ich wollte lieber erst ein sicheres Stück von der Burg fort sein, ehe ich mir die wärmere Kleidung anzog.
Ich ritt durch die inneren Bezirke der Stadt. Aus den Schenken fiel helles Licht; Musik und laute Stimmen, Gelächter und fröhliche Ausrufe deuteten auf einen gutgelaunten Ausklang des Winter-Krontags. Auf den Straßen war wenig Betrieb, anders als im Sommer. Der Hufschlag meines Pferdes schallte durch die engen Gassen, aber niemand kümmerte sich um den einsamen Reiter, der die Stadt durchquerte. Eine rote Katze kreuzte meinen Weg und sah mich mißtrauisch an. Ihre grünen Augen blitzten im Schein einer Fackel auf, dann war sie fort.
Ich erreichte das Tor, durch das ich vor über einem Jahr mit dem redseligen Senn die Stadt betreten hatte. Es stand wie damals offen, und ein grämlich dreinblickender Posten winkte mich umstandslos hindurch. Aber als ich mich zum Abschied noch einmal umdrehte, bemerkte ich, daß der Efeu vom Tor entfernt und das Gebüsch, das ein Schließen verhindert hätte, gerodet worden war – und die Angeln schimmerten in einem matten, tiefen Schwarz, das darauf hindeutete, daß sie frisch geschmiert waren. Die Kronstadt bereitete sich auf den Krieg vor. Mir war kalt, ich begriff zum ersten Mal wirklich, was für Folgen meine blutige Tat noch nach sich ziehen mochte.
Am Kreuzweg hinter der Brücke zügelte ich mein Pferd und dachte nach. Wenn ich nach Sturmhaven wollte – und wo sollte ich sonst hingehen? – mußte ich mich nach Südwesten wenden. Ich hatte aber wenig Interesse, zu dicht an Salvok vorbeizukommen, also war es vielleicht besser, erst einmal ein kleines Stück nach Süden zu reiten und später erst die westliche Richtung einzuschlagen. Ich wendete den Kopf meines Pferdes in die richtige Richtung und gab ihm die Sporen, als vor mir zwei schattenhafte Reiter auf dem Weg auftauchten. Sie mußten dort gewartet haben, denn ich hatte keinen sich nähernden Hufschlag vernommen. Mit einem unterdrückten Fluch griff ich zu meinem Messer. Sollte meine Flucht schon so früh entdeckt und vereitelt worden sein? Die Reiter kamen näher, und ich war fest entschlossen, mich nicht zurückbringen zu lassen. Lieber wollte ich jetzt und hier sterben. Sie kamen heran, und ich hörte den kleineren von ihnen zu seinem riesigen Begleiter sagen: »Siehst du, Kleine, sie haben es geschafft!«
»Tom!« rief ich, zittrig vor Erleichterung. »R-Ranan! Dank sei Denen-Die-Sind!«
»Ja, sicher, und zur Hölle mit Dem-Der-Nie-Seine-Schnauze-Hält«, knurrte eine mürrische Stimme. Räder knarrten, und ein Wagen schob sich aus dem Gebüsch auf den Weg hinaus. »Gut, daß du endlich da bist, Landplage, Tom quasselt mir seit zwei Stunden Fransen ins Ohr. Reiten wir jetzt bitte endlich los, ich kann gerade diesen Busch hier nicht mehr sehen!«
Ich ritt lange Zeit schweigend und erleichtert neben Tom her. Ranan hatte mich angestrahlt und dann gemurmelt, sie würde die Nachhut bilden, falls wir verfolgt würden. Ich sah ihr nach, wie sie davontrabte, sogar jetzt noch mit bloßen Füßen in den Steigbügeln. Tom musterte mich hin und wieder unauffällig von der Seite. Ich begann, in meinen dünnen Sachen zu frieren, biß aber die Zähne zusammen; nur weiter, nur weg von der Kronenburg.
Tom pfiff leise, und Akim hielt den Wagen an und beugte sich vom Bock. »Was ist los?« rief er gedämpft.
»Kleine Pause. Der Junge fällt uns sonst als Eisblock vom Pferd.« Er griff nach meinem Ellbogen und half mir, abzusteigen. Ich war steif, und meine Beine zitterten – das Reiten ermüdete mich mehr, als ich vermutet hätte. Tom ließ mich im Wagen niedersitzen und packte das Bündel aus, das Jenka mir mitgegeben hatte. Eine warme Tunika, ein dickes Unterhemd, eine weiche Wollhose landeten nacheinander auf meinem Schoß. Tom kniete sich neben mich und half meinen klammen Fingern, die Verschlüsse des Wamses zu öffnen.
Warm eingepackt, mit einem leichten, wärmenden Umhang über den anderen Sachen, saß ich kurz darauf wieder im Sattel. Ungefähr eine Stunde vor der Morgendämmerung verließen wir die Straße und ritten ein Stück in ein kleines Gehölz hinein, das den Wagen und uns vor einer zufälligen Entdeckung schützen sollte. Akim schirrte den mageren Schimmel aus, und Tom entzündete ein kleines Feuer. Dann klapperten Hufe, dürre Zweige rauschten, und Ranan gesellte sich zu uns. Schaudernd betrachtete ich ihre nackten Füße. Akim bemerkte meinen Blick. Seine Mundwinkel kräuselten sich.
»Die Kleine ist die einzige von uns, der es ehrlich davor graust, wieder nach Hause zurückzukehren«, sagte er gedämpft. »Da muß sie nämlich – warte mal.« Er hob die Stimme und rief Ranan an. Die drehte sich fragend um, und er sagte: »Ran: Stiefel!« Von einem heftigen Schauder geschüttelt, spuckte sie angewidert aus.
»Akim, du bist ein Sadist!« stellte Tom grinsend fest. »Hör auf, unsere Kleine zu ärgern und kümmere dich lieber ums Frühstück. Du bist heute dran.« Akim fluchte, und Ranan, wenig nachtragend, bot an, ihm zu helfen.
Ich stand etwas verloren herum. Tom winkte mir, mich neben ihn ans Feuer zu setzen. Er legte die Decke, die er um die Schultern trug, um uns beide und blickte in die knisternden Flammen. In den tanzenden roten und gelben Feuerzungen vor mir erschien das geliebte, gehaßte tote Gesicht und grinste mich mit seinen blutigen Augen und dem klaffenden Mund an.
»Was ist nur los mit ihm?« fragte Toms Stimme beunruhigt. Hände lagen auf meinen Schultern. »Er scheint wieder zurückzukommen. Lieber Himmel, habe ich mich erschreckt. Hast du seine Augen gesehen, Maddoc?« Ich blinzelte und sah mich verdutzt um. Mein Kopf lag in Toms Schoß, und besorgte Gesichter beugten sich über mich.
Akim steckte ein blitzendes Instrument in seine Tasche und hockte sich auf seine Fersen zurück. »Wie fühlst du dich?« fragte er barsch.
Ich schob mich hoch, von Toms Händen unterstützt. »W-warum, was ist los?« fragte ich verwirrt. »Bin ich etwa umgekippt? Ich h-hab ein bißchen wenig geschlafen in der letzten Zeit, vielleicht deshalb.« Tom und Akim wechselten einen Blick über mich hinweg und sagten nichts.
»Ja, das wird es wohl gewesen sein«, bemerkte Akim schließlich zweifelnd. »Kommt, das Essen ist fertig.«
Wir aßen stumm, in Gedanken versunken. Endlich schob Tom das Geschirr zusammen und räusperte sich. »Wir sollten jetzt reden«, sagte er. »Elloran, die Oberste Maga hat Galen gesagt, du wüßtest, wo Nikal ist. Sie wollte ihm nicht verraten, was sie wußte; wahrscheinlich wollte sie sicher gehen, daß wir dir auch helfen. Ehe wir ins Blaue weiterfahren: Wo ist Nikal?«
»In Sturmhaven, sagt L-Leonie«, antwortete ich.
»Dann liegen wir mit unserer Reiseroute bisher ja gar nicht so verkehrt«, brummte der Heiler.
Tom sah mich unbehaglich an. Dann fuhr er fort: »Wir gehen ein gewisses Risiko ein, wenn wir dich mitnehmen. Du bist ein entflohener Gefangener und ein nicht ganz unwichtiger dazu, wie mir scheint. Elloran, sei jetzt bitte ganz ehrlich. Was genau ist auf der Burg geschehen? Es kursieren die wildesten Gerüchte darüber, und ich muß wissen, was davon stimmt und was nicht.« Er wartete. Ich starrte ins Feuer und biß mir die Lippen wund, unfähig, auszusprechen, was ich verbrochen hatte.
Tom seufzte und sagte geduldig: »Elloran, Junge! Wir lassen dich nicht im Stich, das verspreche ich dir. Ich muß aber wissen, womit ich zu rechnen habe, wenn wir dich verstecken. Stimmt es, daß du deinen Liebhaber umgebracht hast?« Ich nickte stumm. Er sprach weiter. »Du warst betrunken und mit Drogen vollgepumpt, richtig?« Nicken. Er schwieg. Ranan und Akim sahen sich erschüttert an.
Tom sagte leise: »Der Ermordete war eine wichtige Geisel, sagt Galen. Wenn die Inseln davon erfahren, fordern sie deinen Kopf. Deshalb wird Karas versuchen, deiner habhaft zu werden, das ist dir doch klar? Es wäre seine einzige Möglichkeit, einen Krieg zu verhindern, wenn er dich ausliefert.«
Ich konnte meine Begleiter nicht ansehen. Was würde ich in ihren Blicken lesen: Ekel, Abscheu, Widerwillen, daß sie ihr Feuer mit einem Mörder teilen mußten, der seinen Geliebten abgeschlachtet hatte?
Tom legte seine Hand auf meinen Rücken. »Komm, Kleiner«, sagte er sanft. »Wir werden jetzt alle eine Runde schlafen. Alles Weitere wird sich schon finden.«
Ranan legte noch ein paar Zweige auf das Feuer, und wir wickelten uns in unsere Decken. Das tiefe, ruhige Atmen der anderen beruhigte meinen aufgewühlten Geist. Ich schloß die Augen und sank in Schlaf.
Als ich dieses Mal erwachte, wußte ich sofort, wo ich war. Das vertraute Schaukeln und Rütteln des Wagens, die leisen Gespräche der beiden Männer auf dem Bock – es war, als wäre die Zeit zurückgedreht worden, und ich wieder auf dem Weg von Salvok zu meiner Großmutter. Ich rollte mich auf die Seite und stand schwankend auf. Etwas polterte zu Boden, und ich hörte Tom rufen:
»Bist du endlich wach, Kleiner?« Sein freundliches Gesicht blickte durch die kleine Luke. Ich lächelte ihn an und stieg in meine Stiefel. Er neigte sich zu Akim und sagte etwas. Der Wagen hielt an, und Tom stieg zu mir um. Er hockte sich auf eine Kiste und sah mich schräg an.
»Das wird dir jetzt nicht gefallen. Wir sind auf dem Weg nach Salvok.« Ich schrie auf. Tom legte beruhigend eine Hand auf meinen Arm. »Keine Sorge, Elloran. Wir haben nicht vor, dich bei deinen Eltern abzuliefern. Akim besteht darauf, daß wir dort vorbeifahren und Jemaina abholen.« Ich sah ihn verständnislos an. Er starrte zurück, einen beunruhigten Ausdruck in seinen türkisfarbenen Augen. Dann lächelte er kurz und gab mir einen Klaps.
»Möchtest du hier hinten bleiben oder lieber auf den Bock?« bot er an. Ich rümpfte die Nase und bat um frische Luft.
»Aber ich k-kann auch reiten«, setzte ich eilig hinzu. »Warum r-reist ihr überhaupt mit dem Wagen? Damit kommen w-wir doch viel langsamer voran.« Er grinste schief.
»Damit du uns nicht ständig schlafend vom Gaul fällst«, neckte er. Dann näherte er seinen Mund meinem Ohr und raunte: »Außerdem kann Maddoc nicht reiten!«
»Was?« rief ich erstaunt.
»Das habe ich gehört!« schimpfte Akim. »Das ist eine verfluchte Lüge, Kater! Nimm es sofort zurück!«
»Mit dem Ausdruck größten Bedauerns«, spöttelte Tom. »Ich habe mich nur ungenau ausgedrückt. Du kannst schon reiten, du hast nur etwas Mühe, das auch deinem Pferd klarzumachen.« Akim brüllte, und ich mußte lachen.
»Erinnere m-mich daran, daß ich dir v-von Senn erzähle«, sagte ich atemlos. Tom sah mich fast zärtlich an und knuffte mich in die Seite.
»Los, klettere du neben Maddoc. Ich halte mich jetzt besser eine Weile von ihm fern.«
Ein frischer, kalter Wind pfiff um meine Nase und vertrieb den letzten Rest von Schläfrigkeit aus meinem Schädel. Ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr.
»Wo h-habt ihr eigentlich euren g-gräßlichen Captain gelassen?« fragte ich nach einer langen Strecke des Schweigens. Akim schniefte verdrießlich und spuckte aus.
»Das läßt du Quinn besser nicht hören, sie hält sich für unwiderstehlich«, antwortete er. »Sie ist in der Kronenburg und paßt auf unser haarloses Wunder auf. Aber keine Sorge, sie werden später zu uns stoßen. Ran reitet noch einen oder zwei Tage mit uns, bis wir sicher sind, daß uns niemand verfolgt; dann kehrt sie zurück und meldet Quinn, wohin wir unterwegs sind.«
Ich verdaute die Neuigkeit schweigend. »Akim«, fragte ich dann vorsichtig. »W-was ist die Allianz?«
Er jammerte. »Tom«, rief er. »Komm bitte her und erlöse mich, der Junge macht Konversation!« Ich schwieg beleidigt. Tom trabte heran, und ich erntete einen heimtückischen Blick von der Seite.
»Hallo Biest«, murmelte ich bedrückt. Tom sah von Akim zu mir und seufzte.
»Du wolltest mir von Senn erzählen«, sagte er dann besänftigend. Notgedrungen schluckte ich die Ablenkung und begann nach ein paar Minuten sogar, mich für mein Thema zu erwärmen. Tom reagierte genauso, wie ich es mir ausgemalt hatte: Er kringelte sich vor Vergnügen und bestand darauf, daß ich auch einige der Lieder zum besten gäbe. Ich tat mein Möglichstes, und bald grölten wir zu zweit die schlüpfrigsten Stellen, daß es nur so durch den Wald schallte. Sogar Akims düstere Miene erhellte sich ein wenig bei dieser Darbietung. Ranan galoppierte heran und schimpfte: »Was macht ihr denn nur für einen Radau? Seid ihr betrunken?«
Tom lenkte sein Pferd neben ihres und erzählte ihr in gedämpftem Ton die Geschichte von dem Olysser und dem Marmeladentopf. Sie wurde abwechselnd rot und blaß, und bei der Pointe schrie sie vor Lachen. Ihr Pferd klappte verschreckt die Ohren nach hinten und rollte mit den Augen.
»Du bist ein Schwein, Tom, ich habe es immer gewußt«, brüllte sie begeistert und hieb ihm auf die Schulter. Das warf ihn fast aus dem Sattel, aber er trug es wie ein Mann.
»Nicht ich bin das Schwein«, sagte er säuerlich. »Bedanke dich bei unserem unschuldigen jungen Reisegefährten, der in seinem zarten Alter einen großen Teil der Geschichten eigentlich gar nicht verstanden haben dürfte, die er da erzählt.« Plötzlich schwiegen alle peinlich berührt. Tom wurde blaß, als er begriff, was er gesagt hatte – und überlegte, was er von meinen letzten Monaten auf der Burg wußte. Die Gerüchte, die er vernommen hatte, waren sicherlich wild gewesen, aber ich bezweifelte ernsthaft, daß sie die Realität auch nur im Entferntesten erreichten. Akim gab einen erstickten Laut von sich, und ich schloß beschämt die Augen.
»Ach verdammt«, fluchte Tom. »Kleiner, es tut mir leid. Ich rede manchmal, ohne vorher nachgedacht zu haben.«
»Der-Der-Keinen-Fettnapf-Verfehlt«, flüsterte Akim neben mir. »Seit Jahren sein persönlicher Schutzgeist, mußt du wissen.« Ich kicherte. Die Weiterreise verlief in erstaunlich entspannter Stimmung.
An einem der nächsten Tage verließ uns Ranan, um zurückzureiten. Wir näherten uns unaufhaltsam der Grenze von Salvok. Akim weigerte sich zu erklären, warum er Jemaina aufsuchen wollte. »Muß sie was fragen«, knurrte er bärbeißig, und dabei beließ er es.
Tom und ich wahrten vorsichtigen Abstand. Ich fühlte mich schuldig, weil ich wußte, daß er mich noch immer liebte. Aber ich konnte keine Berührung, keine Nähe ertragen. Tom sorgte sich um mich, das sah ich ihm an. Was ihn wohl am meisten erschreckte, waren meine ›Anfälle‹, wie er es nannte. Ich erinnerte mich nie daran, und er weigerte sich, sie mir zu beschreiben.
Zwei Tagesreisen vor Burg Salvok ließ Akim uns ein Lager aufschlagen und schwang sich auf mein kleines Pferd. Er sah nicht sehr glücklich dabei aus, aber ich stellte fest, daß Tom wieder einmal maßlos übertrieben hatte. Der schmächtige Heiler war durchaus in der Lage, sich im Sattel zu halten.
Wir redeten in der Zeit, in der wir auf Akims Rückkehr warteten, viel miteinander. Tom zeigte sich behutsam und rücksichtsvoll, und er brachte mich dazu, von meiner besessenen Leidenschaft für Cesco zu erzählen.
»Warum t-tust du das für mich?« fragte ich ihn, als er wieder eine Nacht lang neben mir hockte und mit mir redete, weil mich die Angst vor dem Einschlafen hatte. Er lächelte nur und sagte nichts. Sein Gesicht war müde. Ich wanderte ruhelos auf der kleinen Lichtung auf und ab, vier Schritte ... vier Schritte ... Ich hielt es nicht mehr aus. Ich rannte zum Wagen und wühlte darin herum. Er kam hinter mir her und lehnte sich an die Tür.
»Was suchst du?« fragte er seltsam ruhig.
»D-den Weinschlauch«, ich schluchzte fast. »Das würde mir h-helfen, Tom, das hilft immer. B-bitte, Tom, sag mir, wo er ist! Bitte!« Er griff nach meinen Handgelenken und hielt sie wie ein Schraubstock. Ich schrie. Das fette, unendlich verkommene Gesicht war wieder da, es sah mich an, und ich wußte für eine blitzartige Sekunde wieder, wessen Gesicht es war. Ich schrie wie ein Wahnsinniger. Tom zog mich an sich und hielt mich fest. Ich schlug auf seinen Rücken ein und kreischte; versuchte, ihn zu treten, schrie, schrie, bis ein heftiger Hieb meinen Kopf traf und ich bewußtlos wurde.
»Ich dachte, ich schaue mal nach dir.« Ihre Hände strichen über meinen Kopf. »Du siehst ja gräßlich aus.« Noch nie hatte die Stimme meiner Schwester so beunruhigt geklungen. Ich leckte mir über die trockenen Lippen und sah aus trüben Augen zu ihr auf.
»Leonie läßt dich grüßen. Auf der Burg geht alles drunter und drüber. Sie steht offiziell unter Arrest, weil sie dir zur Flucht verholfen hat.« Sie lächelte schmal. »Sie hat es zwar geschafft, Jenka ein hieb- und stichfestes Alibi zu verschaffen, aber damit hat sie sich selbst in die Pfanne gehauen.« Ich stöhnte. Sie fuhr fort: »Dein Großvater hatte den schlimmsten Anfall seit Jahren. Alle haben gedacht, er würde ihn diesmal nicht überleben. Veelora ist einem Nervenzusammenbruch nahe. Du siehst, es scheint richtig lustig zu sein.« Ich hätte sie schlagen können, wenn ich mich nur hätte bewegen können. Was bezweckte sie nur damit, daß sie mich so quälte?
Sie legte ihre kühle Hand auf meine Stirn und sagte mahnend: »Wenn du dich weigerst hinzusehen, wird alles nur noch schlimmer. Warum begreifst du das nicht endlich?« Ich schloß die Augen, schloß sie aus. Sie stöhnte ergrimmt, und ich spürte, daß sie wieder fort war.
Hände hoben mich sacht an und drehten meinen Kopf. »Aï«, seufzte eine Frau. »Bei Der-Die-Wacht, was ist nur mit meinem Kind geschehen?« Die Hände fuhren über mein Gesicht und meinen Hals. »Ich brauche mehr Licht«, sagte sie gebieterisch. Eine Tür knarrte. Trübes Winterlicht fiel in den Wagen, und sie ächzte unzufrieden. Ich öffnete meine Augen einen winzigen Spalt. Ein dunkles Gesicht beugte sich über mich.
»Jemaina«, flüsterte ich und öffnete die Augen ganz.
»Guten Morgen, Elloran«, sagte sie liebevoll. »Ich würde dich gerne untersuchen, ist das in Ordnung?« Ich nickte schwach und versuchte, mich aufzusetzen. »Nein, bleib ruhig liegen«, sagte sie und drückte mich zurück. »Kim, das reicht nicht, gib mir eine Kerze oder besser zwei. Nein, drei. Es ist so verdammt duster hier drinnen!«
Der Heiler sagte laut und deutlich: »Ach, verflucht! Ich weiß was Besseres! Tom, mach die Tür zu.«
»Akim, du bist übergeschnappt!« rief der warnend. Die Tür schlug zu, und etwas schwirrte. Helles, warmes Licht fiel auf mein staunendes Gesicht, wie Sonnenlicht an einem schönen Sommermorgen. Jemaina brummte zufrieden und ungerührt und bewegte meinen Kopf. Sie hob eines meiner Augenlider und sah prüfend in mein Auge. Dasselbe mit dem anderen. Dann betastete sie meine Wangen, meinen Hals.
»Akim, hilf mir mal«, sagte sie knapp. Sie zogen mir mein Hemd über den Kopf. Jemaina sog scharf die Luft ein. »Oh, bei allen Geistern«, rief sie erschüttert. Sie tastete über meinen Bauch, meinen Unterleib, drückte prüfend meine Seite.
»Der Rücken sieht genauso aus?« fragte sie scharf. Akim nickte. »Zieh ihn wieder an.« Das Hemd glitt über meinen Kopf. Sie nahm meine Hand und zog sie vor ihre Augen. Sie grummelte etwas und zog die Finger auseinander, betrachtete die Zwischenräume, drückte auf meine Nägel, drehte die Hand und strich über die Innenfläche. Dann legte sie meine Hand behutsam auf die Decke und stand auf.
»Lösche dieses wunderbare Licht, Akim. Tom, mach die Tür auf, ich brauche dringend frische Luft. Kommt, wir setzen uns auf die Stufen.«
Es war wieder dunkel. Ich schloß ermattet meine Augen. Die Stimmen auf der Wagentreppe murmelten.
» ... eine Vielzahl von Drogen«, sagte Jemaina. »Ich denke, ich brauche ihn nicht zu fragen, was es alles war.« Sie hob ein wenig die Stimme und rief: »Weißt du, was du für Drogen geschluckt hast, Elloran? Kannst du sie mir benennen?«
Ich schluckte und antwortete heiser: »Nur zum Teil, Jemaina. Cesco hat sie besorgt, und ich kannte nicht alles.« Sie knurrte. Zarter grauer Rauch kräuselte sich aus ihrer Pfeife, und ein vertrauter, herber Duft zog an meiner Nase vorbei. Ich lächelte unwillkürlich und schloß die Augen.
»Laß uns sehen, was wir haben«, murmelte Jemaina undeutlich am Mundstück ihrer Pfeife vorbei. »Kim, du hast ihn doch untersucht, nachdem er dieses mysteriöse Gift verabreicht bekommen hat. Hast du seinen Bauch abgetastet?« Akim bejahte fast empört. Sie fuhr fort: »Du hast seine Haut gesehen, seine Augen, die Blutergüsse ...«
»Und was für Blutergüsse«, warf Tom ein. »Der Kerl muß ihn fürchterlich verprügelt haben, und nicht nur mit bloßen Händen!« Ich protestierte leise.
Jemaina erhob sich und kam zu mir, die beiden Männer hinterher. Sie hockte sich neben mich und sagte: »Sieh her, Kim.« Sie nahm meinen Arm und drückte sacht mit dem Daumen auf die Haut. Sie nahm den Daumen weg, und ich beobachtete gebannt, wie eine deutliche Delle einen Augenblick lang stehenblieb und sich dann langsam wieder ausfüllte.
»Und die Blutergüsse«, sagte sie, »dafür war nicht mehr nötig als das.« Sie zog mein Hemd ein Stück hoch, murmelte: »Entschuldigung, Elloran«, und kniff fest in das weiche Fleisch an meinem Bauch. Vor unseren Augen bildete sich ein häßlicher, violetter Bluterguß. Akim war blaß geworden.
»Ich Idiot«, flüsterte er und fragte mich: »Hast du hin und wieder auch Blutergüsse gefunden, ohne zu wissen, woher sie stammen?« Ich nickte. Erst gestern früh hatte ich an meinem Oberschenkel einen großen blauen Fleck entdeckt, der über Nacht aus dem Nichts entstanden sein mußte. Akim und Jemaina sahen sich an.
»Du weißt, was das bedeutet«, sagte Jemaina, und Akim nickte.
»Wie sah das Zeug aus, das du genommen hast?« fragte sie mich. Ich erinnerte mich nicht. »Kleine gelbe Kristalle?« bohrte sie weiter. Ein Tütchen erschien vor meinen Augen. Cesco sagte ›Traumstaube‹. Ich ächzte und nickte heftig.
»Hat dein Liebhaber es auch genommen?« fragte sie weiter. Ihre Stimme klang angespannt, obwohl ihr Gesicht gelassen wie immer war.
»Nein, ich g-glaube nicht. Er muß es in die zweite Kanne Wein gemischt haben, und d-die hat er mir g-ganz allein eingeflößt. Ich w-wäre fast daran erstickt.« Die Erinnerung war schmerzhaft deutlich. Sie nahm beruhigend meine Hand.
»Es ist, wie ich vermutet habe«, sagte sie leise zu Akim. »Er hat zweimal versucht, ihn mit Traumstaub zu vergiften. Eigentlich ist es ein Wunder, daß er das überlebt hat. Aber das ist noch nicht alles ...«
Ich blickte sie starr vor Entsetzen an. Wen meinte sie mit ›Er‹?
Akim schüttelte den Kopf. »Wie kannst du sicher sein, daß es dasselbe Zeug war, das du meinst? Er erinnert sich doch gar nicht richtig daran.«
Sie steckte die Pfeife zurück in ihren Mund und sog nachdenklich daran. Ihre Hand lag noch immer auf meiner. »Ich kenne seine Auswirkungen zu gut, Lieber. Ein alter Freund von mir hat sich damit vergiftet, und ich habe ihn in seinen letzten ... ich habe ihn gepflegt. Ellorans Alpträume; daß er nicht mehr wagt zu schlafen; die Erinnerungslücken, wenn er seine ›Anfälle‹ bekommt, wie Tom das nennt.« Sie warf dem unglücklich aussehenden Kater ein warmes Lächeln zu. »Dann seine Augen, die vergröberte, aufgeschwemmte Haut, die Blutergüsse, die geschwollenen inneren Organe, seine Fingernägel – Akim, glaube mir, das Gift wirkt noch immer.« Sie sah mich mitleidig an.
Ich starrte in ihre dunklen Augen und krächzte: »M-muß ich sterben, Jemaina?«
Sie schüttelte den Kopf und antwortete streng: »Daß du dein Leben mit all den Drogen, die du in diesen Neunwochen geschluckt hast, nicht gerade verlängert hast, dürfte dich nicht verwundern. Aber sterben – nein, mein Liebes, daran denkst du besser noch eine ganze Weile nicht.« Sie grub in einer ihrer abgrundtiefen Rocktaschen und nahm ein in Leder gewickeltes Päckchen heraus. Daraus schüttelte sie einige dünne, aus getrockneten Blättern gerollte Stäbchen in ihre Hand und hielt sie mir hin. »Du weißt, was das ist?« Ich zog eine unschuldige Miene. Sie lachte und sagte: »Das habt ihr mit Sicherheit oft genug geraucht, Elloran. Glückskraut. Ich verordne es dir als Medizin, du darfst es rauchen, wenn du nicht einschlafen kannst, oder wenn du Schmerzen hast. Es ist einigermaßen harmlos, jedenfalls harmloser als alles, was du sonst so geschluckt hast. Außerdem wird Akim dir einen Ernährungsplan zusammenstellen. Du solltest kein Fleisch mehr essen, das vergiftet dich noch zusätzlich. Dein Körper hat genügend damit zu tun, mit dem Traumstaub fertigzuwerden. Wenn es dir hilft, kannst du hin und wieder einen Becher Wein trinken – aber nicht mehr! So, und jetzt rauch ein Stäbchen und schlaf, Elloran. Ich bleibe noch ein wenig hier, wir sehen uns also noch.« Sie beugte sich über mich und gab mir einen Kuß. Ich lächelte sie dankbar an und steckte ein Röllchen Glückskraut zwischen die Lippen.
Sie flüsterte: »Anzünden kannst du es dir sicher selber, hm?« Ich riß die Augen auf und staunte. Woher wußte sie das jetzt wieder? Sie blinzelte mir zu und winkte den Männern, mich allein zu lassen. Sie hockten sich wieder auf die Treppe, und während ich den kühlen, grünen Rauch einatmete und langsam fortdämmerte, hörte ich sie leise sprechen.
»Ein Gift aus den tiefsten Tiefen der Hölle«, sagte Jemaina. »In ganz winzigen Mengen genommen, regt es stark die Sinne an und verhilft zu wilden, bunten Träumen bei wachem Bewußtsein. Jemand, der es einnimmt, kann schon sehr bald überhaupt nicht mehr schlafen. Das Schlimmste aber ist, daß diese kleinen Dosen sich im Körper sammeln, es baut sich nicht ab. Das bedeutet, daß es den Süchtigen irgendwann tötet – so sicher wie ein Schwerthieb, allerdings nicht ganz so schnell und sauber. Der Freund, von dem ich sprach: Er war süchtig nach Traumstaub, und er hat einmal eine zu große Menge davon genommen. Ich habe ihn in seinen letzten Wochen gepflegt und möchte das ungern noch einmal erleben. Das Gift zersetzt den Körper, es läßt den Menschen von innen her verfaulen. Ich habe mir damals geschworen, jemandem lieber vorher die Kehle durchzuschneiden, als ihn das durchmachen zu lassen. Was ich mir nicht habe vorstellen können, ist, daß das jemals Elloran betreffen könnte.«
Sie seufzte. Ich hörte Akim unbehaglich murmeln. Über wen sprachen sie überhaupt? »Jemaina! Ich habe einen Teil der Anzeichen, die du beschreibst, doch schon bei meiner ersten Untersuchung gleich nach dem Giftanschlag festgestellt. Wie kann das denn sein? Er müßte dafür doch vorher schon damit in Berührung gekommen sein.«
Sie lachte, kurz und böse. »Das ist der Punkt, der mich nicht ruhen läßt, Kim. In dem Winter, bevor ihr nach Salvok kamt, war Elloran schwer krank. Er hat lange zwischen Leben und Tod gelegen, und ich konnte nicht herausfinden, was er hatte. Ich muß blind gewesen sein, daß ich es nicht erkannte; aber der Gedanke lag zu fern.« Sie schwieg und klopfte heftig ihre Pfeife aus. »Es hat offensichtlich damals schon jemand versucht, ihn damit umzubringen«, sagte sie hart. »Ich weiß nicht, welcher Schutzgeist seine Hand über ihn hält, Kim. Eigentlich hätte er bis heute schon dreimal tot sein müssen.«
Ich entzündete das zweite Stäbchen Glückskraut und seufzte befriedigt. Mein Kopf war ganz leer und ruhig, zum ersten Mal seit undenkbaren Zeiten. Meine Freunde saßen vor der Tür und plauderten friedlich miteinander, und ich fühlte mich warm und geborgen. Es ging mir gut. Alles war gut. Ich konnte schlafen.
Der Duft von frischgebrühtem Tee weckte mich. Es erinnerte mich an Salvok, an die behagliche Kate der Heilerin. Ich schlug die Augen auf und reckte mich genüßlich. Ich fühlte mich, als könnte ich einen kleineren Wald mit bloßer Hand roden. Eilig sprang ich in meine Kleider und kletterte aus dem Wagen. Jemaina und die beiden Männer saßen um das Feuer und steckten die Köpfe zusammen. Ich trat zu ihnen und wünschte fröhlich einen guten Morgen. Jemaina streckte mir ihre Hände entgegen, die ich liebevoll ergriff und drückte mir einen Kuß auf die Wange.
»Guten Morgen, Elloran. Du siehst besser aus, geht es dir gut?«
»Wunderbar!« versicherte ich und begrüßte Akim und Tom. Der wirkte übernächtigt, und ich dachte schuldbewußt daran, daß ich ihn einige Nächte wach gehalten hatte.
»Wir wollen heute weiter«, sagte er und schlürfte seinen Tee. »Fühlst du dich kräftig genug, Kleiner?« Ich versicherte, daß das der Fall sei und setzte ein wenig ungeduldig hinzu: »Macht nicht so einen Aufstand. Ich b-bin doch nicht krank!« Jemaina und Akim wechselten einen schnellen Blick, und die Heilerin nickte.
»Du reitest also zur Kronenburg und berichtest, was du herausgefunden hast?« setzte Tom offensichtlich das vorhergegangene Gespräch fort. Jemaina verzog das Gesicht und nickte. »Aber ich kann nicht sofort los«, sagte sie. »Ich muß mich noch um einen Ersatz für mich kümmern. Ich habe ein paar Pfleglinge, die ich nicht ohne weiteres alleinlassen kann.« Sie steckte ein Stück Kautabak zwischen die Zähne und dachte nach. Dann erhellte sich ihre grübelnde Miene, und sie sagte: »Tom, ihr kommt auf eurem Weg doch durch Nelan. Wenn ihr dort bei der Heilergilde Bescheid sagt, daß sie jemanden nach Salvok schicken sollen, dann könnte ich sofort abreisen.« Sie beschrieb Tom den Weg, und Akim sagte, er würde das Haus der Gilde wiederfinden, er hätte schon einmal dort übernachtet.
Die Männer begannen, das Lager abzubrechen. Jemaina zog mich beiseite. »Komm, laß uns ein paar Schritte gehen«, schlug sie vor. Wir streiften ziellos den Hang hinauf und machten eine kurze Pause auf der Kuppe des Hügels. Jemaina hatte sich bei mir eingehängt und ihre Hand mit meiner verschränkt.
»Wie geht es Jenka?« fragte sie. Ich lächelte und erzählte von ihrer Nichte. Sie nickte, hörte aber nicht zu. Ich stockte und blickte sie fragend an. Sie war mit ihren Gedanken offensichtlich ganz weit weg.
»Jemaina«, sagte ich behutsam, »w-wie lange werde ich n-noch leben?« Sie zuckte zusammen und löste ihre Hand aus meinem Griff. Sie griff nach dem kleinen Beutel mit Tabak und stopfte ihre Pfeife. Ich ließ sie nicht aus den Augen. »Du darfst mich nicht belügen«, drängte ich. »Ich habe ein R-Recht darauf, es zu wissen!«
Sie entzündete den Tabak und paffte ein paar Züge. Ihr Gesicht unter dem langsam ergrauenden Haar wirkte nachdenklich und ernst. »Setzen wir uns?« schlug sie vor und hockte sich auf einen großen Stein. Ich schmiegte mich an sie und legte meinen Arm um ihre Hüfte.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Aber wahrscheinlich bleibt dir nicht mehr viel Zeit, Kind. Drei Jahre; vier, wenn du Glück hast. Aber vielleicht auch weniger. Du hast eine irrsinnig große Menge Gift im Körper. Eigentlich dürftest du gar nicht mehr hier neben mir sitzen.« Sie verstummte, und ich senkte den Kopf.
»Man k-kann nichts dagegen tun?« flüsterte ich und spürte, wie sie den Kopf schüttelte.
»Ich kann dir nicht helfen, ich kenne kein Mittel dagegen. Vielleicht könnte es Akim ja«, sie verstummte und blies einen Rauchkringel in die Luft. »Aber der wird dir nicht helfen. Rechne zumindest nicht damit. Er verbirgt vieles vor uns, aber ich glaube nicht, daß er es böswillig tut. Er darf es wohl nicht, die Allianz erlaubt es nicht ...«
Ich fror. Drei Jahre, wenn ich Glück hatte? Und bis dahin böse Träume, immer wieder Augenblicke, an die ich mich nicht würde erinnern können, und Angst vor einem schrecklichen Tod? Wäre es nicht besser, mich gleich jetzt zu töten und es hinter mir zu haben? Jemaina sah mich besorgt an und nahm mein Gesicht zwischen ihre dunklen Hände.
»Denk nicht daran«, befahl sie. »Ich verspreche dir, ich werde nach einem Weg suchen, dir zu helfen. Und wenn ich versage, dann werde ich zumindest dafür sorgen, daß du nicht leiden mußt. Du hast mein Wort darauf, mein Kind!« Ich umarmte sie mit trockenen Augen und schmerzender Kehle.
Jemaina und Akim verabschiedeten sich zärtlich voneinander. Ich sah der Heilerin nach, wie sie ihr olyssisches Pony bestieg und davonritt. Akim schwang sich auf den Bock, atmete erleichtert auf und sagte: »Ah, das ist doch ganz was anderes als ein Sattel!« und gab dem Schimmel das Zeichen, anzuziehen.
Ich hatte mich entschieden, heute lieber zu reiten und trabte stumm neben Tom her. Er summte tonlos vor sich hin. Sein Blick war verschattet und melancholisch, eine Stimmung, die so überhaupt nicht zu meinem Reisegefährten zu passen schien. Ich räusperte mich und erzählte ihm die Geschichte von der Frau, die ihr Mann mit dem Knecht im Heu erwischt hatte. Sein Gesicht blieb zuerst düster, aber dann begannen seine Mundwinkel sich zu kräuseln. Ich schwatzte einfach drauflos, um Tom abzulenken. Na gut, ein bißchen auch, um mich selbst abzulenken. Es gelang.
Gegen Abend erreichten wir Nelan. »Hoffen wir nur, daß sie noch keine Beschreibung von uns haben«, unkte Akim, als wir in die Stadt hineinrollten.
Das Haus der Heilergilde war groß und weitläufig, die freundliche Eingangshalle ähnlich belebt wie der Marktplatz der Kronstadt. Akim wurde von einigen der Anwesenden gegrüßt. Er sprach kurz mit einer großen, fülligen Norrländerin, die eine Art Pförtnerin zu sein schien – und kam dann zu uns zurück.
»Wir haben Glück«, sagte er. »Der Großmeister ist da und hat Zeit für mich. Und wir können in einem Gastzimmer der Gilde übernachten, müssen also nicht das Risiko eingehen, in der Stadt womöglich erkannt zu werden.« Er schien sich wirklich zu sorgen, daß unsere – meine – Beschreibung schon im Umlauf war.
Später saßen wir in der sogenannten Kantine und nahmen ein herzhaftes Abendessen zu uns – genauer gesagt, Tom und Akim nahmen es zu sich. Ich war wieder zu meinen geliebten Gemüsestengeln und Getreidebreien zurückgekehrt. Ich kaute mißmutig auf einem zähen Stück Dörrobst herum und sah mich in dem großen, hell erleuchteten Raum um.
»Der Großmeister schickt eine erfahrene L'xhanische Heilerin nach Salvok. Und er wird eine Nachricht an den Burgherrn mitsenden, daß Jemaina wegen Gildenangelegenheiten aus Salvok abberufen wird. Das ist vielleicht unnötige Vorsicht, aber ich denke, in diesem ganzen Intrigenspiel kann eine falsche Fährte nicht schaden. Ehe wir nicht wissen, wer hinter den Mordanschlägen steckt ...« Tom warf Akim einen warnenden Blick zu. Ich löste meinen Blick von einem dunkelhäutigen Mann, der ein Bruder von Leonie hätte sein können, und wandte mich meinen Begleitern zu.
»Wen hat Jemaina eigentlich gemeint, als sie sagte, ›er hat zweimal versucht, ihn zu vergiften‹?« fragte ich. Akim verdrehte die Augen.
»Junge, bist du so dumm, oder stellst du dich nur so?« fragte er barsch. Tom legte eine Hand auf seinen Arm und sagte mahnend: »Maddoc!« Aber Akim ließ sich nicht bremsen. »Dein prinzlicher Liebhaber, dieser Schmetterling Cesco, hat versucht, dich abzumurksen. Das ist doch so klar wie ...« Ich hörte nicht mehr, was er weiter sagte. Mein Blick verschwamm, und ich mußte nach der Tischkante greifen, um mich festzuhalten.
»Akim, jetzt hast du es geschafft«, drang undeutlich Toms Stimme durch das laute Rauschen in meinen Ohren. »Du bist mir ein schöner Arzt!« Kräftige Arme fingen mich auf und hoben mich hoch. Schmale Hände kniffen mich in die Seite, und eine Stimme flüsterte: »Ai, mî bêl amor!« Ich schrie und schlug die Hände weg, die über mein Gesicht strichen. Blut tropfte warm und salzig auf meine Lippen herab und rann kitzelnd über meine Wangen. Ich keuchte und schlug die Augen auf. Ich lag auf einem schmalen Bett, und besorgte Katzenaugen starrten auf mich herab.
»Bist du wieder da, Kleiner?« Ich nickte schwach und wischte über die Nässe auf meinem Gesicht. Ängstlich blickte ich auf meine bebenden Finger herab, aber sie waren nur feucht, nicht rot verschmiert, wie ich befürchtet hatte. Tom wühlte in meinem Bündel und holte das Päckchen Rauchstäbchen heraus. Er drückte mir eines davon in die Hand, und ich versuchte vergeblich, es in den Mund zu stecken. Meine Hände zitterten so stark, daß ich das Stäbchen fast zerbrach. Er nahm es mir behutsam ab und steckte es mir zwischen die Lippen. Dann drehte er sich um, weil er eine Kerze vom Tisch holen wollte. Er reichte sie mir hin und erstarrte. Dünner grüner Rauch kringelte sich von dem Stäbchen zwischen meinen Lippen und zerfaserte in dem leisen Luftzug, der von dem halboffenen Fenster kam.
»Wie hast du das ...« Er atmete tief durch und stellte ergrimmt die Kerze ab. »Ich weiß schon«, knurrte er, »du hast gezaubert!« Ich war zu schwach, um zu lachen, aber auch mein winziges Lächeln schien ihn zu beruhigen. Das Glückskraut tat seine Wirkung, ich fühlte mich angenehm benommen.
Er reichte mir ein zweites Stäbchen, als das erste zu einem winzigen Rest Asche geworden war. Ich konnte es jetzt selbst halten, obwohl meine Hände immer noch unsicher waren.
»Tom«, fragte ich, »ist das wahr?« Er hockte nackt auf dem Bett neben dem meinen und knotete eine gerissene Verschnürung an seinem weichen, grünen Hemd zusammen.
»Was?« fragte er zurück.
»Daß – Cesco ...« Ich konnte es nicht aussprechen. Er stand auf und kniete sich neben mein Bett auf den Boden.
»Es ist eine Vermutung«, sagte er behutsam und strich sanft über meine Schulter. »Niemand kann das jetzt noch beweisen. Vielleicht war alles ganz anders.« Sein Blick strafte seine Worte Lügen.
»Ach, Tom, du hast ihn nicht gekannt. Er – er war so – wunderbar ...« Ich weinte nicht. Ich würde nie mehr weinen. Es war vorbei. Cesco war tot, und ich würde ihm sehr bald folgen. Was war noch wichtig? Tom nahm mir den heruntergebrannten Rest des Glücksblattes aus der Hand und legte seine kräftigen Finger um mein Kinn. Er küßte mich sanft auf die Lippen und deckte mich zu.
»Weck mich auf, wenn du nicht schlafen kannst«, sagte er. Ich nickte, und er löschte das Licht.
»Du weißt, daß sie recht haben.« Sie baumelte mit den Beinen, und ich drehte mich von ihr weg. »Möchtest du eigentlich überhaupt nicht wissen, wie das Spiel inzwischen steht? Dein Spieler scheint zu gewinnen. Der einzige, der ihn daran noch hindern könnte, ist seine Spielfigur, aber die badet lieber in Selbstmitleid. Pech für uns alle.«
»Geh weg«, sagte ich dumpf. »Was kümmert mich irgendein Spiel. Ich sterbe!« Es klatschte laut, und ich hielt mir eine brennende Wange. Meine Schwester funkelte mich wutentbrannt an.
»Du kotzt mich wirklich an, Elloran!« fauchte sie. »Du hast nicht einen Funken Verantwortungsgefühl im Leib! Das einzige, was dir wichtig ist, ist dein eigenes, geheiligtes Ich. Du nutzt schamlos jeden aus, der dir über den Weg läuft! Da sind Menschen, die lieben dich und sorgen sich um dich, und du – du denkst nur an deine eigene Befriedigung. Dich vollfressen, saufen, schlafen, das kannst du. Und allen die Ohren volljammern, wenn es nicht nach deinem Kopf geht! Soll ich dir sagen, was du bist? Du bist ...« Ich hielt mir die Ohren zu. Sie zog meine Hände weg und zischte mich an: »Du hast dich gesehen! Ich habe es dir gezeigt, du weißt, wie du wirklich aussiehst. Aber selbst davor verschließt du deine Augen. Ich wollte, ich könnte mich von dir trennen, aber das ist unmöglich. Wir gehören zusammen, ob dir oder mir das paßt oder nicht. Aber ich verachte dich, Elloran. Ich verachte dich!«
Wir ritten früh weiter. Schnee lag in der Luft, und Akim schimpfte pausenlos über das Wetter. Er sah schrecklich verfroren aus, seine Nasenspitze war blau vor Kälte, und er behauptete, er habe mindestens zwei seiner Zehen verloren. Es war eigentlich gar nicht so kalt, und je weiter wir nach Süden kamen, desto wärmer wurde die Luft. Aber Akim schwor Stein und Bein, er habe in seinem ganzen Leben noch nicht so gefroren und beabsichtige auch nicht, das jemals wieder zu tun. Schließlich wurde Tom diese Jammerei zu bunt. Er verfrachtete den Heiler in den Wagen und setzte sich selbst auf den Bock.
»Du hast gut reden«, drang Akims Stimme dumpf unter dem Stapel Decken hervor, unter den er sich verkrochen hatte. »Du würdest ja noch nicht einmal frieren, wenn du nackt ins Nordmeer fielest!«
Ungefähr zwei Tagesreisen vor Sturmhaven ging der erste Schneefall nieder. Akim ließ sich an diesem Tag überhaupt nicht mehr im Freien blicken. Sein dröhnendes Niesen ließ in regelmäßigen Abständen den Wagen erzittern. Das Biest scheute jedesmal und drohte, sich loszureißen. Ich löste Tom auf dem Bock ab, und er band seinen Fuchs vom Wagen los. Das Biest schnaubte erleichtert, und Tom galoppierte uns ein Stück voraus. Ich döste vor mich hin, während der Schimmel Frost gutmütig durch den pulvrigen Schnee stapfte.
Hinter uns auf dem Weg erklang dumpfer Hufschlag. Ich fuhr hoch. Seit einigen Tagen hatten wir jede größere Ortschaft, die auf unserem Weg lag gemieden und versucht uns unsichtbar zu machen, so weit das mit diesem bunten Wagen überhaupt möglich war. Die Suche nach dem entsprungenen Gefangenen mußte inzwischen auch die südlichen Teile des Reiches erreicht haben, und das bereitete uns nicht gerade wenig Sorge.
Ich zog die Decke, die ich über meinem Umhang trug, bis über meine Nasenspitze und hoffte das Beste. Um vom Weg zu verschwinden, war es nun schon zu spät, außerdem hätten die Spuren in der dünnen Schneedecke mich sofort verraten. Der Hufschlag kam näher, es mußten mehrere Reiter sein. Einer kam längsseits, und ich schnaufte erleichtert. Ranan grinste mich breit an und schrie: »Ho, Elloran! Wo hast du die anderen gelassen?«
Ich deutete mit dem Daumen hinter mich und fügte hinzu: »Tom reitet gerade voraus.« Sie winkte, gab ihrem Pferd die Sporen – na ja, sie hieb ihm die nackten Fersen in die Flanken – und galoppierte an mir vorbei. Jetzt kamen auch die anderen Reiter heran. Blicke aus einem Paar kühler, grauer und einem zweiten Paar kalter, farbloser Augen trafen mich, und zwei Stimmen grüßten. Ich schauderte, und das nicht wegen der Kälte. Einer von Akims donnernden Niesern explodierte. Ich sah zum ersten Mal, wie Quinn lachte. Ihr Gesicht zersprang in tausend Falten, und plötzlich fand ich sie gar nicht mehr so unsympathisch.
»Hallo, Akim«, rief sie, und der Heiler antwortete heiser von drinnen: »Da eddlich. Warum habt ihr so lagge gebraucht?« Ich hielt den Wagen an, um den beiden die Verständigung zu erleichtern, und Quinn kletterte ins Wageninnere. Ich bewegte mich unbehaglich auf dem Bock. Der Botschafter sah mich reglos an, während Schnee auf seinen kahlen Schädel fiel. Das Wetter paßte irgendwie zu ihm.
»Wie geht es dir?« fragte er schließlich mit seiner geschlechtslosen Stimme. Ich brummelte etwas, und er nickte. Sein Gesicht war unbewegt und steinern wie immer. »Man sucht nach dir«, bemerkte er ohne jede Gemütsbewegung in der Stimme. »Nicht weit hinter uns war ein Trupp Soldaten. Wir müssen uns überlegen, wie wir sie von dir ablenken.« Ich schauderte.
Ranan und Tom kehrten zu uns zurück. »Kriegsrat?« rief Tom fragend. Der Botschafter nickte. Tom sprang vom Biest und drückte Galen herzlich die Hand. »Schön, dich zu sehen«, sagte er warm, es klang ganz ehrlich. Ich schauderte wieder. Dann und wann kamen mir Zweifel an diesen seltsamen Leuten, mit denen ich reiste.
Ich lenkte den Wagen an den Wegrand, und wir pferchten uns in das Innere. Es war zumindest schön warm. Ich saß halb auf Ranans Schoß, und Galens Arm drückte sich so fest in meine Seite, daß ich selbst durch meine Kleider hindurch glaubte, die Grabeskälte seiner Marmorhaut spüren zu können. Quinn berichtete, und Akim warf hin und wieder eine grämliche Bemerkung ein. Er hielt ein riesiges Taschentuch an seine tropfende Nase, in das er pausenlos hineinnieste.
Karas hatte sich inzwischen so weit erholt, daß er wieder auf den Beinen war. Die Oberste Maga war tatsächlich unter Arrest gestellt, und Veelora hatte Trupps von Soldaten in alle Himmelsrichtungen ausgesandt, um meiner habhaft zu werden. Meine Personenbeschreibung war überall verbreitet worden und, was noch schlimmer war, auch die von Tom, Ranan, Akim und unserem bunten Gefährt. Botschafter Galen hatte zwar sein Möglichstes getan, den Zusammenhang zwischen meiner Flucht und dem Verschwinden seiner Begleiter zu verleugnen, aber das war ihm anscheinend nicht gelungen. Veelora hatte zwei und zwei zusammengezählt und leider vier herausbekommen.
»Was ist mit den Inseln?« fragte Tom. Galen räusperte sich und ergriff erstmals das Wort.
»Das ist eine seltsame Geschichte«, sagte er langsam. »Der Edle Gioanî behauptet, sein Sohn sei niemals zur Burg geschickt worden. Prinz Cesco sei kurz vor seiner geplanten Abreise erkrankt und befinde sich nach wie vor zu Hause bei seinen Eltern.« Dröhnende Stille, die von einem donnernden Nieser unterbrochen wurde.
»Das ist doch Schwachsidd«, ereiferte sich Akim. »Wir habed ded Pridzed doch alle gesehed, oder? Bis zu seideb udrühbliched Abgagg schied er bir sehr adwesedd zu seid!« Ich starrte den Botschafter an. Er hob in einer seltsam fließenden Geste die Hände und schwieg wieder.
Quinn sagte: »Zumindest haben die Kronstaaten nun keinen Krieg mit den Inseln am Hals. Veelora schäumt allerdings, und die Oberste Maga grinst wie die Katze, die den Kanarienvogel verspeist hat, und hüllt sich in Schweigen. Wer der Tote ist, weiß niemand. Sein angeblicher Erzieher ist spurlos verschwunden. Nach ihm suchen sie natürlich auch.«
»Ist Jemaina noch vor eurer Abreise eingetroffen?« fragte Tom erschüttert. Quinn verneinte. Tom berichtete in aller Kürze von dem Verdacht, den die Heilerin geäußert hatte. Galen warf mir einen nachdenklichen Blick zu und griff nach meinem Handgelenk. Ich zuckte zusammen, aber Quinn sagte scharf: »Jetzt nicht, Wunder!« Er ließ mich ohne Widerspruch los, und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, wer hier eigentlich das Sagen hatte.
Quinn rieb sich über den Armstumpf und dachte nach. »Unser vornehmliches Ziel ist, Nikolai wiederzufinden«, sagte sie endlich. »Wenn wir ihn bei Omelli abgeliefert haben, können wir uns in aller Ruhe um die andere Angelegenheit kümmern. Tut mir leid, Elloran, aber ich kann nicht anders vorgehen. Wir werden dir zu helfen versuchen, denn wir stecken in der Sache inzwischen selbst zu tief drin.« Ein strafender Blick traf Tom, der ihn mit trotzig vorgestrecktem Kinn entgegennahm.
Sie fuhr fort: »Wir werden uns trennen. Elloran, du weißt, wo du Nikolai finden kannst. Traust du dir zu, das alleine zu unternehmen, während wir die Soldaten Veeloras von dir ablenken?« Ich nickte stumm, wagte nicht zuzugeben, daß ich nicht genau wußte, wo ich nach Nikal suchen sollte.
Sie nickte zufrieden und fragte Tom: »Kater, hast du eine Idee, wie wir ihn unauffälliger machen könnten?« Er zog die Brauen zusammen und dachte nach. Sein abschätzender Blick landete auf meinen Haaren. Ich zuckte zusammen und faßte unwillkürlich nach meinem Zopf. Er grinste und sagte: »Wir könnten ihm die Haare färben.« Ich atmete auf. Einen Augenblick lang hatte ich befürchtet, er würde vorschlagen, mich kahlzuscheren. Sein Blick ruhte auf mir, und er blinzelte mir heimlich zu. Ich grinste dankbar. Ranan hatte sich weggedreht und wühlte in einem Kasten herum.
»Hier«, verkündete sie triumphierend, »ich habe noch was von dem Zeug, mit dem wir damals Nikolais Haare ...«
»Ja, wunderbar, Ran«, sagte Quinn ungeduldig. »Dann übernimm du das bitte. Weiter. Wir müssen einen Treffpunkt ausmachen. Was glaubst du, Elloran, wie lange wirst du brauchen, ihn zu finden?«
»K-keine Ahnung. Vielleicht zehn Tage?«
»Gut. Also werden wir uns morgen einen Ort aussuchen, an dem in zwei Wochen jemand von uns auf dich und Nikolai warten wird. Auf euch oder auf eine Botschaft von euch. Ran färbt dir die Haare, und wir trennen uns. Ich hoffe, du hast Glück.«
»Ich auch«, erwiderte ich schwach. Die Versammlung löste sich auf, und alle streckten ihre steifen Glieder.
»Einen Augenblick noch, Elloran«, erklang die flötende Stimme des Botschafters hinter mir. Ich stöhnte unterdrückt. Er hatte es nicht vergessen. Seine Hand griff wieder nach meinem Handgelenk. Er legte zwei Finger in meine Handfläche, und mit der anderen Hand faßte er an mein Kinn und unter mein Ohr. Es kribbelte unangenehm, ich hatte für einen flüchtigen Augenblick das irritierende Gefühl, dieselbe Situation schon einmal erlebt zu haben. Seltsamerweise erwartete ich eine fremde Stimme in meinem Inneren, aber das blieb aus. Galen sah mich nur eine Zeitlang prüfend an und ließ mich dann los. Seine Hand ruhte noch kurz auf meiner Schulter, dann ging er wortlos hinaus.
Die Prozedur des Haarefärbens am nächsten Morgen wuchs sich zu einer erheiternden Darbietung für alle Anwesenden aus. Zuerst wurden mir trotz meines Protestes die Haare gewaschen, weil Ranan darauf bestand.
»Du glaubst doch nicht, daß meine kostbare Farbe auf dem Dreck hält?« schimpfte sie. »Das fällt doch beim ersten Regenguß alles wieder runter!« Wenigstens war sie so rücksichtsvoll, das Wasser vorher über dem Feuer etwas anzuwärmen. Ich hockte also schnatternd und halbnackt im Schnee, feixende Gesichter vor mir – das Schauspiel hatte sogar Akim veranlaßt, den Wagen und seine warmen Decken für einige Minuten zu verlassen – und ließ mich von diesem Riesenweib einseifen. Gründlich, wie sie war, schrubbte sie gleich meinen Oberkörper mit ab und wäre sicherlich auch noch weiter gegangen, wenn ich mich nicht standhaft geweigert hätte, meine Hose auszuziehen. Blau vor Kälte blickte ich auf ihre bloßen Füße nieder, die in einer Pfütze von Seifenwasser und schmelzendem Schnee standen und dachte an heißen Tee, Felldecken, Kaminfeuer, die S'aavaranische Wüste – es half alles nichts.
Jetzt folgte der eigentliche Akt: Ranan rührte eine dickflüssige, stinkende, braungraugrüne Pampe in einer Schüssel an. Ich starrte angewidert darauf und fragte mißtrauisch: »W-was für eine F-Farbe gibt das denn?«
Ranan wischte sich die schmuddelig verfärbten Finger an einem Lappen ab und antwortete stirnrunzelnd: »Wenn ich mich in der Mischung nicht vertan habe, müßte es ein ganz dunkles Braun werden.« – »Und wenn du dich vertan hast?« Sie grinste fröhlich und klatschte mir eine ordentliche Handvoll auf den Kopf.
»Keine Sorge, wenn's daneben geht, können wir dir immer noch den Kopf rasieren«, zog mich Tom auf.
»Weißt du doch, wie sie Kolja dabals zugerichtet hat?« lachte Akim. »Grüd wie eide Gurke. Er hat vier Woched eiden Verbadd üb ded Kopf getraged udd behauptet, er wäre vob Pferd gefalled.«
Ich zuckte heftig zusammen, aber Ranan hielt mich mit eisernem Griff fest. »Halt ruhig, Elloran. Oder willst du, daß ich dein Gesicht gleich mitfärbe?« Unbeirrt von den spitzen Kommentaren ihrer Freunde arbeitete sie sich durch meine Mähne. Kleine Bäche stinkender Brühe liefen über mein Gesicht und meinen Rücken. »So, das muß jetzt ein bißchen wirken.« Sie beendete ihre Matscharbeit, wickelte mir ein Tuch um den Kopf und half mir, die Farbe vom Rest meines Körpers abzuwaschen. Tom und Akim schlossen derweil Wetten über das Ergebnis ab. Tom tippte auf Dunkelviolett, und Akim blieb mit seiner Vorhersage bei Grün.
»Das ist keine dauerhafte Färbung.« Ranan wischte ihre Finger sauber, was nur sehr mangelhaft glückte. »Glücklicherweise«, setzte sie leise hinzu und sah traurig auf den braunschwarzen Rand unter ihren Fingernägeln und den graubraunen Schimmer, der ihre sonst so weiße Haut überzog. »Die Farbe wäscht sich nach und nach heraus, aber ich denke, es müßte genügen, bis du Nikolai gefunden hast. Schlimmstenfalls muß ich es dir eben noch mal nachfärben. Einen Rest habe ich ja noch.« Sie lüpfte das Tuch um meinen Kopf und blickte unter seinen Rand.
»Oje, oje«, murmelte Tom, der neben uns stand und neugierig zusah. Er weigerte sich, seinen Ausruf näher zu erklären. Ich schlang eine Decke um meine Schultern, hockte mich zu den anderen ans Feuer und bat um einen heißen Tee, der mir auch sofort serviert wurde. Ranan packte fröhlich pfeifend ihre Utensilien wieder zusammen und fuhr mit den Fingern unter eins ihrer Armbänder. »Da ist es mir auch druntergelaufen«, schimpfte sie und wollte die Manschette abnehmen.
Quinn, die bis dahin alles schweigend und mit einem winzigen Lächeln beobachtet hatte, packte sie blitzschnell am Handgelenk und sagte warnend: »Ranan! Nicht hier, denk daran!« Die große Frau wurde rot und entschuldigte sich. Ich sah neugierig in die Runde, aber niemand äußerte sich zu dem Vorfall. Wie immer. Hufschlag ertönte, und Quinn erhob sich wachsam.
»Ich bin es«, hörte ich die unverwechselbare Stimme des Botschafters. Kurz darauf bog er um die Kurve, zügelte sein Pferd und sprang aus dem Sattel. Er nahm Quinn beim Arm und zog sie einige Schritte beiseite. Sie sprachen leise miteinander. Ich sah, wie Quinns Miene sich bewölkte. »Gut«, sagte sie laut und wandte sich zu uns. »Macht alles startklar. Wir brechen sofort auf. Ran, du kümmerst dich um Elloran. Galen und ich versuchen, die Soldaten abzulenken. Wir treffen uns morgen mittag am Galgenhügel – Tom, du weißt, welche Stelle ich meine.«
Sie ließ sich von Tom in den Sattel helfen und beugte sich noch einmal zu ihm hinunter, um ihm etwas zuzuflüstern. Rund um mich brach eilige Umtriebigkeit aus. Ranan zog mich aus dem Weg und begutachtete noch einmal das Ergebnis ihrer Färberei.
»Ich denke, wir können es riskieren. Tut mir leid, zum Auswaschen muß ich diesmal kaltes Wasser nehmen.« Ich schüttelte mich. Sie wusch mir mehrmals den Kopf, bis die graubraune Brühe, die herunterlief, sich endlich klärte. Dann rubbelte sie mein Haar trocken und kämmte es durch. »Nicht schlecht«, stellte sie mit in die Seite gestemmten Armen fest. »Du siehst wirklich völlig verändert aus.«
Tom kam heran; wie ich sah, war das Lager abgebrochen, der Wagen reisefertig. Er stellte sich neben Ranan und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Vorher hast du mir besser gefallen«, knurrte er. »Ich mag kein Grün. Maddoc, du hast die Wette gewonnen!«
Ich kreischte und verlangte nach einem Spiegel. Akim brachte ihn grinsend, und ich blickte hinein. »Ach d-du meine Güte«, hauchte ich erschüttert und erleichtert zugleich. Die gründliche Ranan hatte es geschafft, sogar meine Augenbrauen zu färben, und so blickte mich aus dem Spiegel ein finsterer, schwarzhaariger Fremder an. Mein Gesicht erschien durch die harte, dunkle Farbe noch blasser als gewöhnlich, und die schwarzen Brauen waren mißmutig zusammengezogen. Schattenhaft tauchte hinter meiner Schulter eine rothaarige Gestalt auf. Erschreckt ließ ich den Spiegel sinken und blickte mich um. Natürlich war dort niemand.
»So, jetzt aber los!« kommandierte Tom. »Elloran, bleib bitte im Wagen. Akim, du mußt auf den Bock. Ich reite voraus und zeige dir den Weg zum Galgenhügel. Ranan, du übernimmst die Nachhut.«
Wir erreichten den Hügel zum verabredeten Zeitpunkt und verbargen uns im Gehölz. Dort verbrachten wir eine unbehagliche Stunde, in der wir es kaum wagten, miteinander zu sprechen. Endlich erklang ein klagender Vogelruf, und Tom entspannte sich. »Sie haben es geschafft«, flüsterte er und beantwortete den Ruf. Zweige knackten und raschelten. Galen und Quinn kämpften sich durch das Unterholz, ihre Pferde am Zügel mit sich führend.
Die drahtige Frau sah zerrauft aus, der graue Zopf hatte sich aufgelöst, und ihre Wange zierte eine lange, blutige Schramme. Ihre Augen blitzten, und der wilde Mund war wütend zusammengepreßt. Galen wirkte wie immer: vollständig unbewegt und von gefühlloser Kälte wie ein fleischgewordener Dämon aus der WeltUnten. Er bewegte sich steif und hielt einen Arm seltsam angewinkelt an den Leib gepreßt. Erst, als Akim auf ihn zustürzte und ihn zwang, sich niederzusetzen, begriff ich, daß er verletzt sein mußte. Akim zog Galens graue Hand weg, und ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen langen, klaffenden Schnitt in seiner Seite, der zwischen den zerfetzten Kleidern aufblitzte. Tom zog mich eilig fort, doch ich hatte genug gesehen. Was auch immer in den Adern des Botschafters fließen mochte – menschliches Blut war es nicht.
»Was ist passiert?« fragte Tom leise.
Quinn rieb heftig über ihren Armstumpf und fluchte gedämpft. Ranan kniete aufmerksam lauschend hinter ihr und flocht ihr den Zopf neu. »Wir sind einem kleinen Trupp von Veeloras Soldaten genau in die Arme gelaufen. Galen hatte die Hoffnung, sie würden uns nur anhalten, aber sie haben sofort zu den Waffen gegriffen. Ich bin sicher, daß Veelora Order gegeben hat, den Botschafter nicht umzubringen, nur festzunehmen; aber wir konnten uns doch schlecht gefangennehmen lassen!« Sie lachte, trotz ihrer offensichtlichen Wut. »Sie haben gedacht, sie hätten leichtes Spiel mit uns: eine Einarmige und ein weichlicher, unbewaffneter Diplomat, was sollten die schon gegen vier geübte Berufskämpfer ausrichten.« Tom schnaubte abfällig.
»Trotzdem, ihre Kommandantin war gut. Sonst hätte sie Galen nicht so mit dem Schwert erwischt, bevor er ihr das Genick gebrochen hat ...« Sie unterbrach sich und rief nach hinten: »Maddoc, wie sieht es aus?«
Ohne von seinem Patienten aufzusehen, antwortete der Heiler: »Er hat zwar ziemlich viel Kühlflüssigkeit verloren ...«
»Doktor Abou-Khalil!« rief Quinn drohend.
»Entschuldigung«, grummelte der Gerügte. »Ich wollte sagen, abgesehen von dem Blutverlust ist die Verletzung weniger ernst, als sie aussieht. Ich flicke ihn zusammen, und wenn er dann ein paar Stunden schläft, ist er morgen wieder wie neu.«
»Was habt ihr mit den Leichen getan?« fragte Ranan. Ich schauderte wieder einmal über die Fühllosigkeit, mit der die junge Frau über das Töten und Verstümmeln von Menschen sprach.
»Ich habe sie, so gut es ging, versteckt. Sie werden sicher gefunden werden, wenn jemand ernsthaft nach ihnen sucht. Aber bis dahin müssen wir ohnehin eine deutliche Spur nach Osten ausgelegt haben. Sie sollen denken, daß wir über Land nach S'aavara gelangen wollen.«
Galen trat zu uns, auf den kleinen Heiler gestützt. Seine Wunde war verbunden, und nur noch einige bläulich graue Flecken an seinen Händen und auf den Kleidern deuteten auf den – nun ja – Blutverlust hin. Seine Augen waren tief eingesunken, und das hohlwangige Gesicht mit dem grausamen Mund wirkte noch versteinerter als sonst.
Quinn sah ihn besorgt an. »Wie geht es dir, Wunder?« fragte sie weich.
Galen nickte knapp und verzog etwas die schmalen Lippen. »Ich werde die Behandlung wohl überleben, danke.« Akim schnaufte beleidigt. Galen ließ sich vorsichtig neben mir nieder und griff nach meiner Hand. Ich hätte sie ihm liebend gerne entzogen, so sehr ekelten mich die seltsamen Flecken auf ihr, aber er hielt mich unbarmherzig fest.
»Du wirst Nikolai für uns finden«, sagte er eindringlich. »Es ist sehr, sehr wichtig, Elloran. Denke bitte immer daran. Es geht ihm höchstwahrscheinlich nicht gut, und es ist durchaus möglich, daß er sich nicht an dich erinnert. Aber du mußt ihn irgendwie dazu bringen, daß er dir folgt – und ihn hierher schaffen. Wirst du das für uns tun?« Seine eisige Hand umklammerte mein Handgelenk, und seine farblosen, vielfarbigen Augen bohrten sich in meine und schienen tief in meinen Schädel einzudringen. Es kribbelte unangenehm, und die anderen stöhnten leise auf.
»Wunder!« ächzte Quinn. »Deine Abschirmung!«
»Das ist doch wirklich nicht erstaunlich«, ereiferte sich Akim und half Galen auf. »Er muß sich jetzt dringend hinlegen, Captain.« Er schleifte den hageren Mann zum Karren und bugsierte ihn ins Innere.
»Hast du dein Bündel gepackt?« fragte Quinn. »Wir treffen uns hier in genau zehn Tagen, ab heute gerechnet. Vom zweiten Wachwechsel an wird sich immer mindestens einer von uns hier aufhalten und auf euch warten. Ich wünsche dir viel Erfolg, mein Junge.« Ich nickte steif und stand auf, um mein Pferd zu holen. Tom folgte mir und hielt mich noch einmal am Arm fest. Ich erwiderte seinen Blick und lächelte ein wenig unsicher.
»Ihr seid sehr m-merkwürdige Menschen, Tom. Manchmal f-frage ich mich, ob ich richtig handele.« Tom zog mich an sich, und ich ließ es geschehen.
»Vergiß eines nie«, flüsterte er. »Ich liebe dich, Elloran. Ich würde dir nie etwas Böses tun. Nie.« Er küßte mich. Ich schlang meine Arme um ihn und erwiderte seinen Kuß.
»Wir sehen uns in zwei Wochen«, rief er leise und winkte zum Abschied. Ich hob meine Hand und führte das Pferd auf den Weg. Eine halbe Tagesreise vor mir lag Sturmhaven. Irgendwo dort würde ich Nikal wiederfinden. Ich ließ mein Pferd antraben und rief laut: »Nik, ich komme!« Ein schwaches Echo hallte von der Kuppe des Galgenhügels wider, es klang wie Rabenkrächzen oder eher noch wie ein spöttisches Lachen. Mein Pferd wieherte erschreckt, und ich spornte es zum Galopp an. Der Hügel verschwand hinter mir. Ich fühlte mich seltsam erleichtert. Wenn ich erst einmal Nikal wiedergefunden hatte, würde alles gut, das wußte ich.
»Kleiner Spinner«, flüsterte meine Schwester. »Du bist ein richtiger Kindskopf, Elloran.«