13
Das Leben auf der Kronenburg gefiel mir mehr und mehr, trotz der erbarmungslosen Strenge, mit der mein Herr und Meister mich antrieb. Ich arbeitete härter, als ich es je in meinem Leben getan hatte, aber ich genoß auch meine spärliche Freizeit wie noch nie zuvor. Inzwischen hatte ich einen Teil der Burg schon recht gut erforscht und weitete meine Expeditionen auf weiter entfernte Gebäudeteile aus. Doch der gesamte Komplex war derart verwinkelt und ineinander verschachtelt und dabei von so unfaßbarer Ausdehnung, daß ich wahrscheinlich ein Leben lang brauchen würde, jede Ecke der Burg zu erkunden.
Kammerherr Karas war ein überaus großzügiger Mann. Die schlichten, solide gearbeiteten Kleidungsstücke, die sein Schneider mir angefertigt hatte, bestanden aus edlem Stoff, wenn auch für meinen Geschmack etwas zu zurückhaltend in den Farben: die vorherrschenden Töne waren Dunkelgrün, Dunkelblau und Schwarz. Karas hatte sich strikt geweigert, sie mich selbst bezahlen zu lassen, was mir bei meinem Salär als sein persönlicher Sekretär ohne weiteres möglich gewesen wäre.
Unser Verhältnis war im Laufe der Wochen zu einer Vertrautheit gediehen, die mir noch immer ein wenig unheimlich war, die ich aber, wenn ich ehrlich zu mir war, auch immer mehr zu schätzen wußte. Ich genoß unsere friedvollen gemeinsamen Abendessen, nach denen wir bei einem vorzüglichen Wein die bemerkenswertesten Ereignisse des Tages rekapitulierten, er behutsam meine Fortschritte überprüfte und mir neue Lektüre empfahl, oder wir einfach nur entspannt und freundschaftlich beieinander saßen, schwiegen, tranken, plauderten.
Mit der Zeit lernte ich auch, mit seiner dunklen Seite fertigzuwerden. In Abständen, aber dennoch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, erschien Kammerherr Karas morgens schweigsamer als sonst, fast mürrisch. Sein Blick war verschattet und der Mund verkniffen, er erledigte fast geistesabwesend und ohne den sonstigen Schwung seine Arbeit; aß so gut wie nichts und trank dafür schon früh am Tag mehr, als gut für ihn war. An solchen Tagen wußte ich, wie mein Abend aussehen würde. Ich blieb an seiner Seite, bis er sinnlos betrunken war und brachte ihn dann zu Bett. Mikel, sein Diener, war mir zu Anfang mit Mißtrauen und Eifersucht begegnet, aber inzwischen hatten wir uns stillschweigend auf einen respektvollen Waffenstillstand geeinigt. Ich hatte ein wenig den Eindruck, daß er nicht böse darüber war, wenn ich mich bei solchen Gelegenheiten statt seiner seines Herrn annahm.
Karas sprach nie über diese Abende. Morgens taten wir beide, als läge nichts anderes als das übliche gemeinsame Abendessen hinter uns, und gingen kommentarlos zur Tagesordnung über. Ich haßte es, den alten Mann, den ich schätzte und überaus achtete, in einem solch würdelosen und beschämenden Zustand zu erleben. Dennoch erfüllte es mich auch mit Stolz, daß er mir gestattete, es zu tun. Karas arbeitete derart hart und nahm dabei so wenig Rücksicht auf seine Gesundheit, daß diese gelegentlichen Exzesse wahrscheinlich die einzige Möglichkeit für ihn darstellten, die Last des Alltags hinter sich zu lassen und etwas Entspannung zu finden.
Einmal fragte ich ihn, ob er nicht auch das spiel spiele, bei dem ich mir inzwischen geradezu besessene Kämpfe mit Leonie lieferte. Hin und wieder gelang es mir sogar, eine Partie zu einem Unentschieden zu führen, und es reizte mich, meine Fähigkeiten an einem anderen Gegner zu messen. Aber Karas lehnte das mit einer solchen Vehemenz, ja fast Wut ab, daß ich auf das Thema nicht mehr zurückkam.
Ich fragte Leonie, vorsichtig, weil sie meine bisherigen Versuche, sie über Karas ein wenig auszuhorchen, immer mit bissigem Sarkasmus abgewehrt hatte. Dieses Mal antwortete sie mir, was mich so überraschte, daß ich fast einen fatalen Zug mit meinen Jägern getan hätte, der mich mit Sicherheit aus dem Spiel geworfen hätte.
»Der Kammerherr«, sagte sie nachdenklich. »Wir haben ganze Nächte hindurch gespielt, deine Großmutter, Karas und ich.« Sie lächelte gedankenverloren in sich hinein. »Es gibt eine reizvolle, aber sehr schwierige Spielvariante zu dritt. Karas gewann sie fast immer, was deine Großmutter jedesmal zur Weißglut gereizt hat. Er war ein brillanter Spieler, aber er hörte damit auf, als seine Tochter starb. Dieses grauenhafte Unglück ...« Sie sprach nicht weiter, und ich wartete vergebens auf eine Erklärung. Magramanir flatterte zum Fenster herein und landete neben dem Spielbrett.
»Oh, hallo, Magramanir«, rief Leonie erheitert. »Wolltest du mitspielen?« Mir war schon des öfteren aufgefallen, daß sie nie Julian ansprach, sondern immer nur den Raben.
Magramanir schüttelte sich, und Julian sagte: »Um nichts in der Welt. Du weißt, wie sehr ich dieses alberne Spiel hasse. Es ist so – sinnlos. Holzfiguren über ein Brett schieben, als ginge es um Leben und Tod!«
Leonie lachte mit überraschter Erheiterung auf. »Nein, das habe ich allerdings nicht gewußt. Sag, kann ich etwas für dich tun, oder machst du uns nur einen Freundschaftsbesuch?«
Der Rabe kratzte sich hingebungsvoll mit einer schwarzen Kralle am Hinterkopf, und Julian sagte etwas verlegen: »Ich habe Neuigkeiten für dich. Aber es wäre mir lieber ...« Er unterbrach sich, und der Rabe betrachtete mich schweigend. Ich verstand und erhob mich.
»S-spielen wir morgen weiter, Leonie?« Sie nickte, und ich verabschiedete mich ein wenig verletzt von Julian und Magramanir. Früher als sonst von meiner Mittagspause zurück, platzte ich in Karas' Arbeitszimmer in ein offenbar vertrauliches Gespräch. Karas und sein Besucher sahen irritiert und unangenehm gestört auf. Karas' Miene zeigte heftigen Zorn, ehe er mich erkannte und sein Blick etwas weicher wurde.
»Störe uns jetzt bitte nicht, mein Junge«, sagte er sehr bestimmt. »Ich gebe dir den Nachmittag frei. Wir sehen uns heute abend bei mir, einverstanden?«
Ich nickte, zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten des Raumes verwiesen, und wandte mich zum Gehen. Da mischte sich der Besucher des Kammerherrn mit einer hohen, flötenähnlichen Stimme ein. »Einen Augenblick noch, wenn Ihr erlaubt, Karas.« Ich zögerte und sah einen unwilligen Schatten über Karas' Gesicht huschen. Dann nickte er knapp. Der Besucher drehte sich zu mir um. Ich mußte mich zusammenreißen, um ihm meine Gefühle nicht zu zeigen. Dieser Fremde stieß mich auf den ersten Blick ab. Ich unterdrückte einen heftigen Schauder, als er jetzt aufstand und nahe zu mir trat. Er war groß, beinahe so groß wie ich, und überschlank, fast hager. Sein Schädel, der wie aus poliertem Marmor gefertigt schien, war vollständig haarlos mit unbewegten, wie gemeißelt wirkenden Zügen, einem schmalen, grausamen Mund und völlig farblosen Augen. Abgestoßen und gleichzeitig gefesselt sah ich sie an: Seine Augen waren weder grau, noch blau, noch grün; sie waren ohne jede Farbe und doch auch nicht einfach weiß. Die Wirkung war gespenstisch, so wie seine ganze Erscheinung unheimlich und mir auf unbeschreibliche Art widerlich war.
Der Mann griff ohne Vorwarnung nach meiner Hand. Ich mußte mich zwingen, sie ihm nicht angeekelt zu entreißen: Mein Handgelenk umklammerten eiskalte graue Finger, die sich anfühlten, als seien sie aus fühllosem Stein und nicht aus lebendem, atmendem Gewebe. Lieber hätte ich einen toten Fisch berührt, als diese leblosen Glieder. Er hielt meine Hand einen Atemzug lang fest und nickte dann, als habe sich bestätigt, was er erwartet hatte. Er setzte sich wieder zu Karas und sagte mit seiner seltsam geschlechtslosen Stimme: »Wo waren wir stehengeblieben, Karas?«
Ich stand wie erstarrt. Der Kammerherr scheuchte mich mit einer ungeduldigen Bewegung hinaus. Als ich leise die Tür schloß, hörte ich ihn sagen: »Es ging um den mutmaßlichen Verräter hier in der Burg, Botschafter Galen.« Einen Augenblick lang lehnte ich mich an die geschlossene Tür und atmete tief durch. Das war also der hochgeachtete Botschafter der Allianz, dessen scharfsinnige und humorvolle Berichte mir etliche unterhaltsame und gleichzeitig lehrreiche Tage beschert hatten. Ich schüttelte mich. Hoffentlich mußte ich diesem Mann niemals wieder begegnen!
Das blieb natürlich ein frommer Wunsch. In den nächsten Wochen arbeiteten Karas und der Botschafter so eng zusammen, daß ich dem unheimlichen Menschen schlecht aus dem Weg gehen konnte, auch wenn ich mich ehrlich darum bemühte. Anfangs dachte ich, Karas hege einen ähnlichen Widerwillen gegen den Botschafter wie ich und kaschiere das nur besser, weil er eben dazu gezwungen war, mit ihm zusammenzuarbeiten und vielleicht auch, weil er den zugegebenermaßen klugen Kopf des Mannes zu schätzen wußte. Aber als ich eines Abends dieses Thema anschnitt, wurde ich eines Besseren belehrt.
Der Kammerherr schmunzelte verhalten, rollte einen Schluck des würzigen Glühweins abkühlend im Munde herum und sagte: »Beurteile Menschen nicht nur nach dem ersten Eindruck, Elloran. Galen ist ein sehr geistreicher, sehr scharfsinniger Mann. Sicher, man muß sich an ihn und seine, sagen wir, unterkühlte Art zuerst ein wenig gewöhnen, aber das lohnt sich durchaus. Du solltest dich einmal länger mit ihm unterhalten, ich bin sicher, du würdest ihn schon bald ähnlich zu schätzen wissen, wie ich es tue.« Ich antwortete nicht, sondern zog nur ein Gesicht. Das Lächeln in Karas' Gesicht vertiefte sich.
Wir kamen auf dieses Thema nicht mehr zurück, aber an meiner Meinung über den Botschafter änderte sich nichts. Ich verabscheute ihn von ganzem Herzen, und dabei sollte es auch bleiben. Aber immerhin, ich mußte eingestehen, daß der Botschafter geradezu aufopferungsvoll daran arbeitete, das überaus gespannte Verhältnis zwischen S'aavara und den Kronstaaten zu verbessern, das ihn doch im Grunde gar nicht betraf. Er erklärte sich sogar bereit, sich eine Woche lang mit dem Kronrat und Karas in Klausur zu begeben, um Veeloras Vorschläge für ein Abkommen, die er aus S'aavara mitgebracht hatte, in eine für alle Seiten annehmbare Form zu bringen.
Diese Woche kostete alle Beteiligten den letzten Rest ihrer ohnehin strapazierten Nerven. Der Kronrat, ein Haufen starrköpfiger und bornierter alter Frauen und Männer, die die höchsten Adelsgeschlechter der Kronstaaten repräsentierten, verwarfen jeden der Vorschläge, die Karas und der Botschafter in den vergangenen Wochen mühevoll erarbeitet hatten. Einer von ihnen, der Herr von Nydendahl, ein uralter, knochiger Norrländer, verstieg sich sogar zu der Äußerung, wenn die T'jana-Fürsten einen Krieg wollten, warum, bei allen bösen Geistern, man ihnen dann nicht gäbe, was sie verdienten?
Ich sah nur, wie Galen und der Kammerherr einen enttäuschten Blick wechselten, bevor Karas müde um eine Vertagung der Sitzung bat. Das Ergebnis der Woche war, daß Karas und Galen mit dem Auftrag, sich bitte etwas Besseres einfallen zu lassen, in der ersten Frühlingswoche glücklich wieder da angelangt waren, wo sie Mitte des Dunklen Winters begonnen hatten.
Mein siebzehnter Geburtstag, der mich, wenn ich ein Junge gewesen wäre, offiziell zum Mann gemacht hätte, ging völlig unbeachtet vorbei. Noch nicht einmal ich selbst hatte an ihn gedacht, und erst eine leicht verspätete, spöttische Grußbotschaft von Julian erinnerte mich daran. Magramanir landete auf meiner Schulter und ließ ein winziges Päckchen, das sie im Schnabel transportiert hatte, zu Boden fallen, so daß ich erst einmal auf Händen und Füßen durch den Schnee kriechen mußte, um es wiederzufinden. »Alles Gute zum Geburtstag, lieber Elloran, und immer schön üben!« krächzte sie mit Julians Stimme. Dann flog die Rabenfrau fort, und ich kniete lachend im Schnee, einen kaum handtellergroßen Spiegel in der Hand. Anscheinend war es Julian nicht entgangen, daß Leonie nachdrücklich damit begonnen hatte, mich in den Feinheiten der Spiegelmagie zu unterweisen – was er davon hielt, wußte ich ja zur Genüge.
Leonie, der ich den Spiegel zeigte, lächelte verhalten und sah mich dann mit ihren unergründlichen Augen an. »Du bist jetzt wie alt? Sechzehn? Ein Erwachsener, Elloran. Erschreckt dich das?«
Ich hatte, ehrlich gesagt, noch überhaupt nicht darüber nachgedacht, was das für mich bedeutete. Als der Erbe von Salvok wäre ich vor wenigen Tagen offiziell und feierlich zum Nachfolger Moraks ernannt worden, wenn ich noch zu Hause gewesen wäre ... Seltsam, daß ich daran gar nicht gedacht hatte. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß Morak es geschafft hätte, diese Zeremonie irgendwie zu verhindern. Aber Salvok war so weit fort – mein Leben verlief hier, das wurde mir jetzt so bewußt wie nie zuvor.
Leonie sah meine nachdenkliche Miene und sagte: »Denk in Ruhe über meine Frage nach, Elloran. Was willst du mit deinem Leben anfangen? Du bist kein Kind mehr, und du solltest aufhören, andere Leute über dich entscheiden zu lassen. Was stellst du dir vor?«
Mir war klar, wen sie mit ›andere Leute‹ meinte. Ihre Frage beunruhigte mich zutiefst. War ein Leben als Hofbeamter, wie Karas es mir anbot, wirklich das Leben, das ich mehr als alles andere zu führen wünschte? Was war es, das Leonie mir anbot, zwar nie ausgesprochen, aber doch immer da, verlockend, ungewiß ...
Ich saß lange schweigend und grübelnd da, bis Leonie mich neckend am Ohr zupfte und sagte: »Komm, Elloran, du mußt nicht alle Probleme der Menschheit an einem Nachmittag lösen. Behalte meine Frage nur im Auge, das ist alles, was ich von dir verlange. Jetzt zeige mir, was du gestern gelernt hast.«
Ich vergaß ihre Frage nicht und begann, meine Arbeit für den Kammerherrn sehr kritisch zu beobachten. Es war eine sicher sehr wichtige, ehrenhafte und oft stumpfsinnige Plackerei für das ›Wohl der Krone‹, die ich persönlich nie zu Gesicht bekommen würde. Mir fielen Karas' ketzerische Worte zu Leonie wieder ein, aus einer Verzweiflung heraus geäußert, die ich immer noch nicht zu deuten wußte: Die Krone ist eine harte Herrin.
In diese Zeit des ersten Frühlings fiel erneut eines von Karas' heftigen Zechgelagen. Es war kurz nach der Klausurwoche mit dem Kronrat – und weil ich den Kammerherrn inzwischen recht gut einzuschätzen wußte, hatte ich schon damit gerechnet. Es begann wie immer: Karas weigerte sich, etwas zu essen, fuhr mich grundlos und unverhältnismäßig scharf wegen einer Akte an, die er selbst in der Unordnung auf seinem Schreibtisch verlegt hatte, und schickte mich mittags zum Kellermeister Radolf, damit ich ihm einen Krug Wein holte.
Radolf bohrte seine Zunge in die Wange, schnitt eine ulkige Grimasse, um mich zum Lachen zu bringen und drückte mir einen großen Krug mit dunklem Rotwein in die Hände.
»Meinst du, er kommt damit aus?« fragte er.
Ich hob die Schultern. »Wenn nicht, k-komme ich noch mal vorbei, und hole Nachschub.«
»Tu das, Junge. Ich freue mich immer über Besuch«, beschied mir der dürre Norrländer mit breitem Lächeln.
Karas beendete äußerst übelgelaunt den Tag früher als sonst und zog sich mit einem frischen Weinkrug in sein Quartier zurück. Ich legte mich mit der Aussicht auf einen langen, ermüdenden Abend für zwei Stunden aufs Ohr und betrat dann die Gemächer des Kammerherrn. Heute war er zur Abwechslung eher streitlustig gestimmt. Schon nach wenigen Minuten wußte ich, daß ich den Abend nicht überstünde, wenn ich selber nüchtern blieb. Also griff ich opferbereit nach einem Becher und versuchte, mit Karas mitzuhalten. Glücklicherweise hatte er einen halben Tag und fast zwei Krüge Vorsprung, sonst hätte Mikel uns am Ende noch beide ins Bett bringen müssen.
So aber schaffte ich es gerade noch, zwar heftig um mein Gleichgewicht bemüht und von Wellen der Übelkeit zeitweilig außer Gefecht gesetzt, den Kammerherrn eigenhändig zu versorgen und mich selbst, wenn auch vollständig bekleidet, auf mein schwankendes Bett zu werfen. Mein Erwachen am anderen Morgen war entsprechend qualvoll. Ich wechselte die Kleider und traf mit Verspätung zum Frühstück bei Karas ein.
Der Kammerherr saß sehr aufrecht in seinem Sessel, die Hände um den silbernen Knauf seines Stockes gekrampft, sein Gesicht fahlgrau und verkniffen – und herrschte mich an: »Was fällt dir ein, mich warten zu lassen?« Ich stammelte verletzt eine Entschuldigung, die sehr ungnädig angenommen wurde. Er stemmte sich auf die Beine, wobei er meine Versuche, ihm dabei zu helfen, schroff abwehrte, und zwang mich durch sein ungewohnt forsches Tempo, mit brummendem Schädel hinter ihm her zu seinem Arbeitszimmer zu stolpern.
Es ging mir herzlich elend, und Karas schien es an diesem Vormittag darauf anzulegen, daß es mir noch schlechter ging. Ich begann, ihn und seinen verdrießlich zusammengepreßten Mund, der nur bösartige, zynische Bemerkungen über meine mangelhaften Fähigkeiten ausspie, nach Strich und Faden zu hassen. Sehr früh am Vormittag begann er, den Rest des Weines auszutrinken, den ich ihm am gestrigen Tag geholt hatte, und wurde dadurch nur noch unleidlicher.
Ein Mitarbeiter, der des Kammerherrn giftige Anmerkungen zu einer eher unwichtigen Verwaltungsangelegenheit über sich ergehen lassen mußte, war nach einigen Minuten den Tränen nahe und warf mir hilfesuchende Blicke zu, die ich nur genauso unglücklich erwidern konnte. Karas holte schwungvoll zu einer neuerlichen Schimpfkanonade aus, wechselte unversehens die Farbe und klappte den Mund wieder zu.
»Wir sprechen später darüber«, sagte er zu dem verblüfften und erleichterten Beamten und schickte ihn mit einer unwirschen Handbewegung hinaus. Dann saß er eine Zeitlang mit geschlossenen Augen da und rang schwer und keuchend nach Luft. Ich bemerkte mit hämischer Genugtuung die Schweißperlen auf seiner Stirn. Karas legte die Stirn in die zusammengekrampften Hände und flüsterte fast unhörbar: »Sag alle weiteren Termine für heute und morgen ab.«
Ich wandte verblüfft ein: »Aber der B-Botschafter ...«, doch er unterbrach mich heftig: »Tu, was man dir aufträgt, Bursche! Ich bin in meinem Quartier und erwarte dich dort!«
Mit hochrotem, zornigem Kopf stürmte ich aus dem Arbeitsraum und machte meine Runde. Nein, für heute sei alles abgesagt, der Kammerherr sei indisponiert. Nein, auch morgen sehe es eher schlecht aus. Ja, übermorgen stünde domu Karas sicherlich wieder zur Verfügung.
Meine letzte Station war der Botschafter, der die Nachricht mit unbewegtem Gesicht entgegennahm. »Kann ich etwas für den Kammerherrn tun? Soll ich ihm meinen Heiler schicken?« fragte er kalt, und ich verneinte.
Immer noch vor Wut kochend, begab ich mich zu Karas' Privaträumen. Er lagerte im Schlafrock auf seinem Diwan und empfing mich, kaum daß ich einen Schritt in den Raum getan hatte, mit der barschen Anweisung: »Lauf zu Radolf und bitte ihn um eine ordentliche Portion von seiner stärksten Medizin!«
Ich salutierte, bellte: »Zu B-Befehl!« und knallte die Tür hinter mir zu.
Radolf machte ein bedenkliches Gesicht, als ich die Bestellung aufgab. »Ist es ein sehr schlimmer Anfall?«
»Er kujoniert alle in seiner Umgebung, mich am m-meisten und hat für z-zwei Tage alle Termine abgesagt«, antwortete ich knapp und böse. Radolf pfiff tonlos und verschwand im Keller. Nach einigen Minuten tauchte er mit einer großen Kanne und einem kleineren Krug in der Hand wieder auf und stellte beides vor mich hin.
»Wenn das nichts nützt«, er wies auf die Kanne, »dann gib ihm von dem anderen Zeug. Aber vorsichtig, das brennt Löcher in Schuhsohlen!«
Karas einziger Kommentar war: »Wo hast du dich die ganze Zeit rumgetrieben?« Dann riß er mir den Becher aus der Hand, den ich ihm gerade reichen wollte und füllte ihn sich selbst. Der betäubende Dunst von schwerem, dunklem Würzwein erfüllte den kleinen Raum. Mit abstoßender Hast schüttete Karas den Wein hinunter und schenkte sich sofort mit zitternden Händen nach. Mich überkam ein heftiges Ekelgefühl bei seinem Anblick. Ich ging schnell hinaus, ohne ihn um Erlaubnis gefragt zu haben.
Nach einigen Stunden Schlaf fühlte ich mich etwas besser und raffte mich auf, um nach Karas zu sehen. Er lag halb bewußtlos auf dem Diwan, besoffen wie ein Schwein und atmete schwer und röchelnd. Die Kanne lag leer neben ihm. Diese Menge Wein hätte eigentlich ausreichen müssen, um eine Kompanie Wachsoldaten in gehobene Stimmung zu versetzen. Ich wandte mich angewidert ab und wollte wieder in mein Bett zurückkehren, da hielt mich seine Stimme auf.
»Mein lieber Junge«, murmelte er schleppend. Ich stand da, mit dem Rücken zu ihm. Irgend etwas hinderte mich daran, einfach wieder zu gehen. Karas seufzte, und ich fand mich an seinem Lager wieder, seine Hand in der meinen. Seine Augen irrten unstet umher, suchten meinen Blick. Mein Zorn war fort, wie weggeblasen. Heftiges Mitleid für ihn erfüllte mich. Karas drückte schwach meine Hand, und seine Lippen formten eine lautlose Bitte um Vergebung. Ich verbrachte die Nacht wachend neben ihm, lauschte seinen schweren, mühsamen Atemzügen und dachte nach. Irgendwann gegen Morgen kam sein Diener herein, und ich schickte ihn zu Radolf, um mehr Wein zu holen. Ich hatte das Gefühl, daß die Sache noch nicht ausgestanden war.
Karas rührte sich, kurz nachdem Mikel mit dem Wein zurückgekehrt war, und ich ihn wieder fortgeschickt hatte. »Bitte«, flüsterte er. »Bitte.« Ich setzte den Becher an seine Lippen. Er trank gierig, und seine Hand krallte sich krampfhaft um meine. Dann lag er sehr ruhig. Ich wischte ihm den Schweiß vom Gesicht.
»M-möchtet Ihr nicht lieber in Eurer Bett?« Er nickte schwach, mit geschlossenen Augen. Ich hievte ihn mit geübtem Griff empor und führte den taumelnden, schwankenden, nahezu bewußtlosen Mann hinüber in das andere Zimmer. Dort half ich ihm aus dem Schlafrock und ließ ihn behutsam auf sein Bett niedersinken. Ich deckte ihn sorgfältig zu und vernahm voller Sorge seinen röchelnden, schluchzenden Atem. Sein Gesicht war leichenblaß und eingefallen, und Tränen schimmerten auf seinen Wangen.
»S-soll ich einen Heiler holen, domu?« fragte ich, überzeugt, daß nicht nur der Alkohol an seinem Zustand schuld sein konnte.
»Nein!« fuhr er empor. »Nein ...« Er fiel zurück in die Kissen. »Das hat ja doch keinen Sinn.« Seine Stimme versagte. »Gib ... gib mir ...«
Ich hielt seine Hand fest, die blind nach dem Becher tastete und fragte unsicher: »Wäre es nicht b-besser, wenn Ihr damit aufhörtet? Ihr b-bringt Euch um, Kammerherr!« Er lachte: heiser, stoßend, hustend. Es tat mir weh, das zu hören. »Bitte, domu!« flehte ich. Er tastete schluchzend vor Begierde immer noch nach dem Becher. Ich gab ihn ihm in die Hand und sah verstört zu, wie er den Wein hinunterstürzte, im Trinken schon nach mehr verlangend. Ich tat ihm seinen Willen, während Tränen der Hilflosigkeit über mein Gesicht liefen.
»Erzähl mir etwas«, bat er kurzatmig. »Erzähl mir ...« Ich wußte nicht, was er wollte und redete einfach los, von Schluchzern geschüttelt. Sprach über Nikal, über Jemaina, über Tom ... Irgendwann bemerkte ich, daß sein Griff um meine Hand sich gelockert hatte und er eingeschlafen war.
Vier Tage und drei Nächte lang hielt ich an seinem Bett durch, sah zu, wie er trank und schlief, trank und weinte, trank und unverständliches Zeug murmelte, trank und trank. Ich stand nur auf, wenn ich sicher war, daß er schlief, ging ruhelos ein paar Schritte auf und ab, setzte mich wieder zu ihm. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Jedes meiner Angebote, einen Heiler zu rufen, hatte er so vehement abgeschmettert, wie ihm das in seinem Zustand nur möglich war. Zwischendurch nutzte ich immer wieder meine im Arbeitshaus erworbene Fähigkeit, mit offenen Augen minutenlang zu schlafen, bis Karas sich erneut regte und nach Wein verlangte. Aus einem dieser Nickerchen weckte mich ein rauhes Flüstern.
»Vee. Veela. Bitte. Bitte, Vee.« Ich beugte mich zu ihm hinunter und sah seine Augen flehend auf mich gerichtet.
»Ich b-bin es, domu«, sagte ich begütigend. »Elloran. Ich bin hier b-bei Euch.«
Er reagierte nicht auf meine Worte, sah mich nur weiter an, während die Tränen über sein Gesicht liefen und murmelte mit schwerer Zunge: »Veela. Bitte, ich kann nicht mehr. Mach ein Ende, Vee ...« Seine Finger umklammerten meine Hand, und er zog mich mit aller verbliebenen Kraft zu sich herunter. »Du hast es mir versprochen«, wisperte er in mein Ohr. »Du hast mir versprochen ...« Seine Stimme verklang. Der Griff um meine Hand lockerte sich, aber sein gepeinigter Blick hielt mich fest und zerrte an mir.
In meiner Verzweiflung griff ich zu Radolfs Mittel für den Notfall, dem kleinen Krug, der einen klaren, starken Schnaps enthielt, und flößte Karas seinen Inhalt ein. Danach fiel der Kammerherr in eine Bewußtlosigkeit, die es mir erlaubte, einige Stunden unruhigen Schlafs in meinem Bett zu verbringen. Aber dann rief mich erneut Mikel, und ich saß wieder neben Karas' Bett, hielt seine immer kälter werdende Hand und sprach auf sein teilnahmslos gequältes, graues Gesicht ein.
Ich war in einen meiner kurzen, wenig erholsamen Schlummer gefallen, als leise, raschelnde Schritte mich weckten, die sich Karas' Bett näherten. Ich schreckte hoch, seine Hand immer noch in meiner Hand, und spürte eine langfingrige Berührung auf meiner Schulter. »Kleiner Narr«, sagte eine vertraute Stimme, »warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«
»Leonie«, rief ich gedämpft und sprang auf.
Sie beugte sich über den Kammerherrn und zog eine kleine Phiole aus ihrer Tasche. Er öffnete zum ersten Mal seit Stunden wieder die Augen und sah zu ihr auf.
»Nein«, flüsterte er matt. Ich sah den hilflosen Zorn in seinem eingefallenen Gesicht.
»Karas, du sturer alter Hund«, sagte Leonie fast zärtlich. »Ich bin nicht deine Feindin. Wann begreifst du das endlich?« Sie griff mit sanfter Gewalt zu und zwang ihn unnachgiebig, den Inhalt der Phiole zu schlucken. Er wehrte sich schwach, und ich konnte nur wie erstarrt dabei zusehen. Endlich hatte sie es geschafft, sein Gesicht erschlaffte, die abwehrenden Hände fielen herab, und seine Augen schlossen sich.
»Du bist so dickköpfig, Kammerherr«, murmelte Leonie. »Genau wie deine Mutter – und fast so stur wie dein verdammter Vater.« Sie lachte gurrend. »Erspar mir d-deine Ratschläge, W-Weib«, imitierte sie spöttelnd die heisere Stimme eines Mannes und deckte dabei den Bewußtlosen liebevoll zu.
Dann wandte sie sich zu mir. »Geh zu Bett, Elloran. Das Schlimmste ist vorbei. Beim nächsten Mal holst du mich gefälligst und läßt mich nicht erst nach dir suchen, hörst du?« Ich nickte betäubt und ließ mich von ihr zu Bett bringen wie ein kleines Kind.
Ich mußte einen Tag und eine Nacht geschlafen haben wie ein Toter. Als ich aufwachte, fühlte ich mich noch immer zerschlagen. Ich sprang in meine Kleider und rannte fast zu Karas' Quartier. Dort erwartete mich eine Überraschung: Der Kammerherr saß aufrecht in seinem Bett, umgeben von Papieren und Aktenmappen und winkte mir munter zu, als ich eintrat.
»Guten Morgen, mein lieber Junge. Wie geht es dir?« Er sah noch nicht gesund aus, sein Gesicht war immer noch erschreckend grau, und die Hände bebten stark, aber in seinen Augen stand wieder der alte, verschmitzte Ausdruck, und seine Stimme, obwohl schwach, verriet unverwüstlich gute Laune.
Ich schnaufte erleichtert und ließ mich neben seinem Bett auf den Sessel fallen, in dem ich etliche schreckliche Stunden durchlebt hatte. Karas schob einen Stapel Papier beiseite und beugte sich zu mir. Er nahm meine Hände und drückte sie stumm und um Worte verlegen. Ich lächelte ihn breit und etwas zittrig an und erklärte nachdrücklich: »Ich bin sehr f-froh, daß es Euch besser geht, domu Karas!«
Er ließ mich los und kicherte schwach. »Die alte Hexe hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet.« Besonders zu freuen schien ihn das allerdings nicht. Er räusperte sich und sagte dann geschäftsmäßig: »Es ist sehr viel Arbeit liegengeblieben, mein Sohn. Fühlst du dich in der Lage, einige Papiere mit mir durchzugehen, oder brauchst du noch Ruhe?«
Ich beeilte mich, ihm zu versichern, daß ich ganz und gar erholt sei und darauf brenne, an meine Arbeit zurückzukehren – was nur sehr bedingt der Wahrheit entsprach. Wir verbrachten ein oder zwei unterhaltsame Stunden damit, eine wunderbar verschnörkelte, unverständliche, mit Paragraphen und Zitaten aus Erlassen der Krone gespickte Antwort auf eine verworrene Beschwerde eines Kronratsmitglieds gegen eine seiner Meinung nach unzumutbare Entscheidung des Kammerherrn zu entwerfen.
Dabei blieben wir keineswegs ungestört: nachdem uns kurz hintereinander zwei Beamte, ein Schreiber, ein Bote des Burgvogtes und Meister Rowald persönlich in der Formulierung eines besonders verwickelten Satzes unterbrochen hatten, knurrte Karas erbost: »Schließ die Tür ab, Junge, sonst werden wir nie damit fertig!«
Gerade wollte ich den Riegel vorschieben, da klopfte es erneut, und Botschafter Galens Stimme fragte: »Ist es erlaubt?«
Ich drehte mich fragend zu Karas um. Er hob ergeben die Hände und sagte bissig: »Da ich heute anscheinend zur Besichtigung freigegeben bin – bitte!«
Ich öffnete die Tür und ließ Galen eintreten. Er nickte mir zu und ließ sich neben dem Bett auf einen Stuhl sinken. Der Kammerherr und er musterten sich eine Weile wortlos, dann hob der Botschafter seine Hand und berührte Karas mit zwei Fingern am Handgelenk. Er sagte nichts. Sein Gesicht blieb so unbewegt wie immer. Karas zuckte leicht zusammen, ließ die Berührung aber stillschweigend zu.
»Ich würde sehr gerne meinen Heiler vorbeischicken, damit er nach Euch sieht«, sagte Galen.
Karas schüttelte sich und knurrte: »Damit er mich wieder beschimpft und mir sagt, ich müsse nur aufhören zu trinken, mich mehr bewegen und vor allem abnehmen? Nein, danke, Botschafter. Sein letzter Besuch hat mich vor allem davon kuriert, ihn jemals wieder zu konsultieren! Ich begreife nicht, wie Ihr einen derart ruppigen, unhöflichen Menschen als Euren persönlichen Heiler mit Euch herumschleppen könnt. Allein seine jederzeit schlechte Laune würde ausreichen, mich wirklich krank zu machen.«
Galen verzog keine Miene. »Er ist der Beste«, sagte er gelassen.
Karas lachte laut auf und winkte ab. »Ich danke Euch für Euer Angebot, Botschafter. Aber ich fühle mich großartig und bleibe nur aus reinem Eigennutz noch ein wenig in meinem Quartier. Hier läßt mich der Kronrat halbwegs in Ruhe, und außerdem können meine Beamten einmal zeigen, daß sie ohne mich viel besser klarkommen. Das tut ihnen und mir von Zeit zu Zeit sehr gut.«
Galen nickte kühl und stand auf. »Ich werde für längere Zeit nicht in der Burg sein, da ich einiges zu erledigen habe, was sich von hier aus nicht bewerkstelligen läßt. Ich melde mich bei Euch, sobald ich zurück bin, Kammerherr.« Er verabschiedete sich mit einem knappen Nicken. Ich atmete auf. Wahrscheinlich würde ich mich nie an die eisige Art dieses Mannes gewöhnen. Jedes Gefühl schien ihm so fremd zu sein wie einem Fisch das Singen.
»Das alte Schlitzohr«, sagte Karas nachdenklich. »Was mag er nur jetzt wieder aushecken?« Er erklärte nicht, was er damit meinte.
Ich sah mit Sorge, daß Karas' Gesicht mit jeder weiteren Stunde fahler und erschöpfter aussah. Deshalb gab ich am späten Mittag vor, völlig erledigt zu sein, und ließ mich von Karas ins Bett schicken. Vorher nahm ich ihm das Versprechen ab, selbst auch etwas zu ruhen, und er gab erstaunlich bereitwillig nach. Das sagte mir fast mehr über seinen Zustand als sein elendes Aussehen.
Gegen Abend – ich hatte wirklich ein paar Stunden geschlafen und einen kleinen Happen gegessen – machte ich mich auf, um nach Karas zu sehen. Er war nicht allein, neben seinem Bett stand ein Mann, der sich über ihn beugte und irgend etwas mit dem lautstark protestierenden Kammerherrn anstellte, das ich nicht erkennen konnte.
»Haltet doch, verdammt noch mal, still«, fluchte der Mann, und Karas jammerte: »Das tut aber, verdammt noch mal, weh!«
»Das täte überhaupt nicht weh, wenn Ihr Euren idiotischen Kopf nicht so verdrehen würdet!«
»Ich verdrehe meinen idiotischen Kopf, damit ich sehe, was Ihr mit Euren verfluchten Fingern tut!«
»Das geht Euch, mit Verlaub gesagt, einen Scheißdreck an!«
»Nicht, solange Ihr an mir herumpfuscht, verehrter Pferdedoktor!«
»Wenn Ihr nicht endlich stillhaltet, binde ich Euch am Bettpfosten fest!«
»Untersteht Euch, oder ich lasse Euch bei Wasser und Brot ins tiefste Verlies werfen!«
»Versucht das nur, Kammerherr, versucht das nur! So, fertig.«
Der Mann trat einen Schritt zurück und verstaute einige Instrumente in seiner Tasche, während Karas schimpfend seinen Schlafrock richtete. Ich räusperte mich heftig und sagte: »H-hallo, Akim.«
»Hallo, Landplage«, knurrte der Heiler. »Du stotterst ja immer noch.« Er drehte sich um und sah mich finster an. Ich bemerkte, daß Karas uns neugierig musterte. Ich grinste, selbst überrascht, wie sehr ich mich freute, den Heiler wiederzusehen.
»S-seid ihr alle hier? Wo ist ...«
Akim ging an mir vorbei zur Tür. »Ich bin alleine hier«, antwortete er mürrisch. »Galen hat mich zurückgerufen, damit ich mir den Kammerherrn ansehe. Und jetzt reise ich mit ihm wieder ab.«
Ich folgte ihm ins vordere Zimmer und sagte erschreckt: »Galen. N-Natürlich, daher kannte ich diesen N-Namen!« Ich schüttelte mich vor Ekel und stieß hervor: »Ich begreife jetzt, w-warum ihr eine s-solche Angst vor ihm hattet, Tom und du.«
Er blieb jäh stehen. Ich sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete. »Angst«, sagte er mit einem unterdrückten Beben in der Stimme, das mir einen heillosen Schrecken einjagte. Der Blick, der mich fixierte, war hingegen beinahe amüsiert zu nennen. »Angst«, wiederholte er. »Das ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck.«
Er öffnete die Tür, und ich rief hastig: »W-würdest du Tom ...«
»Ich grüße ihn«, rief er knapp und bog um die Ecke.
Karas sah mir neugierig entgegen, als ich wieder ins Zimmer trat. »Du scheinst den Heiler des Botschafters ja recht gut zu kennen«, bemerkte er.
Ich mußte schlucken, die Begegnung hatte mich aus meinem neuerworbenen Gleichgewicht gebracht. »Ja«, sagte ich mühsam. »Ich b-bin mit ihm und seinem F-Freund ein großes Stück des Wegs hierher gereist.«
Tom. Ich hatte seit Wochen nicht mehr an ihn gedacht. Ich dachte überhaupt nicht mehr viel an meine Vergangenheit, die Gegenwart hielt mich viel zu sehr in Atem.
Karas nickte sehr nachdenklich. Dann schüttelte er sich und machte ein unbehagliches Gesicht. »Dein Heilerfreund hat mir eine Standpauke gehalten, die sich gewaschen hat«, grummelte er. »Ein grober Klotz, dieser junge Mensch. Aber ich denke, ich werde brav sein und mich jetzt hinlegen, wie er mir befohlen hat. Er bringt es fertig und kommt in einer Stunde, um nachzusehen, ob ich seinen Anweisungen folge!«
Ob wegen oder trotz Akims Behandlung, in den nächsten Tagen ging es mit Karas' Befinden rapide bergauf. Nach zwei weiteren Tagen war er wieder auf den Beinen und scheuchte mich in alter Form durch die Gegend. Es war vieles liegengeblieben, was wir nun sichten und je nach Wichtigkeit möglichst sofort erledigen mußten oder erst einmal auf einen Stapel irgendwann demnächst schichten konnten. Karas vergrub sich schimpfend und die Haare raufend in den Bergen von Papier und schickte mich pausenlos hin und her, um verlegte Akten zu suchen, säumige Beamte anzutreiben und im Archiv nach Vorgängen zu suchen, die sich irgendwie aus seinem Arbeitszimmer verlaufen hatten.
Im Zuge einer solchen Suche betrat ich eines späten Nachmittags nach langer Zeit einmal wieder Meister Rowalds Domäne. Die Schreibstube summte vor Geschäftigkeit. Ich begrüßte den Alten herzlich und fragte ihn nach dem Verbleib des gesuchten Aktenvorgangs.
Er überlegte einen Augenblick lang, dann schnalzte er mit der Zunge, nickte und bat mich, ein paar Minuten zu warten, er sähe im Archiv nach.
Ich schaute aus dem Fenster auf den großen Hof hinunter und dachte über eine Spielstrategie nach, die mir beim Mittagessen eingefallen war, und mit der es mir höchstwahrscheinlich gelänge, Leonie zu überraschen. Im Geiste malte ich mir ihr verblüfftes Gesicht aus und hörte ihr spöttisches Lob, als ich bemerkte, daß mich jemand ansprach. Es war der große, vierschrötige Schreiber Jord. Ich hatte nicht verstanden, was er mich gefragt hatte, und bat ihn höflich, seine Worte zu wiederholen.
Er sah mich starr an und sagte: »Wie gefällt es dir, der persönliche Begleiter des Kammerherrn zu sein?« Ich murmelte etwas Unverbindliches, weil mich irgend etwas an seinem Ton störte. Einige der anderen Schreiber ließen ihre Arbeit ruhen und blickten uns gespannt an. »Ja«, sagte Jord gedehnt, »so viel Glück hat nicht jede Bettwanze, daß sie von dem hohen Herrn persönlich aus dem Arbeitshaus geholt wird. Aber so ein hübsches Kerlchen wie du ...« Er grinste breit und dreckig, und die anderen lachten beifällig. Ich ballte um Beherrschung bemüht die Fäuste und bat ihn in sehr kontrolliertem Ton um eine Erklärung seiner Worte.
Er sah sich unschuldsvoll um und sagte: »Warum, was habe ich denn gesagt?« Der Schreiber, der hinter ihm saß, kicherte. »Immerhin«, fuhr Jord fort, »wir sollten dankbar und glücklich sein: Der gnädige Herr läßt sich inzwischen herab und spricht mit uns gemeinem Volk.« Er hob seine fleischige Hand und spuckte hinein. Dann hielt er mir Hand samt Inhalt unter die Nase und sagte: »Bitte sehr, ist das nicht Eure Leibspeise, edler Herr? Leckt es nur ruhig ab, scheut Euch nicht! Ich habe noch mehr davon.« Die Schreiber kreischten vor Wonne. Ich biß die Zähne aufeinander und wollte mich an ihm zur Tür vorbeidrängen, aber zwei seiner Kollegen bauten sich mit verschränkten Armen und erwartungsvoller Miene vor ihr auf.
»Nanu, so empfindlich bei einem kleinen Scherz? Lauf doch zu deinem Herrchen, kleiner Buhljunge, wein dich bei ihm aus. Wie ist es denn, dem alten Mann das Bett zu wärmen?« höhnte Jord. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden, ich sah nur noch den blanken Haß. »Kriechst du ihm auch schön in den Hintern dafür, daß er dich ein bißchen an seiner Macht schnuppern läßt? Was treibt ihr denn so miteinander, wenn du eine Woche lang nicht aus seinem Schlafzimmer herauskommst? Sauft ihr dabei nur den königlichen Weinkeller leer, oder schleckst du lieber den fetten alten Krüppel von oben bis unten ab?«
Blind vor Wut ballte ich meine Faust und schlug ihm mitten in seine breite, geifernde Visage. Darauf hatten einige der anderen anscheinend nur gewartet, sie johlten und warfen sich auf mich. Ich hörte, wie Bartold seine Kollegen bat aufzuhören, doch sein Appell verhallte wirkungslos. Bis Rowald eintrat und in äußerst scharfem Ton um eine Erklärung für das Geschehen bat, blutete ich aus der Nase, meine Lippe war aufgeplatzt, ein Auge schwoll zu, und mein liebstes, pflaumenblaues Wams hing in Fetzen von meiner Schulter. Ich tupfte mit dem Handrücken das Blut von meinem Mund, wischte mir das wirre Haar aus den Augen – weiß Göttin, wo bei der Prügelei mein Haarband hingeraten war – und bat Rowald, die gefundene Akte zu Karas bringen zu lassen, ich müsse mich erst ein wenig restaurieren, ehe ich dem Kammerherrn unter die Augen treten könne.
Ich richtete meine Kleider, so gut es eben ging und verließ aufrecht und um würdevolle Haltung bemüht den Raum. Hinter mir hörte ich Rowald, den ich für einen der friedlichsten, ruhigsten Menschen hielt, wie einen gereizten Stier losbrüllen. Für einige Atemzüge lehnte ich mich gegen die kühle Wand des Ganges. Meine Knie waren weich, und die unzähligen Schrammen und blauen Flecken, die mein Gesicht und meinen Oberkörper überzogen, begannen jetzt erst richtig zu schmerzen. Ich wußte nur eine Zuflucht, und die suchte ich auf.
Leonie war nicht in ihren Gemächern. Ich fiel auf einen Stuhl und betastete fahrig mein geschundenes Gesicht. Der Haß und die Verachtung, die mir in der Schreibstube entgegengeschlagen waren, kamen mir erst jetzt richtig zu Bewußtsein. Ich merkte, wie ich begann, am ganzen Leibe zu zittern. Vor dem Fenster tanzten zwei Raben in der Luft umeinander, krächzten laut und landeten auf dem Altan. Sie verschwanden im Schatten der Mauer, und kurz darauf trat Leonie von draußen herein, Magramanir auf ihrer Schulter. Ich war verblüfft, sie zu sehen, meinte ich doch, beim Hereinkommen auf dem Altan niemanden bemerkt zu haben. Aber bei meiner augenblicklichen Verfassung war es auch durchaus möglich, daß ich sie einfach übersehen hatte.
Sie erblickte mich, der ich wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl hockte, und ich sah sie zum ersten Mal, seit ich sie kannte, außer Fassung. Sie hatte sich zwar sofort wieder in der Gewalt, aber der kurze Augenblick des kalten, tiefen Zorns in ihren Augen jagte mir einen Schauer über den Rücken. Sie fragte nichts, schickte nur die Rabin fort, führte mich sodann in eines der Nebenzimmer, hieß mich niedersitzen und begann mit behutsamer, kundiger Hand meine Verletzungen zu versorgen. Zum Schluß setzte sie mir einen ihrer Tränke an die Lippen, den ich vertrauensvoll hinunterschluckte und legte ihre kühlen, langen Hände auf mein geschwollenes Gesicht. Unter ihrer Berührung schienen sich die offenen Wunden zu schließen. Unendliche Mattigkeit und Ruhe überkam mich. Sie kniete neben mir, umschloß meine Hände und bannte mich mit ihren weisen, goldenen Augen. Ich blickte wie gebannt in ihre funkelnde Tiefe und hörte aus weiter Ferne ihre beherrschte dunkle Stimme sprechen.
»Warum, Elloran? Warum gibst du dich mit ihnen ab? Hör auf, dir einzureden, du seist ein gewöhnlicher Mensch wie dieser Pöbel, der dich heute zusammenschlug. Du bist etwas Besonderes, und du weißt es. Du hättest diesen Abschaum mit einem Blinzeln deines Auges vernichten können, und du hättest jedes Recht dazu gehabt. Werde erwachsen, Elloran! Bekenne dich endlich zu deinem Erbe. Du weißt, daß du von mir jede Hilfe, jede Unterstützung bekommst, die du dir wünschst.«
Ich vernahm diese Worte wie in einem Traum. Gebannt von ihren Augen und der samtigen, leisen, leidenschaftlichen Stimme, gehalten von dem festen Griff ihrer Hände hätte ich dieser Frau mein Leben und mehr anvertraut. Ich sah sie wie eine Statue aus Fleisch und Blut vor mir knien: das krause weiße Haar wie eine schwebende Wolke um ihr schwarzes, von einem inneren Feuer brennendes Gesicht. Ihre Augen, ihr Mund, ihre Stimme und ihre Hände sagten nur eins: Nimm dir die Macht, die dir zusteht, und ich folge dir, wohin du auch gehst. Mir wurde schwindelig, und ich klammerte mich an ihre starken, schmalen Hände wie ein Ertrinkender an eine Planke.
Sie legte eine Hand über meine Augen und raunte: »Für heute schenke ich dir Vergessen, Elloran. Aber du wirst dich erinnern, wenn es an der Zeit ist. Bis dahin wirst du zweifeln und grübeln. Das sei dein Erbe, bis du dein wahres Erbe antreten kannst. Ich glaube an deine Kraft und an deine Fähigkeit, die richtige Entscheidung zu treffen. Aber jetzt – vergiss!« Ich blinzelte. Für einige Augenblicke erschien hinter Leonie die schlanke, verhüllte Gestalt, die mir im Traum und im Spiegel immer wieder begegnet war. Sie sah mich aus geweiteten Augen starr an, und ihre Lippen formten unhörbare Worte. Ein Schleier senkte sich über meinen Blick, und ich verlor für kurze Zeit das Bewußtsein.
Als ich wieder zu mir kam, saß ich wie zu Beginn im großen Zimmer, sah aus dem Fenster und hörte hinter mir Leonies Stimme: »Du solltest dich jetzt besser beim Kammerherrn melden. Er wird sich Sorgen machen.« Ich stand hastig auf und bedankte mich für ihre Mühe. Sie sah mich an, ohne zu lächeln und sagte: »Bedanke dich nicht, Elloran. Du hast keine Ahnung ...« Sie unterbrach sich und winkte kurz und ungeduldig mit der Hand. »Komm morgen wie immer zu mir. Unser Spiel ist an einem entscheidenden Punkt angelangt. Ich bin gespannt, für welchen Zug du dich entscheidest.«
Karas saß an seinem Schreibtisch, als ich eintrat. Ich hatte nur kurz in meinem Quartier halt gemacht, um wenigstens das zerrissene Wams auszuziehen – die teils mißbilligenden, teils mokanten Blicke, die mich auf meinem Weg von Leonies Räumen zum neueren Teil der Burg getroffen hatten, hatten mich überzeugt, daß ich in diesem Aufzug dem Kammerherrn auf keinen Fall unter die Augen treten durfte.
Meister Rowald schien ihm schon Bericht erstattet zu haben. Karas hob den Kopf und sah mich wortlos an. Dann stand er schwerfällig auf und trat zu mir, ohne den Blick von meinen zerschlagenen Zügen zu wenden. Er legte seine Hände um mein Gesicht und strich behutsam mit dem Daumen über meine geschwollenen Lippen.
»Was ist geschehen, weshalb hast du dich mit Jord geschlagen?« fragte er bekümmert. Ich faßte nach seiner Hand und zog sie an meinen Mund – es war das erste Mal, daß ich eine seiner zärtlichen Gesten erwiderte. Sein Gesicht zuckte, und er schien um Fassung zu ringen.
»Ich k-kann es Euch nicht sagen, domu«, antwortete ich verlegen auf seine Frage. »Es w-war zu – Er hat mich b-beleidigt. Ich hätte einfach hinausgehen sollen, aber er hat m-mich getroffen. Ich schäme mich w-wirklich dafür, daß ich mich habe reizen l-lassen.«
Er sagte nichts, ließ mich aber auch nicht los. Sein trauriger, enttäuschter Blick ruhte auf meinem Gesicht, als wolle er die Wahrheit aus meinen Schrammen herauslesen. Ich hielt dem Blick stand, ohne die Augen niederzuschlagen. Schließlich seufzte er und sein Blick wurde milder. Er küßte mich sacht auf die Stirn und sagte streng: »Geh, binde dir die Haare zusammen. Du siehst aus wie ein Mädchen.«
»Ich h-habe kein Haarband mehr«, antwortete ich verdutzt. Die beiden Bänder, die ich noch aus Salvok mitgebracht hatte, waren fort. Karas schüttelte mißbilligend den Kopf und wühlte in seinem Schreibtisch herum.
»Hier, Kind, nimm das.« Er drückte mir eine kostbare, schwarz-goldene Seidenkordel in die Hand. »Können wir weitermachen, oder hast du zu starke Schmerzen?«
»Leonie hat m-mich gut versorgt.« Ich schlang hastig die Kordel um meinen Zopf. Karas nahm meine Antwort mißbilligend zur Kenntnis und schickte mich wortlos zurück an meine Arbeit.
Der Kammerherr verübelte mir anscheinend doch, daß ich ihm den Grund für den Vorfall in der Schreibstube verschwieg und sagte unser abendliches Beisammensein ab. Ich ließ mir einen kleinen Imbiß auf mein Zimmer bringen und zog mich dann in einen der unzähligen kleinen Innenhöfe der Burg zurück. Es war ein milder, klarer Abend, Vögel sangen, und ein kleines Lüftchen bewegte sacht die Zweige der Bäume, an denen das erste, frische Grün knospte. Ich hockte mich neben ein halb verfallenes Mäuerchen und lehnte den Kopf an den gefleckten Stamm einer Birke. Weit über mir zogen kleine, weiß und rosa getönte Wolken über einen blaßblauen Abendhimmel. Ich zog die Knie an die Brust und schloß für eine Weile die Augen. Kühle Hände strichen durch mein Haar und zupften zart an den Strähnen, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten. »Weißt du«, erklärte meine Schwester gedankenverloren, »eigentlich ist alles ganz einfach. Du läßt dich nur so schrecklich schnell ablenken.« Sie hockte neben mir, die bloßen Füße unter sich gezogen und flocht mir einen dünnen Zopf in meine Stirnlocke.
»Du hast gut reden«, antwortete ich erbost. »Du weißt immer alles besser, gibst mir aber überhaupt keine Hinweise. Alle erwarten irgend etwas von mir, aber keiner sagt mir die Wahrheit! Das war schon auf Salvok so, und hier ist es nicht anders.« Sie rümpfte die Nase, was mich ein wenig an Jenka erinnerte.
»Ich kann dir nicht helfen«, verteidigte sie sich. »Es gibt mich schließlich nicht wirklich, weißt du?«
»Aber warum hast du mich dann angefleht, dich zu suchen, dir zu helfen? Was für eine Gefahr war das, in der du schwebtest? Das scheint doch mit einem Mal alles nicht mehr so dringlich zu sein, habe ich recht?« Ich war richtig wütend auf sie. Warum versuchten nur alle Menschen, die ich kannte, mich herumzuschubsen?
Ihr Gesicht, das dem meinen so erschreckend glich, wirkte schuldbewußt und trotzig zugleich. »Die Gefahr schien sehr wirklich«, verteidigte sie sich. »Wenn du auf Salvok geblieben wärst, wäre ich jetzt – ich würde nicht mehr – Ach, das ist so schwer zu erklären!«
Sie zupfte einen Grashalm aus und schob ihn zwischen ihre vollen, roten Lippen. Ich streckte vorsichtig eine Hand aus und wickelte eine ihrer Haarsträhnen um meinen Finger. Sie entzog sie mir sanft und wisperte: »Sei sehr vorsichtig, Elloran. Nicht alle hier wollen dir wohl.« Ich lachte böse und betastete mein immer noch geschwollenes Auge. Sie schüttelte ungeduldig den Kopf und runzelte die Stirn. »Das meine ich nicht, Elloran. Jemand, dem du vertraust ...«, sie stockte und sah sich erschreckt um. »Ich darf nicht!« sagte sie verzweifelt. »Wenn sie mich hier mit dir sieht ...« Sie sprang auf und lief leichtfüßig über den Rasen ins Haus.
»Bleib doch hier!« rief ich enttäuscht. »Bitte, bleib bei mir!«
»Ich bin ja da«, antwortete eine weiche dunkle Stimme neben mir. Ich schrak zusammen und öffnete die Augen. Goldene Augen blinzelten mich spöttisch an. »Hast du geträumt, Elloran?« Ich fuhr mir verwirrt durch die Haare und blieb mit den Fingern in einem dünnen Zopf hängen.
»J-ja«, sagte ich zögernd. »Ich habe wohl g-geträumt, Leonie.« Sie antwortete nicht, sondern griff mit ihren überlangen Fingern in mein Haar und löste das Zöpfchen auf. »D-darf ich dich etwas fragen, Leonie?« Sie nickte nur, ihre Finger immer noch in meinem Haar. »W-warum versuchen alle hier, mich zu b-beeinflussen? Was ist los, was wollt ihr nur von mir? Ich bin doch nur ein ganz g-gewöhnlicher ...« Ich war den Tränen nahe, und meine Stimme versagte, was mich zutiefst beschämte.
Leonie stand auf und ging einige Schritte fort. »Du bist kein ›ganz Gewöhnlicher‹, Elloran, das müßtest du doch inzwischen begriffen haben!« Ihre Stimme klang ungewöhnlich scharf. Sie wandte mir noch immer den Rücken zu. »Du bist, ob es dir nun gefällt oder nicht, eine der wichtigsten Figuren in einem sehr gefährlichen Spiel.« In einer fließenden Bewegung schwang sie zu mir herum und packte mich bei den Schultern. »Ich habe es dir schon einmal gesagt: Du solltest niemandem vertrauen, nicht einmal deiner eigenen Großmutter! Keiner hier in diesem – Spinnennetz ist ohne Eigennutz, auch ich nicht! Wenn du überleben willst, dann denke immer daran, Elloran. Immer!« Sie ließ mich so plötzlich los, daß ich taumelte und beinahe hingefallen wäre.
»Und w-wenn ich von hier f-fortginge?« fragte ich kläglich.
»Das wäre das Dümmste, was du tun kannst!« fauchte sie. Ihre hohe, langgliedrige Gestalt ragte düster und drohend über mir auf. »Du fielest deinem ärgsten Feind in die Hände, und ich bin sicher, daß du ihm keine Sekunde widerstehen könntest.« Sie kniete sich neben mich, nahm meine Hände und sagte drängend: »Elloran. Verstehe mich bitte richtig! Ich will dir nichts Böses. Ich würde mein Leben für dich geben, wenn das irgend etwas nützt. Aber trotzdem mußt du dir darüber klarwerden, was du wirklich willst. Das ist der einzige Weg, der dir helfen kann, das Spiel zu gewinnen. Es nützt dir gar nichts, wenn du mich oder irgendeinen anderen über dein Leben bestimmen läßt. Du würdest sterben, Elloran, und nicht einmal wissen, weshalb!« Sie sah mich eindringlich an. Ich begann unter diesem Blick zu frieren. Es war dunkel geworden. In den Fenstern der Burg flammten Lichter auf. Irgendwo hinter uns rief klagend ein Nachtvogel. Ein Rabe krächzte eine Antwort, und Leonie stand auf.
»Geh schlafen, Elloran«, befahl sie knapp und ging. Ihre weiße und schwarze Gestalt verschmolz mit den düsteren Schatten der Büsche. Sie war fort. Ich stand verloren und angstvoll neben der Birke und spürte eine große, wortlose Wut in mir aufsteigen. Wenn sie doch alle miteinander wenigstens damit aufhörten, mich immer ins Bett zu schicken, sobald sie meine Fragen nicht beantworten wollen!
Drei Tage lang besprach Karas kühl nur das Allernotwendigste mit mir. Drei Abende verbrachte ich einsam grübelnd an meinen Lieblingsplätzen in der Burg. Ich hatte keine Freunde hier; um Bekanntschaften zu schließen, hatte mir zuerst die Sprache gefehlt und dann die nötige Muße. Nach dem Vorfall in der Schreibstube war ich sehr unsicher, ob es überhaupt noch jemanden gab, der darauf Wert legte, Freundschaft mit mir zu pflegen. Leonie war eher schweigsam und beschränkte sich im Gespräch auf unser Spiel und ihre magischen Unterweisungen. Ich hatte also sehr viel Gelegenheit, über ihre Worte nachzudenken, merkte aber schnell, daß ich mich dabei im Kreise drehte. Zum ersten Mal nach langer Zeit dachte ich wieder an Nikal und fragte mich, wie es ihm wohl inzwischen ergangen sein mochte. Sein Rat fehlte mir sehr. Manchmal hatte es ausgereicht, ihm ein Problem nur darzustellen und sein aufmerksames, mitfühlendes Gesicht dabei zu beobachten, damit ich selbst eine Lösung fand. Aber er war nun einmal nicht hier, und auch Julian machte sich rar. Fast hatte ich den Eindruck, er verübelte mir meine Treffen mit Leonie.
Dann endlich war meine Bestrafung vorbei. Karas lächelte wieder und bat mich für den Abend zu sich. Ich war fast erschreckt, wie sehr ich mich darüber freute. Nach dem Abendessen faßte ich mir ein Herz. »domu K-Karas«, fragte ich ihn, »w-was sind Eure Pläne für mich? Ich wüßte gerne m-mehr darüber.«
»Was meinst du damit?« fragte er zurück. Er starrte an mir vorbei in das Feuer im Kamin.
»Ich habe den Eindruck, Ihr habt etwas Bestimmtes mit mir v-vor, und ich wüßte g-gerne, was das ist«, gab ich trotzig zurück. Warum wich er mir aus? Sein Blick mied mich immer noch.
»Du bist mein persönlicher Schreiber«, sagte er mit mildem Vorwurf in der Stimme. »Reicht dir das nicht? Dabei lernst du alles über die Verwaltung eines Königreiches – diese Gelegenheit bekommt ein junger Mensch nicht sehr oft.« Er trank seinen Becher leer und beugte sich ächzend vor, um sich und mir nachzuschenken. Ich seufzte und gab es für heute auf. Leonie hatte ihn als stur bezeichnet, und ich hatte in den Neunwochen, die ich für ihn arbeitete, mehr als reichlich Gelegenheit bekommen, seinen Dickkopf kennenzulernen. Hier und heute würde ich nicht weiterkommen, aber ich schwor mir, das Thema nicht ruhen zu lassen, bis ich endlich eine Antwort von ihm bekam!
Draußen im Gang näherten sich laute, feste Schritte. Die Tür wurde aufgerissen. Karas rief böse: »Was geht da vor? Wer erlaubt sich ...«
Es verschlug ihm die Sprache, und er sah mit ungläubig geweiteten Augen dem frechen Eindringling entgegen, ehe er ohne Rücksicht auf sein lahmes Bein aufsprang und in die Umarmung einer großen, von der Reise staubigen und nach Pferden und Leder riechenden Gestalt gerissen wurde. Gefesselt und sehr unhöflich sah ich zu, wie meine Großmutter und der Kammerherr nicht müde wurden, sich zu küssen, und nur voneinander abließen, um sich anzusehen, lachend und weinend zugleich, und sofort wieder in die leidenschaftlichste Umarmung versanken.
»Vee, meine Veela, seit wann bist du wieder hier? Ich wußte gar nicht, daß du auf dem Rückweg warst!« Karas umklammerte ihre Hände und stotterte in seiner Bewegung fast so stark wie ich.
Veelora sah ihn eindringlich und voller Liebe an und antwortete fast geistesabwesend: »Vielleicht ist mein Bote aufgehalten worden. Ich bin vor ein paar Minuten eingetroffen. Liebster, du siehst schrecklich aus! War es ein sehr schlimmer Winter?«
Karas lachte kurz auf und antwortete: »Er hätte angenehmer sein können, das meinst du doch auch, oder, mein Junge?« Veelora fuhr herum, mit blitzenden Zähnen in dem staubbedeckten Gesicht und eine Hand an ihrem Messer. Dann entspannte sie sich und lachte ärgerlich.
»Große Göttin, Karas, ich bin zu lange bei den T'jana gewesen. Entschuldige. Ich wußte nicht, daß du Besuch hast.« Sie verbeugte sich knapp und formell und setzte hinzu: »Ich wollte Euch nicht stören, junger Herr. Aber ...« Ich begriff, daß sie mich nicht erkannt hatte und trat unsicher einen Schritt vor, ins Licht. Sie unterbrach sich und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Dann weiteten sie sich überrascht. Sie sagte atemlos: »Das ist doch unmöglich! Karas, du alter Geheimniskrämer – du hast in keinem Brief erwähnt, daß er hier ist!«
Sie umarmte mich und hielt mich dann eine Armlänge von sich entfernt. »Gut siehst du aus, Elloran! Erwachsen bist du geworden, und du hast zugenommen, das steht dir ausgezeichnet. Aber deine Haare ...!«
Ich lachte sie an und musterte sie ebenso gründlich. Sie trug derbe Reitkleidung und hohe, weiche Stiefel, und ihre Haut war von Sonne und Wind gegerbt, das Haar ausgeblichen. Sie hatte sich kaum verändert in dem Jahr, seit ich sie gesehen hatte. Möglicherweise war ein wenig mehr Grau in ihren roten Locken und die eine oder andere Falte mehr in ihrem Gesicht – aber nach wie vor sah sie nicht aus wie die Frau von Ende Fünfzig, die sie war.
Karas unterbrach unsere gegenseitige Betrachtung, indem er vorschlug, wir sollten uns endlich hinsetzen. Veelora ließ sich in den Lehnsessel neben dem Kamin fallen und streckte die langen Beine von sich. »Oh, bin ich müde«, stöhnte sie und fuhr sich mit beiden Händen durch Gesicht und Haare. Dann ließ sie die Hände sinken und sah Karas zärtlich an. Er hinkte zu ihr und hockte sich auf die Sessellehne. Seine Finger strichen liebkosend durch ihre Locken. Sie griff nach seiner Hand, um sie an ihre Lippen zu drücken. Ihre Blicke verhakten sich ineinander, und sie schienen für die Welt um sie herum völlig verloren.
Ich entschied, endlich einmal Diskretion zu beweisen und die beiden sich selbst zu überlassen. »G-gute Nacht, Großmutter. domu Karas, wann s-soll ich mich morgen bei Euch m-melden?«
Veelora sah auf, erschreckt und verwundert. »Was ist denn das? Seit wann stotterst du denn, Elloran?«
»D-das ist eine lange G-G-«, es wollte wieder einmal überhaupt nicht gehen. Ich schüttelte nur den Kopf und sah Karas flehend an.
Der nickte mir begütigend zu und sagte: »Wir erzählen dir morgen alles, Vee. Einverstanden? Und du, mein lieber Junge, kommst selbstverständlich wie immer zum Frühstück zu mir. Ich denke, das ist auch im Sinne deiner Großmutter, nicht wahr?« Veelora lächelte ihn und dann mich an und nickte. Ich dankte beiden, wünschte eine gute Nacht und ging zu Bett.