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Meine Geburt fiel in die Fünftwoche des Dunklen Winters. Die Tage waren noch immer kurz und trüb, aber hin und wieder lag schon eine erste Ahnung von Frühling in der eisigen Luft.

Ist das ein guter Anfang für eine Geschichte? Ich weiß es nicht, aber da es der früheste Zeitpunkt in meinem Leben ist, an den ich mich erinnern kann, werde ich dort beginnen.

Meine Mutter, Ellemir, war froh und traurig zugleich, als sie mich das erste Mal zu Gesicht bekam. Malima, ihre alte Amme, nahm mich aus den Händen der Heilerin Jemaina und zeigte mich meinem Vater, dem Burgherrn von Salvok. Doch der wollte mich noch nicht einmal ansehen, er knurrte nur und ging aus dem Zimmer.

Meine Mutter weinte, und die Amme wiegte mich, weil ich schrie. Ich hörte ihre sanften, mehr gesummten als gesprochenen Worte, ohne daß ich damals verstanden hätte, was sie bedeuteten: »Armes Würmchen. Armes kleines Ding.« Erst viel später sollte ich begreifen, was sie damit gemeint hatte.

Die ersten Neunwochen meines Lebens waren nicht bemerkenswert, sieht man vom Tag meiner Namensgebung ab. Meine Mutter hatte mich eigenhändig in feines, gebleichtes Leinen gewickelt, und sie selbst trug ihr schönstes, smaragdgrünes Gewand. Ihre roten Locken bändigte ein Netz aus Silberfiligran, und als Schutz gegen die noch kühle Frühlingsluft lag um ihre Schultern ein Mantel mit hellem Pelzbesatz.

Malima trug mich ihr nach, als Ellemir durch das Burgtor zur Heiligen Quelle der Göttin im Goldenen Hain schritt. Dort, im Schatten der hohen Albiabäume, wartete schon jemand auf uns: der Zauberer Julian.

Ich weiß, daß viele meinen Vater für überspannt, wenn nicht gar größenwahnsinnig hielten, weil er wahrhaftig einen eigenen Magus in seinen Diensten hatte; gerade so, als sei er die Krone selbst. Malima erzählte mir später, als ich verständig genug dafür schien, der Zauberer habe kurz vor meiner Geburt mit seinem mageren Gaul und armseligem Gepäck vor dem äußeren Burgtor gestanden und Einlaß begehrt. Mit sich geführt habe er ein Sendschreiben der Obersten Maga – an dieser Stelle pflegte Malima mit zwei Fingern das Zeichen des Bösen Auges zu machen – und dieses habe ihn ohne weitere Erklärung in des Burgherren Dienst gestellt. Da niemand jemals einen Wunsch der Obersten Maga in Frage stellte, zog Julian ein und blieb.

An dieser Stelle der Geschichte spuckte Malima immer sehr damenhaft aus und fügte das sprichwörtliche: ›Traue niemals keinen Zauberer nicht!‹ hinzu, mit dem sie alle ihre Geschichten über Magier, Hexerei und Zaubervolk abschloß.

So weit ich mich erinnern kann, hat mein Vater nie auch nur ein Wort mit seinem Zauberer gewechselt. Er duldete ihn, hielt es aber nicht für notwendig, sich darüber hinaus auch noch mit ihm zu beschäftigen. Julian nahm das so gleichmütig hin, wie er anscheinend alles hinnahm und zog klaglos in das kleine, zugige Zimmer hoch oben im Eckturm, das ihm zugewiesen wurde. Dort, so munkelte man, ging er den absonderlichen und zutiefst verabscheuenswerten Beschäftigungen der Zauberer nach, wobei niemand so recht wußte, worin diese eigentlich genau bestanden.

Doch zurück zu meinem Namens-Tag.

Meine Mutter erschrak, als sie den Zauberer dort stehen sah. Mit seinem schwarzen Haar und der dunklen Kleidung verschmolz er fast völlig mit dem tiefen Schatten der Bäume, nur sein bleiches Gesicht mit den weit auseinanderliegenden Augen stach daraus hervor. Hager und melancholisch lehnte er an einem der glatten Baumstämme und erwartete uns. Malima drückte mich fester an ihren Busen und funkelte ihn böse an. Er indes hatte nur Augen für meine Mutter. Auf seiner Schulter saß ein kleiner schwarzweißer Rabe und betrachtete sie ebenfalls. Meine Mutter und Julian sahen sich lange schweigend an.

»Ich hoffe, du weißt, was du tust«, setzte er schließlich ein Gespräch laut fort, das bis dahin stumm geführt worden war. Er machte eine Pause, als erwarte er eine Antwort von meiner Mutter, aber sie hatte die Lippen voller Abscheu zusammengepreßt und ihr Gesicht von ihm abgewandt. Zwischen ihren Brauen stand eine steile unmutsvolle Falte, und ihre grünen Augen blitzten vor unterdrücktem Zorn.

»Du lädst Elloran eine große Bürde auf.« Julian lächelte schmal, als er Mutters Verblüffung darüber bemerkte, daß er den Namen kannte, den sie mir an diesem Tag geben wollte. »Ich denke, ich werde dir helfen«, fuhr er dann fort, ihre Verwirrung sichtlich genießend. »Ich glaube, dein Kind ist dieser Mühe wert, Ellemir.«

Mutter fuhr zornig auf: »Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten! Laß uns einfach in Ruhe, das ist alles, was ich von dir verlange.«

Ihre Blicke kreuzten sich und hielten sich fest. Julians Augen waren so grün wie die meiner Mutter, nur um einige Schattierungen heller und kühler. Sie schien das wortlose Duell zu gewinnen, denn Julian seufzte schließlich fast unhörbar und wandte sich mir zu. Malima trat einen Schritt zurück und zischte drohend, aber meine Mutter befahl ihr mit einem knappen Wink, stehenzubleiben.

Malima gehorchte widerstrebend, und der Zauberer nahm mich aus ihren Armen. Er trug mich hinüber zur Quelle und setzte sich auf ihren ummauerten Rand. Lange und forschend sah er mich an, und von seiner Schulter herab blickte mit verblüffend ähnlichem Ausdruck ein Paar lackschwarzer runder Vogelaugen auf mich. Ich mußte über diesen Anblick lachen und wollte nach dem hübschen schwarzweißen Raben greifen, aber in diesem Augenblick verlor meine Amme ihre übermäßig strapazierte Geduld und nahm mich mit einem aufgebrachten: »Jetzt hab ich aber genug von dem Getue!« dem Magier aus den knochigen Händen.

Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich die nun folgende heilige und wichtige Zeremonie meiner Namensgebung selig verschlief, und ich hoffe sehr, daß mir die Göttin deshalb nicht allzusehr zürnt.

Meine einzige Gesellschaft während der ersten Jahre meines Lebens bildete die stets wechselnde Schar von Mädchen, die Ellemir aufwarteten und sie unterhielten. Es waren immer die hübschesten Jungfern der Burg, die sich um diese Ehre stritten, nur ab und zu befand sich auch eins der anmutigeren Bauernmädchen aus dem Dorf darunter. Sie alle umschwirrten meine Mutter wie bunte Schmetterlinge, wenn auch nicht ganz so schweigsam. Ellemir liebte die Gesellschaft der Mädchen über alles. Mein Vater duldete sie um des häuslichen Friedens willen, aber zu den wenigen Gelegenheiten, da er sich mit seiner Gemahlin beschäftigte statt mit seinen Hunden oder seinen Pferden, wies er die Mädchen jedesmal herrisch aus dem Raum.

Morak, mein Vater, war ein ungeduldiger Mann. Er war dunkel und nicht sehr groß; untersetzt, aber bärenstark. Sein Temperament war hitzig und launisch, wie das seiner Jagdpferde. Ich begriff nie, was ihn und Ellemir verband, aber sie schien seine Gesellschaft, wenn auch in Maßen, durchaus zu schätzen. Sie sahen sich nicht allzu häufig, und wenn Morak, was selten vorkam, sich einmal mehr Zeit für Ellemir nahm, ermüdete ihre Aufmerksamkeit recht schnell. Meine Mutter war ohnehin leicht von anderen Menschen gelangweilt, in ihrer Unduldsamkeit und Selbstbezogenheit schien sie Morak sehr ähnlich.

Von mir nahm mein Vater das erste Mal widerwillig Notiz, als ich einigermaßen selbständig laufen konnte. Das einzige, was er äußerte, als ich mich haltsuchend an seine Beine klammerte, war: »Es wird Zeit, daß der Junge unter Männer kommt, raus aus dieser Weiberwirtschaft!« Malima schnaufte empört, aber noch nicht einmal sie wagte dem Burgherren gegenüber Widerspruch. Folgen hatte sein Befehl ohnehin nicht, da er es auch weiterhin nicht der Mühe wert hielt, sich um mich zu kümmern. Also lebte ich weiter zwischen den Gespielinnen meiner Mutter, die mich verhätschelten und liebkosten wie eine lebendige Puppe oder ein Schoßtier.

Das wäre sicher noch lange so weitergegangen, wenn mich nicht eines schönen Frühlingstages der Forscherdrang gepackt hätte. Unbemerkt entwischte ich Malima und den Mädchen und machte mich auf Entdeckungsreise durch die Burg. Schließlich kam es, wie es kommen mußte, ich hatte mich heillos verirrt. Über und über staubbedeckt, hungrig und zum Weinen müde kauerte ich auf einer der vielen Treppen des Palas, als ein hünenhafter, blonder Mann, schnell um die Ecke biegend, fast über mich stolperte.

»Hoppla«, sagte er freundlich, fuhr mir entschuldigend durch die Haare und wollte weitergehen. Da fiel sein Blick auf meine tränenverschmierten Wangen. Er hockte sich zu mir und nahm meine Hand.

»He, Rotschopf, was fehlt dir denn?« Er lächelte mich an, und der Ausdruck seines großen, freundlichen Gesichtes ließ meine Tränen versiegen. Ich lächelte unsicher zurück.

»Du bist der Sohn des Burgherrn, nicht wahr?« Der blonde Mann setzte sich neben mich auf die kalten Steinstufen und streckte seine langen Beine von sich. Ich nickte eifrig, froh darüber, daß dieser nette Riese mich zu kennen schien.

»Guten Tag, Elloran. Ich bin Nikal, der Kommandant der Wache.«

Ich staunte ihn wortlos an. Seine hellen Augen blinzelten verschwörerisch, und er fragte: »Warum sitzt du hier und machst ein Gesicht, als hätten dich all deine Freunde verlassen? Bist du etwa von zu Hause ausgerissen und willst jetzt hinaus in die weite Welt?«

Ich senkte beschämt den Kopf und murmelte, ich hätte mich nur verlaufen. Nikal schüttelte den Kopf. »Auf, mein Junge. Ich bringe dich zu deiner Mutter zurück.« Er reichte mir seine Hand und zog mich auf die Füße. Dann lachte er auf, packte mich mit festem Griff und schwang mich mühelos auf seine Schultern. Er trug mich durch die endlosen Gänge der Burg, ich spürte das Spiel der starken Muskeln in seinen Schultern und fühlte mich so geborgen wie in den Armen meiner Amme.

Viel zu schnell hatte er mich über den Hof und die Treppe hinauf zu unseren Gemächern gebracht. Er klopfte an und wartete respektvoll, bis meine Mutter ihn eintreten hieß, dann hob er mich von seinen Schultern und setzte mich sanft auf dem Boden ab. Meine Mutter hatte keinen Blick für mich übrig, sie sah den Kommandanten an.

»Danke, daß du uns den Kleinen zurückgebracht hast. Wir haben ihn eben erst vermißt.« Ihre Stimme klang beiläufig, aber ich hörte den Klang der Erregung, der darunter lag, und war mir sicher, daß auch Nikal ihn vernommen hatte. Er nickte nur schweigend und blickte meine Mutter starr an, als warte er auf ein Zeichen von ihr. Sie wandte sich ab und trat zur Tür, die in das angrenzende Gemach führte. Dort rief sie nach Malima, die auch sofort kam, aufgeregt die Hände ringend. Sie stürzte sich auf mich, mich gleichzeitig scheltend und abküssend. Ich ließ beides über mich ergehen, ohne meine Augen von Nikal zu wenden. Malima schob mich mit fester Hand ins Nebenzimmer, immer noch schimpfend. Ich entwischte ihr und lief zurück zu dem großen Soldaten. Der sah mit einem schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht auf mich herab.

»Darf ich ... Kommst du ...«, stotterte ich aufgeregt, gepeinigt von der undeutlichen Angst, ihn womöglich nicht wiederzusehen. Er hob mich hoch und drückte mich kurz und fest an sich, ehe er mich sanft wieder absetzte und mir einen Klaps auf den Po gab.

»Wenn deine Eltern es erlauben, werde ich dich unterrichten«, gab er zur Antwort. Ich warf meiner Mutter einen flehenden Blick zu.

Sie zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. »Das soll dein Vater entscheiden. Malima, bring ihn zu Bett.«

Meine Amme griff mit geübter Hand zu, und dieses Mal konnte ich mich nicht loswinden. Malima schob mich zur Tür hinaus, ohne auf meinen Protest zu achten, und steckte mich ins Bett.

Mein Vater erklärte sich damit einverstanden, daß sein Kommandant meine Ausbildung übernehmen sollte, und gab Nikal die Anweisung, mich im Waffengebrauch zu unterweisen. In der Viertwoche nach meinem sechsten Geburtstag stand Nikal frühmorgens in der Tür der Kemenate. Sein breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln, als er meinen Freudenschrei vernahm, sodann verneigte er sich formvollendet vor meiner Mutter und erbat ihre Erlaubnis, mich zu meiner ersten Übungsstunde in den Waffenhof mitzunehmen.

Der Waffenhof, zwischen Eckturm und Torhaus, lag leer vor uns in der blassen Frühlingssonne. Nikal hob mich über die hölzerne Umzäunung und zeigte mir einige Übungen, die meine ungeübten Glieder dehnen und erwärmen sollten. Ich geriet trotz der Kühle der Luft schnell ins Schwitzen, aber es machte mir gehörigen Spaß. Nikal hatte sich inzwischen seines Hemdes entledigt, und ich konnte das Spiel seiner Muskeln bewundern. Seine breite Brust und die starken Arme waren mit zahllosen Narben bedeckt, die ein deutliches Zeugnis von der gefahrvollen und blutigen Vergangenheit des ehemaligen Söldners ablegten.

Er beendete seine Übung mit einer Schulterrolle, kam in einer fließenden Bewegung wieder auf die Füße und grinste mir zu. Einem Gestell am Eingang des Hofes entnahm er zwei stumpfe Übungsschwerter, eines davon offensichtlich für die kleineren Hände eines Knaben gedacht. Dieses warf er mir zu, und ich fing es ungeschickt auf. Er zeigte mir, wie ich es zu halten hatte und dann die korrekte Körperhaltung sowie eine Bewegungsfolge aus Schritt und Ausfall, die ich wieder und wieder ausführen mußte, bis er einigermaßen zufrieden damit schien. Bald war ich atemlos und schweißüberströmt, und meine Muskeln protestierten heftig gegen die ungewohnte Anstrengung.

Inzwischen hatte der Waffenmeister Torkal damit begonnen, die Knappen der Burg unbarmherzig über den Hof zu jagen, deshalb gab Nikal mir ein Zeichen aufzuhören und verstaute die Übungsschwerter wieder ordentlich in ihrem Gestell.

»Jetzt haben wir uns wirklich ein anständiges Frühstück verdient«, sagte er. »Kommst du mit in die Halle?« Ich war begeistert. Die Halle hatte ich bisher erst einige wenige Male betreten, immer nur zu hohen Festtagen, wenn sie feierlich geschmückt im Schein von tausend Lichtern erstrahlte. Ihr alltägliches Gesicht erschien mir sogar noch aufregender. Die Soldaten der ersten Wache hatten die Nachtwache vor kurzem abgelöst, daher saßen hier sowohl einige übernächtigt wirkende Männer bei einem Schlummertrunk, als auch dienstfreie Soldaten, die herzhaft dem deftigen Frühstück zusprachen.

Nikal setzte sich mit mir an einen der langen Holztische und winkte einem der Küchenjungen, die durch die Halle wieselten. Der brachte uns kurz darauf eine Kanne mit dampfendem Tee, duftendes braunes Brot, das von Honig troff, und einen Berg von gebackenen Eiern, Schinken und salzigem Käse. Ich griff zu, als wäre ich vom Hungertod bedroht, und Nikal stand mir in nichts nach. Ein vierschrötiger älterer Soldat setzte sich zu uns und sah mir beim Essen zu.

»Hat 'nen ordentlichen Appetit, der Kleine, was?« lachte er und hob seinen Humpen. »Ein strammer kleiner Kerl. Ist das deiner, Nik? Ich wußt gar nicht, daß du Bälger hast.« Er fuhr mir mit seiner groben Hand durchs Haar, und ich wurde rot.

Nikal schüttelte fast bedauernd den Kopf. »Leider nicht, Cal. Elloran ist Moraks Sohn.«

Der andere hob die Brauen, ich spürte seine Neugier. Er beugte sich zu Nikal hinüber und fragte leise, allerdings nicht so leise, daß ich ihn nicht verstanden hätte: »Stimmt's, was man sich über den Kleinen erzählt? Daß er ein T'svera ist?« Er machte eine verstohlene Handbewegung, deren Bedeutung mir verborgen blieb. Nikal sah plötzlich sehr wütend aus, ein Ausdruck, der zu seinem freundlichen Gesicht nicht recht passen wollte.

»Halt dein dummes Maul, Soldat, und erzähle nicht so einen verfluchten Unsinn!« Seine Stimme klang scharf und böse.

Der Soldat schrumpfte förmlich zusammen und begann hastig, sich zu rechtfertigen. »'s kommt nicht von mir, Nik. Alle sagen das.«

»Und du mußt es natürlich nachplappern, du Fliegenhirn.« Nikal war alles andere als besänftigt. Ich sah ihn ängstlich an. Er legte seine Hand auf meine, und sein Gesicht glättete sich. »Bist du fertig, Kleiner?«

Ich nickte, und er stand auf. Ich beeilte mich, ihm aus der Halle zu folgen, hatte dabei allerdings Mühe, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Er bemerkte es und ging langsamer.

»Morgen hole ich dich um die selbe Zeit ab, ist das in Ordnung? Ich muß jetzt die Unterkünfte meiner Leute prüfen, das ist langweilig für dich.« Er sah mein enttäuschtes Gesicht und legte eine Hand in meinen Nacken. »He, Rotschopf, guck nicht so traurig. Morgen sehen wir uns doch wieder.« Er schüttelte mich sanft. »Kannst du schwimmen?« Ich verneinte beschämt. »Gut, dann gehen wir morgen, sobald ich Freiwache habe, zum Teich hinunter, und ich bringe es dir bei. Ist das ein Angebot?« Meine begeisterte Antwort schreckte die Tauben auf, die sich auf der Überdachung des Wehrganges gesonnt hatten. Nikal lachte sein ansteckendes Lachen und scheuchte mich die Treppe zu den Frauengemächern hinauf.

Erst viel später fielen mir die Worte des Soldaten Cal wieder ein. Sie beunruhigten mich, weil ich sie nicht verstand. Aber irgend etwas hinderte mich daran, einfach meine Amme zu fragen, wie ich es sonst immer tat. Vielleicht, weil Nikal so ärgerlich darauf geantwortet hatte. Ich beschloß, die Begebenheit fürs erste zu vergessen. Eine Gelegenheit, bei der ich jemanden danach fragen konnte, würde sich gewiß ergeben.

Nikal holte mich von da an jeden Morgen pünktlich zum Wachwechsel bei Malima ab und ging mit mir in den Waffenhof. Danach frühstückten wir gemeinsam in der großen Halle, und er brachte mich wieder heim. Nach einer Woche meinte er, ich sei wirklich alt genug, den Weg zum Waffenhof alleine zu finden, ohne mich zu verlaufen.

Zu meiner Freude lockerte meine Mutter nun auch meine Zügel und erlaubte mir endlich, frei und auf eigene Faust auf dem Burggelände herumzustrolchen. So lernte ich nach und nach die anderen Kinder kennen, die hier lebten. Es gab eine Schar etwas älterer Jungen, deren Anführer mich nicht gerade mit offenen Armen empfing. Der dicke Bernak genoß als Sohn des Burgvogts besonderes Ansehen bei den anderen Jungen, und er fürchtete wohl, daß ich ihm dies streitig machen könnte.

Ich verspürte allerdings keinerlei Ehrgeiz, mich mit ihm zu messen. Er war einige Jahre älter als ich und viel kräftiger. Seine Fäuste wurden von allen gefürchtet, und ich lernte schnell, einen weiten Bogen um seine berüchtigten Wutausbrüche zu machen. Glücklicherweise verzichtete er darauf, mich zum Einstand erst einmal durchzuprügeln, wie er das mit den anderen getan hatte. »Aber nur weil du das kostbare Söhnchen unseres Burgherrn bist«, hatte er abfällig grinsend gesagt und das Grölen seiner Gefolgschaft genossen.

Ich war fürs erste geduldet, und nach einigen Wochen, als der Reiz des Neuen für die anderen vorbei war, wurde ich auch nicht mehr anders behandelt als der Sohn eines der Stallknechte, der in meinem Alter war. Karel war ein schmächtiger Knabe, der gelernt hatte, die Hänseleien der Größeren geduldig hinzunehmen, weil sie so am schnellsten den Spaß daran verloren, ihn wegen seiner Zartheit aufzuziehen.

Ich weiß, daß Ellemir meinen Umgang mit den Kindern des Gesindes nicht gerne sah, aber sie verbot ihn mir auch nicht. Mit wem sonst hätte ich auch spielen können? Allerdings rief sie mich eines heißen Sommertages in ihre Kemenate und sprach sehr ernst mit mir. Ich verstand nicht, warum sie so streng, fast böse erschien, und ich versprach, mich in allem nach dem zu richten, was sie mir gebot – schon, weil sie mir sonst nicht mehr erlaubt hätte, mich mit den anderen Knaben zu treffen.

Wenn wir nun zum Schwimmen zum Fluß gingen, behielt ich also als einziger meine Wäsche am Leib, weil meine Mutter es mir strengstens befohlen hatte. Ich wurde heftig dafür aufgezogen und schämte mich sehr. Ich bemerkte, wie die älteren Jungen sich um den dicken Bernak scharten und tuschelten, wobei sie hin und wieder verstohlene Blicke zu mir herüberwarfen.

Einmal schlug Bernak eine Wasserschlacht im Dorfteich vor. Er und sein Stellvertreter Henno, der nicht besonders schlau, dafür aber ungemein stark war, suchten sich ihre Mannschaft zusammen. Wie immer waren Karel und ich die letzten, die gewählt wurden.

Ich wurde einige Male kräftig untergetaucht und mußte während der Rangelei krampfhaft darauf achten, meine nasse Wäsche nicht zu verlieren, deshalb hatte ich kein besonders großes Vergnügen an dem Spiel. Ich verzog mich unauffällig an den Rand des Geschehens und beobachtete die anderen, wie sie sich unter Geschrei gegenseitig in das schlammig aufgewühlte Wasser des Tümpels tauchten. Zwei Jungen hatten den armen Karel in die Enge getrieben und drückten ihn hohnlachend unter Wasser. Ich war abgelenkt und bemerkte nicht, daß Bernak und einige andere der Großen sich aus dem Getümmel gelöst und an mich herangeschlichen hatten. Ehe ich mich versah, schluckte ich Wasser und Entengrütze und schlug voller Panik um mich. Als ich halbertrunken endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte und mir spuckend und hustend den Schlamm aus den Augen wischte, sah ich Bernak johlen und voller Triumph meine Wäsche schwenken. Die anderen Jungen ließen voneinander ab und umkreisten mich schreiend und lachend. Ich rettete mich ans Land und rannte zu meinen Kleidern, während es hinter mir gellend und höhnisch tönte: »Seht nur! Der hübsche kleine Elloran ist ein T'svera!« – »Ein T'svera!« wiederholten die anderen kreischend und lachend, und noch während ich schluchzend zur Burg hinauflief, klang es schrill hinter mir her: »T'svera ...«

Meine Mutter sah, wie ich mich ins Gemach schlich, und auch, daß ich geweint hatte. Es dauerte nicht lange, bis sie die ganze Geschichte aus mir herausbekommen hatte. Als ich sie bat, mir zu erklären, was die Worte der Jungen zu bedeuten hätten, preßte sie hart die Lippen zusammen, und ihre grünen Augen blitzten gefährlich auf. Sie fuhr mich böse an, weil ich mich von den Jungen hatte entblößen lassen. Als ich wagte, mich damit zu rechtfertigen, daß die anderen weitaus stärker und noch dazu in der Überzahl gewesen seien und mir keine Wahl gelassen hätten, ohrfeigte sie mich.

Das war die erste Züchtigung, die ich je von ihr erhalten hatte. Das überraschte mich so sehr, daß ich sogar zu weinen vergaß. Stumm und erschreckt ließ ich mich zur Strafe ins Bett stecken und bekam von meiner Amme zu allem Überfluß auch noch eine gesalzene Strafpredigt, weil ich meine arme Mutter derart aufgeregt hätte. Schlaflos lag ich da, am hellichten Tag und mit brennender Wange und knurrendem Magen – natürlich war ich ohne Abendessen ins Bett geschickt worden –, und mehr als das körperliche Ungemach brannte in mir die Frage, was ich Schlimmes verbrochen hatte, daß meine Mutter so böse auf mich war. Was mochte das nur Schreckliches sein, ein T'svera? Hatte es damit zu tun, daß ich ganz offensichtlich nicht so war wie die anderen Jungen? Ich glich keinem von ihnen, nicht einmal dem zierlichen kleinen Karel, und ich schämte mich, auch nur darüber nachzudenken, was diese auffällige Andersartigkeit zu bedeuten hatte.

Glücklicherweise fanden die Jungen nach einigen Tagen ein anderes Opfer und hörten auf, mir das Spottwort nachzurufen, sobald sie mich nur zu Gesicht bekamen. Die Zweifel wegen meiner Andersartigkeit drängte ich zurück und vergrub sie tief in meinem Innersten. Ich wagte nicht mehr, jemanden danach zu fragen, aus Angst, damit erneut diesen erschreckenden Abscheu und Zorn hervorzurufen.

Eines Morgens hielt mich meine Mutter am Ärmel fest, als ich gerade zur Tür hinauswischen wollte.

»Komm bitte nachher gleich zu mir, ich habe mit dir zu reden.« Ich nickte; ungeduldig, weil ich nicht zu spät zum Unterricht kommen wollte, aber auch neugierig, was sie mir zu sagen hatte.

Nach der Übungsstunde stürmte ich mit vom Brunnenwasser noch feuchten Haaren in ihre Kemenate und stellte mich erwartungsvoll vor ihr auf. Sie saß in der üppig gepolsterten Fensternische und bestickte ein zartes Tuch mit kostbarem Goldfaden. Ich konnte mich kaum sattsehen an ihr: die zierliche Figur, ihr ovales, blasses, von schweren roten Haarflechten umrahmtes Gesicht, die schlanken Finger, die die glänzenden Fäden geschickt durch das Gespinst zogen. Meine Mutter war sicher die schönste Frau der Welt!

Als hätte sie meine Gedanken gehört, blickte sie auf und lächelte mich zärtlich an. Ich lehnte mich an ihr Knie und ließ es zu, daß sie mich auf die Wange küßte.

»Macht dir der Unterricht bei Nikal Freude?« fragte sie. Ich nickte heftig. Sie glättete mit den Fingern mein wirres Haar. »Ich habe mir etwas für dich überlegt, das dir sicherlich genauso gefallen wird.« Ihre grünen Augen blitzten vergnügt. »Der Enkel der Herrin von Kerel Nor sollte nicht wie ein ungebildeter Bauerntölpel aufwachsen. Julian ist ebenfalls bereit, dich zu unterrichten. Du wirst sehen, das Lesen zu lernen wird dir gefallen.«

Es verschlug mir den Atem vor Aufregung. Zu dem Magier hinauf in sein geheimnisvolles Turmzimmer, das nie jemand außer ihm betrat!

Malima, im Winkel sitzend und damit beschäftigt, Wäschestücke zu flicken, schnitt eine verdrießliche Miene. Ihr Mißtrauen Zauberern und Hexerei gegenüber war allen in der Burg bekannt, und Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben schienen der alten Amme nicht minder hexerische Betätigungen. Es war nur zu deutlich, daß sie die Entscheidung meiner Mutter zutiefst mißbilligte. Das konnte allerdings meine eigene Begeisterung nicht um einen Deut mindern.

Also erklomm ich kurz darauf unter heftigem Herzklopfen die steile Holztreppe zu Julians Turmzimmer. Zaghaft pochte ich an die Tür. Drinnen hörte ich einen Raben krächzen. Nach einigen Sekunden schwang die schwere Tür auf, und ich trat ein. Die Tür schloß sich hinter mir, ohne daß jemand sie berührt hätte. Es war dämmrig in dem kleinen runden Gemach. Durch enge Fensterschlitze fielen schmale Streifen Sonnenlicht und malten Lichtpfeile auf den dunklen Holzboden. Mitten im Raum stand ein schwerer Tisch, daran ein zerschlissener Lehnstuhl. In die hofseitige Wand war ein Kamin eingelassen, ihm gegenüber die Bettnische, und überall im Raum lagen Bücher in Stapeln umher. Magramanir, Julians zahme Rabin, saß auf der Lehne des Stuhles und sah mich mit schiefgelegtem Kopf neugierig an. Ich hatte reichlich Muße, mir das alles anzusehen, denn mein Gastgeber und zukünftiger Lehrer war ganz offensichtlich nicht zu Hause.

Endlich polterte es über meinem Kopf, und von der Wehrplatte des Turms stieg Julian über eine schmale Leiter hinunter in das Gemach. Er begrüßte mich freundlich und nahm einen Topf zur Hand.

»Möchtest du Tee?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern schöpfte zwei Becher voll. »Hier, nimm. Und setz dich.« Der Rabe Magramanir breitete mit einem Krächzen seine glänzenden Schwingen aus und flog auf meine Schulter. Julian lächelte, es schien ihn nicht zu ärgern. Er setzte sich in den Lehnstuhl und blies über seinen Tee. Den überschwappenden Becher vorsichtig in der Hand balancierend, mit dem ungewohnten Gewicht des Raben auf meiner Schulter, nahm ich auf der Bank Platz.

»Ist dir der Tee süß genug?« fragte der Magier. Ich brannte inzwischen vor Ungeduld und wollte mich nicht nur über Tee unterhalten. Aber eingedenk der Ermahnungen meiner Amme, gutes Benehmen betreffend, bedankte ich mich artig. Julian heftete seine beunruhigend grünen Augen auf mich und machte keinerlei Anstalten, das Gespräch zu eröffnen. Die langen Finger um seinen Becher gelegt, trank er schweigend seinen Tee und sah mich nur an. Ich wußte nicht, was er von mir erwartete. Unbehaglich rutschte ich auf der Bank herum und bemühte mich, seinem Blick standzuhalten. Eine Sekunde, bevor ich vor Anspannung gewiß geplatzt wäre, erlöste er mich.

Er atmete tief ein, fast war es ein Seufzen, und sagte: »Deine Mutter sähe es gerne, wenn ich dich unterrichte. Entspricht das auch deinem eigenen Wunsch?«

Ich bejahte mit Begeisterung. Er mußte darüber schmunzeln. »Na gut, dann wollen wir gleich beginnen.« Ohne aufzustehen, kramte er in einer vollgestopften Truhe neben dem Tisch herum und holte Federn, einige Bögen Papier und ein Tintenfaß heraus. »Rück dir den Schemel dort an den Tisch. Du wirst wahrscheinlich ein oder zwei Bücher darauflegen müssen, damit du hoch genug sitzt. Gut so. Schau her, das ist der erste Buchstabe, den du heute lernst.«

Die Stunde in Julians Turmzimmer war im Nu herum. Nach der Lektion fragte Julian mich ein wenig aus. Ich erzählte ihm bereitwillig von meinen Beschäftigungen, dem Unterricht bei Nikal, den Freiwachen, die wir häufig miteinander verbrachten, um zu schwimmen oder zu angeln, oder wie ich an einem der vergangenen Nachmittage erstmals auf einem Pferd gesessen hatte. Julian hörte sich all das interessiert an. Irgendwann versiegte mein Redefluß, und er schickte mich mit der Anweisung nach Hause, am nächsten Tag wiederzukommen. Ich hüpfte fröhlich die Stufen hinunter, ganz anders gestimmt als bei meinem Aufstieg.

Die Neunwochen bis zum Winter waren gut ausgefüllt. Nikals Pflichten ließen nur noch selten zu, daß er mich unterrichtete. Außerdem hatte ich inzwischen das rechte Alter erreicht, um wie alle anderen Jungen der Burg täglich bei Meister Torkal, dem Waffenmeister zu üben. Seinem hitzigem Temperament hatte ich manche Kopfnuß zu verdanken, denn ich war beileibe kein Naturtalent, was den Umgang mit einem Schwert betraf. Darum gab ich mir um so mehr Mühe, mich nicht allzusehr vor den anderen zu blamieren.

Meine Fortschritte in Julians Unterricht waren sehr viel erfreulicher. Das Lesen fiel mir besonders leicht, aber auch mit dem Erlernen der Schrift ging es flott voran. Außerdem vermittelte der Magier mir allerlei Wissenswertes über meine Heimat. Er schilderte mir die Länder unter der Herrschaft der Krone: meine Heimat Raulikar-am-See; unser westliches Bruderland, das waldige Berg-Raulikar; Olyss, das Steppenland im Osten und das eisige Norrbrigge im hohen Norden. Mich reizte besonders das Herzstück der Kronstaaten: das schöne hügelige L'xhan mit unserer Hauptstadt, der Kronenburg. Meine Mutter stammte aus L'xhan, und dort lebte auch die Herrin von Kerel Nor, meine Großmutter, die eine der beiden Hände der Krone war.

Meine anfängliche Scheu vor dem Magier legte sich mit der Zeit. Ich gewann ihn recht lieb, und ich glaube, auf seine zurückhaltende Art erwiderte er meine Gefühle. Allerdings, so nahe wie Nikal stand er mir bei weitem nicht.

Die lange, düstere Winterzeit verbrachte ich, wenn ich keinen Unterricht hatte, vertieft in einen meiner geliebten Ritterschmöker, die Julian mir aus seiner offenbar unerschöpflichen Bibliothek heraussuchte. So saß ich einmal des Nachmittags frierend in Julians zugigem Turmzimmer. Das Feuer im Kamin knackte und knisterte in seinem vergeblichen Kampf mit der Eiseskälte im Raum.

Bis über die Ohren in eine Felldecke eingemummelt kauerte ich auf der Bank und versuchte, meine tropfende Nase zu vergessen und mich trotz meiner eisigen Finger, die es kaum schafften, die Seiten umzublättern, die Aufmerksamkeit auf das Buch in meinem Schoß zu richten. Julian hatte uns Tee bereitet und in jeden Becher noch zusätzlich einen kleinen heißen Kiesel fallen lassen. Ich wärmte meine Finger am Becher und atmete wohlig den aromatischen Duft ein. Der erste Schluck verbrannte mir die Zunge, und dankbar für diese Ablenkung ließ ich die ›Abenteuer des Edlen Jasper‹ zuklappen.

Der Zauberer saß in seiner gewohnten Haltung in den alten Lehnstuhl gefaltet, aus dessen rissigem Lederpolster überall die Füllung quoll. Eines von Julians langen Beinen hing über die Armlehne, und das andere hatte er unter sich gezogen. Er zwirbelte gedankenverloren an seiner Stirnlocke, während er die vor Konzentration fast schwarzen Augen auf ein schmales Büchlein in seiner Hand gerichtet hielt.

»Julian?« Er reagierte nicht. »Julian!« Der Magus blickte fragend auf. »Magst du mir nicht was erzählen? Über die Zauberer?«

Er ließ das kleine Buch sinken und runzelte die Stirn. »Was ist mit dem Edlen Jasper?«

»Er hat gerade die Prinzessin erschlagen und den Drachen geheiratet. O bitte, Julian, ich würde viel lieber eine Geschichte von dir hören!«

»Was soll ich dir denn erzählen? Wie Zauberer für ihre Ausbildung erwählt werden?«

»Ach nein, das weiß ich schon. Das hat meine Amme mir sicher tausendmal erzählt. Sie hat es ja selbst erlebt, als sie die Amme meiner Mutter und ihres Zwillingsbruders war. Eine Magierin kam kaum einen Tag nach der Geburt und wollte meine Mutter holen. Aber meine Großmutter Veelora hat es ihr verweigert. Also hat die Zauberin den jüngeren Zwilling mitgenommen, das konnte Großmutter wohl nicht ablehnen.« Ich sah Julian fragend an. »Julian, woher wußte die Magierin denn, daß meine Mutter gerade geboren war? Wie kann sie einfach so ein Kind von seiner Mutter wegholen? Warum müssen Zauberer überhaupt Kinder von anderen Leuten ...«

»Halt, halt – immer eins nach dem anderen«, unterbrach er mich. »Das sind jetzt schon mehr als genug Fragen für einen Nachmittag. Paß auf, ich beantworte dir einige davon, dann gebe ich dir ein anderes Buch, und du beschäftigst dich wieder alleine, abgemacht?«

Ich nickte begeistert. Es gab kaum ein spannenderes Thema als die Zauberer und ihre sonderbaren Gebräuche. Nachdem ich mich bequem zurechtgesetzt hatte, trank ich noch einen ordentlichen Schluck von dem inzwischen etwas abgekühlten Tee und seufzte vor Behagen. Julian legte seine Hände ineinander und blickte ernst darauf nieder, wie er es immer tat, um sich zu sammeln. Dann blickte er in mein erwartungsvolles Gesicht.

»Du weißt also, daß wir Zauberer Kinder zu uns nehmen.« Ich nickte ungeduldig. »Es ist so, daß Magier nicht dazu neigen, sich mit anderen ihrer Art zusammenzutun. Wir sind nicht allzu gesellig. Deshalb werden in der Stadt auch nur überaus selten Kinder geboren.« Er pausierte, um einen Schluck Tee zu trinken. Dann fuhr er fort: »Außerdem sind nicht alle Kinder, die Magiern geboren werden, ebenfalls magisch begabt. Wir wissen nicht, welche Ursprünge diese Fähigkeiten haben. Aber wir können sie über große Entfernung hinweg ausmachen: sogar schon, bevor ein Kind mit der Begabung überhaupt geboren ist.«

Er sah mich seltsam an und schien über etwas nachzudenken. »Wir müssen also, um nicht immer weniger zu werden, Kinder mit magischen Talenten adoptieren«, fuhr er fort. »Als eigene Kinder annehmen«, erklärte er, als er meine fragende Miene sah. »Wer Zauberer werden soll, muß so früh wie möglich mit dem Lernen anfangen.« Er hielt inne, schien mit sich zu kämpfen. »Kannst du dich an deine Geburt erinnern?«

»Ja, natürlich«, gab ich fast empört zur Antwort. Er nickte, als hätte ich etwas bestätigt, was er vermutet hatte.

»Alle Zauberer können es, sie müssen es können. Genau, wie wir auch alle über ein vollkommenes Gedächtnis verfügen. Was steht in deinem Buch auf der dreiundzwanzigsten Seite, in der vierten Zeile von oben?«

Erstaunt begann ich zu zitieren: »› ... griff der Edle Jasper zu seinem Schwert und schwang es beherzt ...‹ – he, was soll das?«

»Siehst du, du kannst es auch. Das dachte ich mir.« Er grinste boshaft. »Falls kurz vor deiner Geburt ein Magier gestorben wäre, wärst du wahrscheinlich zur Ausbildung geholt worden.« Dieser Gedanke schien ihn sehr zu belustigen, mich hingegen erschreckte er zutiefst.

»Du willst damit sagen, daß ich ein – ein Zauberer hätte sein können?«

»Es wäre möglich gewesen. Jetzt ist es wohl zu spät, darüber nachzudenken ... Würdest du gerne zaubern können?« fragte er lauernd. Ich schwieg, aufs Äußerste verwirrt. Der Gedanke war mir so fremd, als hätte er mich gefragt, ob ich gerne würde fliegen können – und ebenso verlockend. Der Magier drängte mich nicht zu einer Antwort, betrachtete mich nur weiter. Plötzlich wünschte ich mich weit fort von ihm, fort von diesem durchdringenden Blick. Ich sehnte mich nach Nikal und seiner nüchternen, besonnenen Art. Wie hätte er darüber gelacht! Julians kalte grüne Augen nagelten mich in meinen Sitz. Mir schwindelte, in meinen Ohren summte es, und ich begann, trotz der Kälte zu schwitzen.

Julian brach endlich den Bann, er faltete sich aus seinem verschlissenen Sessel und trat zu einem der Bücherstapel auf dem Boden.

»Sag, was möchtest du lesen?« fragte er in freundlichem Plauderton. »Was hältst du von der ›Geschichte von O'Raulikavara‹?« Lächelnd stand er vor mir, ein in dunkles Leder gebundenes Buch in der Hand, groß, mager und freundlich wie immer, das melancholische Gesicht umrahmt von zotteligem schwarzen Haar. Ich schüttelte benommen den Kopf, wie nach einem tiefen Schlaf.

»Ja, danke!« Begeistert griff ich nach dem Buch. Alle Beängstigung war verschwunden, hatte nie existiert. Es war, als wäre ich nur kurz eingenickt und hätte schlecht geträumt.

Von diesem Nachmittag an begann sich Julians Unterricht zu verändern. Er fing an, mich in die Grundlagen der Hexerei einzuweisen. Zuerst fiel mir an den Lektionen nichts weiter auf, er schien nur plötzlich einen unerklärlichen Wert auf rituelle Wiederholungen mir sinnlos erscheinender Formeln und Handbewegungen zu legen. Eigentümlicherweise fragte ich ihn während dieser ganzen Zeit nicht nach deren Sinn oder dem Zweck dieses seltsamen Unterrichts. Es war, als stünde ich unter einem Bann, der mich davon abhielt, seine Anweisungen zu hinterfragen. Dennoch war ich völlig klar bei der Sache und fühlte mich alles andere als willenlos oder behext.

Dann kam der Tag, an dem Julian mich meinen ersten richtigen Zauber lehrte. Wir saßen nach einer Geschichtsstunde noch am Tisch und tranken Tee. Julian drehte gedankenverloren eine grünschimmernde Feder zwischen seinen Fingern. Er war noch schweigsamer als sonst. Ich betrachtete ihn neugierig. Seine kühlen Augen trafen mich, und er lächelte beinahe grimmig. Dann legte er die Feder zwischen uns auf die Tischplatte und stieß sie leicht mit dem Finger an. Ich sah darauf nieder und dann fragend auf den Magier. Er sagte sanft: »Bewege diese Feder, ohne deine Hände zu benutzen.« Ich zog meine Brauen empor und grinste. Nichts leichter als das. Mit einem kräftigen Pusten fegte ich die Feder in die Luft und vom Tisch.

Julian schnaubte, und ich sah das ärgerliche Funkeln in seinen Augen. »Dummer Junge«, schalt er. »Doch nicht so! Was habe ich dir denn in all den Wochen beigebracht?«

Es mag verrückt klingen, aber jetzt erst begriff ich, was er von mir erwartete. Es war, als fiele mir ein Schleier von den Augen, und ich erkannte den Zweck der scheinbar so sinnlosen Lektionen der letzten Wochen.

Julian hob eine seiner schmalen Hände und bewegte sie sacht. Seine dürren Finger malten wirre Muster in die Luft. Ich vermeinte, ein schwaches violettes Glühen zu erkennen, das der Spur seiner Bewegungen folgte und wieder verglomm. Die Feder auf dem Boden zitterte sanft wie in einer unsichtbaren Brise und erhob sich taumelnd. Langsam, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, tanzte sie empor und landete vor mir auf dem Tisch.

Julian ließ seine Hand sinken und sah mich auffordernd an. Ich verstand. Ich schloß für einige Atemzüge meine Augen und beruhigte meine Gedanken. Dann legte ich meine Hände flach auf den Tisch und betrachtete die Feder, prägte mir ihre Form ein, ihre Farbe – schwarz mit einem grünlichen Schimmer – das flaumige Ende, den weißen Kiel. Ich bemühte mich, selbst zu dieser Feder zu werden. Dann hob ich langsam meine linke Hand, deren Finger nicht ganz so ruhig waren, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich leckte mir über die vor Aufregung trockenen Lippen und zeichnete das Muster in die Luft, so, wie Julian es kurz zuvor getan hatte. Mir mangelte es an der Eleganz und der Leichtigkeit, die seine Bewegung ausgezeichnet hatte, und ich erreichte nur, daß die Feder wild auf dem Tisch zu kreiseln begann. Atemlos wie nach einem langen Lauf blickte ich auf und erwartete einen strafenden Blick meines Lehrers, aber Julian saß mit verschränkten Armen da und sah mich beinahe liebevoll an.

»Gut, mein Junge«, sagte er sanft. »Sehr gut. Die Beschwörung war noch nicht ganz vollkommen, deshalb stimmte die Richtung der Bewegung nicht. Sieh her.« Er machte es mir vor, und ich wiederholte die Fingerbewegungen so lange, bis er zufrieden war.

»Versuche es nun noch einmal«, gebot er. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Feder zu. Meine Finger befahlen ihr aufzusteigen, und mein Geist war eine sich wiegende, sanft von den Luftströmungen getragene Feder. Sie erbebte, schwankte auf die Spitze empor und hob sich dann zitternd einen halben Meter über die Tischplatte. Keuchend stieß ich den unwillkürlich angehaltenen Atem aus. Die Feder taumelte zu Boden.

»Ach«, sagte ich enttäuscht. Julian lachte. Er erhob sich und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Genug für heute, Elloran. Du sollst dich nicht überanstrengen.« Ich wollte protestieren, aber dann merkte ich mit einem Mal, wie erschöpft ich war. Julian drückte kurz meine Schulter und ließ sie los.

»Sei vorsichtig, wenn du versuchst, etwas mit deinem Geist zu bewegen«, sagte er ernst. »Du hast gesehen, wie schwer es ist, etwas so Leichtes wie eine Feder zu heben, wenn man es noch nicht beherrscht. Übe an leichten Gegenständen, hörst du? Du könntest dir sonst schaden.« Er schnipste nachlässig mit den Fingern, woraufhin sich die Tür öffnete, und schob mich hinaus. Müde und erschöpft wie nach einer langen Krankheit schleppte ich mich die Treppe hinunter.

Nach dieser ersten Lektion, die mir so schwer gefallen war, ging es jedoch zunehmend leichter. Julian war ein guter Lehrer. Manchmal wirkte er beinahe ausgelassen und gab mir sogar eine Kostprobe seiner meisterhaften Fähigkeiten, etwas, womit er sonst sehr zurückhaltend war.

An einem trüben Herbstnachmittag führte er mir einen Zauber vor, der mein Herz aufgeregt schlagen ließ. Julian hockte sich mit angezogenen Beinen in seinen Lehnsessel und preßte die Arme seltsam verrenkt eng an seinen Körper. Er senkte den Kopf auf die Brust. Seine bleichen Finger verbogen sich auf eine Art, die eigentlich unmöglich war. Er murmelte einige fremde Worte, deren summender Klang auf schreckliche Weise falsch und schmerzhaft in meinen Ohren schrillte. Magramanir, die schlafend auf meiner Schulter gehockt hatte, erwachte und trippelte aufgeregt hin und her. Sie krächzte laut und schlug mit den Flügeln.

Ein Krächzen aus Julians Kehle antwortete ihr. Seine hagere Gestalt verschwamm und schrumpfte atemberaubend schnell zusammen. Eine weiße Brust schimmerte, und schwarze Flügel breiteten sich weit aus. Glänzende Knopfaugen musterten mich spöttisch. Ein schwarzer Schnabel öffnete sich zu einem weiteren lauten Krächzen. Magramanir flog auf und gesellte sich zu ihm. Als sie so nebeneinander saßen, konnte ich nicht mehr sagen, wer von den beiden Julian, und wer der echte Rabe war.

»Dafür wirst du noch ein paar Jahre üben müssen«, sagte der eine Vogel mit Julians Stimme. »Die Unterrichtsstunde ist vorbei.«

Er schwang sich in die Luft und flog durch das Fenster, das sich wie von selbst geöffnet hatte. Magramanir zwinkerte mir zu und folgte ihm. Atemlos lehnte ich mich weit aus dem Fenster und sah den beiden Raben nach, wie sie in gleitendem Flug über den Fluß hinwegschossen und in der dunstigen Ferne verschwanden.

Der Hohe Winter ging durch die Zeit der Dunklen Tage: kalt und finster wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Die anfangs so stumpfsinnige Paukerei von Zauberformeln bekam eine völlig andere Gestalt. Ich begann, größere Zusammenhänge zu erkennen, die wohl schon immer bestanden hatten, die ich aber jetzt erstmalig durchschaute.

Julian beobachtete meine Fortschritte ebenso gespannt wie ich selbst. Ich verbrachte mehr und mehr Zeit in seiner Studierstube, zu einigen Gelegenheiten übernachtete ich sogar dort. Ich fragte ihn nie, warum er mich in den geheimen Künsten unterwies. Soviel ich wußte, war es Zauberern streng verboten, ihr Wissen an gewöhnliche Sterbliche weiterzugeben. Genaugenommen sollte es sogar überhaupt nicht möglich sein. (Aber warum war es dann verboten?)

Seit einigen Tagen mühte ich mich mit einem eher simplen Zauber ab, der sich einfach nicht meistern lassen wollte. Magramanir hockte auf meiner Schulter, wie sie es inzwischen immer häufiger tat, und sah mir aufmerksam bei meinen Bemühungen zu. Ich stellte die verhaßte Kerze vor mich hin und blickte auf den schwarzen Docht, den ich zum Brennen bringen wollte. Mehr als ein schwaches Glühen war mir bisher nicht beschieden gewesen, aber ich ging gelassener als je zuvor an die Sache heran, da ich ohnehin wußte, es würde nicht gelingen.

Fast beiläufig führte ich die verschlungenen Hand- und Fingerbewegungen aus, die ich so lange geübt hatte, und intonierte lässig den kurzen Zauberspruch, der mir dieses Mal auch nur beinahe und nicht vollständig die Zunge verrenkte. In meinen Ohren klingelte es, und mein Blick verschwamm. Als ich wieder klar sehen konnte, brannte die Kerze ruhig vor sich hin, als hätte sie das schon seit Anbeginn der Zeit getan. Keine großartigen Erscheinungen, kein Knall, kein Blitz, keine Fanfare: sie brannte einfach.

Ich muß in meinem freudigen Schrecken wohl aufgeschrien haben, denn Julian ließ beinahe das Buch fallen, mit dem er sich gerade beschäftigte. Er beugte sich über die Kerze und betrachtete sie sehr gründlich – wohl, um auszuschließen, daß ich ihm wieder einmal einen meiner Streiche spielte –, dann sah er zu mir hinüber und belohnte mich mit seinem seltenen Lächeln.

»Gut gemacht«, sagte er trocken. »Dann sollten wir jetzt wohl lernen, wie man die Flamme wieder löscht.« Meine nächste Lektion nahm ihren Anfang.

Die freie Zeit, die mein Unterricht mir ließ, verbrachte ich mit Nikal. An einem der ersten heißen Tage im Jungsommer vertrat er wieder einmal Torkal im Waffenhof. Ich hatte diesmal eine selbst für meine bescheidenen Ansprüche besonders schlechte Figur bei den Übungskämpfen gemacht und mir von den anderen einiges an spöttischen Bemerkungen gefallen lassen müssen. Niedergeschlagen trödelte ich am Brunnen herum und wusch mir mit dem eisigen Wasser Schweiß und Staub von der Haut.

Nikal war im Waffenschuppen verschwunden und kam mit einem Stoffbündel wieder zum Vorschein. »Komm mit«, sagte er knapp. Ich folgte ihm ängstlich zum Flußufer hinunter. Was hatte er vor? War er böse auf mich, weil ich so miserabel gekämpft hatte?

Am Fluß angekommen, schlug er das Tuch auseinander und zeigte mir seinen Inhalt: einen kleinen Jagdbogen und Pfeile. Nikal grinste mich an und drückte mir den Bogen in die Hand.

»Laß sehen, wie du damit klarkommst«, sagte er fröhlich und gab mir meine erste Lektion im Bogenschießen.

Die Sonne stand schon merklich tiefer, als wir aufhörten. Ich entspannte den Bogen, wie er es mir gezeigt hatte, und blies müde und zufrieden auf die Blasen, die sich trotz des schützenden Handschuhs an meinen Fingern bildeten.

»Komm, Kleiner, gehen wir doch noch eine Runde schwimmen, da wir schon mal hier sind«, schlug Nikal vor.

Das Wasser war kühl und brannte auf meinen wunden Fingern. Nach dem Bad lagen wir in der noch immer heißen Sonne des späten Nachmittags und ließen uns trocknen. Nikal lag auf dem Rücken im Gras, die Augen geschlossen und kaute auf einer Rispe Flußhafer. Ich hatte mich auf den Bauch gedreht und beobachtete zwei metallischblaue Käfer dabei, wie sie um einen Brocken Aas kämpften. Mein feuchter Rücken trocknete schnell in der heißen Sonne, und langsam wurde mir wieder warm. Der Kampf der Käfer entschied sich schließlich, und der Sieger eilte davon, die Trophäe in den Zangen. Ich schlug nach einer Stechfliege, die sich auf mir niederlassen wollte, und drehte mich faul auf den Rücken, damit auch meine Vorderseite trocknen konnte. Der Himmel über mir war fast weiß und blendete so stark in der Sonnenglut, daß ich die Augen abschirmen mußte. Der Fluß gluckste leise, und Hummeln summten träge durch die hitzeflirrende Luft.

Nikal war fest eingeschlafen. Sein Haar, von der Sonne hellgebleicht, hing ihm wirr und feucht ins Gesicht. Die Rispe war ihm aus dem Mund gefallen und lag auf seiner Brust. Ich sah ihn an und fühlte plötzlich eine heftige Zuneigung in mir aufschießen. Diese ungewohnt rührselige Empfindung verwirrte mich außerordentlich, und ich schüttelte sie schnell ab. Ich nahm den Halm auf und kitzelte Nikal damit sacht an der Nase. Er nieste und wachte auf.

»Lausebengel«, sagte er vergnügt, als er erkannte, was ihn geweckt hatte. Er stand auf und reckte sich, daß seine Gelenke knackten. »Ich weiß ja nicht, wie es mit dir steht, Kleiner, aber ich habe Hunger.« Ich sah ihm zu, wie er sich in seine Hose zwängte und faßte mir ein Herz.

»Nikal, darf ich dich was fragen?« Er brummte zustimmend. »Was ist ein T'svera?«

Er riß die Augen auf. »Warum fragst du das?«

»Die anderen Jungen nennen mich so.«

Nikal räusperte sich unbehaglich, meine Frage schien ihn peinlich zu berühren. »Weißt du, Ell, das solltest du eigentlich lieber deine Mutter fragen.«

»Das habe ich ja, aber sie wurde böse und hat mich ins Bett geschickt. Und Malima hat mich ausgeschimpft.«

Er seufzte und setzte sich wieder ins Gras. »Also gut.« Er kratzte sich am Kopf. »Eine Sache solltest du mir vorher erklären. Was hat es für einen Grund, daß du immer deine Wäsche anbehältst, wenn wir schwimmen gehen?«

Ich wurde rot. »Mutter hat es mir befohlen.«

Nikal kaute nachdenklich auf seiner Lippe. »Du hast die anderen Jungs gesehen und mich. Sehen wir – irgendwie anders aus als du? Ich meine – hm – zum Beispiel zwischen den Beinen?« Ich bekam heiße Ohren, sie mußten feuerrot angelaufen sein. Nikal wirkte auch nicht besonders glücklich. Ich bereute es bereits, dieses Gespräch überhaupt angefangen zu haben.

»Jjjja, schon«, gab ich zögernd zu.

»Würdest du deine Wäsche vielleicht einmal – also, du mußt nicht, aber dann könnte ich dir vielleicht sagen, ob ...« Ich hatte ihn noch nie so außer Fassung erlebt. Mit zitternden Fingern streifte ich mein Unterzeug ab. Dann stand ich da, die Zähne zusammengebissen und erwartete mein Urteil. Nikal musterte mich in meiner gänsehautüberzogenen Nacktheit und stutzte. Seine Miene wurde sehr finster.

»Zieh dich wieder an, Elloran.« Seine Stimme klang sanft, ganz im Gegensatz zu seinem Gesicht. Er sah so wütend aus wie damals, als er den Soldaten Cal zurechtgewiesen hatte.

»Was – was ist?« Ich war den Tränen nahe. »Bin ich ein T'svera?«

»Nein«, preßte er hervor, anscheinend kaum in der Lage, seine Wut zu bezähmen. Ich wußte nicht, was ich getan hatte, ihn so zu reizen. Er merkte, daß ich kurz davor war, in Tränen auszubrechen und nahm mich in den Arm.

»Paß jetzt gut auf, Kleiner. Du darfst niemandem, niemandem, hörst du? etwas davon erzählen. Das hier ist nie geschehen. Und vergiß das mit dem T'svera. Das ist ganz dummes Zeug.«

»Aber was ist denn nun ein T'svera?« Ich war erschrocken wegen seines ernsten Tones und ein bißchen böse, weil einfach niemand meine Fragen beantwortete. Er bemerkte es. Sein Griff um meine Schultern wurde fester, dann ließ er mich los.

»T'svera ist ein Mensch, wenn er ...«, Nikal rieb sich das Gesicht und stöhnte. »Wie erkläre ich dir das bloß? Du weißt, es gibt Männer und Frauen auf der Welt. Um Kinder zu bekommen – nein, anders.« Bei jeder anderen Gelegenheit hätte mich seine Verlegenheit amüsiert, aber jetzt litt ich mit ihm.

»Deine Mutter stammt aus L'xhan«, setzte er nach einem Augenblick der Sammlung neu an. »Dort sind T'svera durchaus geachtete und angesehene Leute.« Er verstummte wieder und wischte sich gepeinigt den Schweiß von der Stirn. Ich gab keinen Laut von mir, sah ihn nur verständnislos, aber aufmerksam an. Er fuhr fort: »T'svera sind weder Männer noch Frauen. Sie sind – irgend etwas dazwischen. Etwas von beidem. Nicht fähig, sich fortzupflanzen.« Er stockte wieder und setzte dann in eindringlichem Ton hinzu: »Du bist keiner von ihnen! Du bist ... kein T'svera.« Er hatte eigentlich irgend etwas anderes sagen wollen. Seine Augen irrten von mir fort. Hastig sagte er: »Aber, Kleiner, deine Mutter hat recht. Laß dein Unterzeug an, wenn du mit jemand anderem als mir schwimmen gehst. Es ist wirklich besser so.«

Mein Kopf schwirrte. Etwas im Klang seiner Stimme verriet ihn: er belog mich – oder sagte mir zumindest nicht die ganze Wahrheit.

In verstimmtem Schweigen gingen wir zur Burg zurück. Als wir durch das Burgtor schritten, holte Nikal tief Luft, wie vor einer schwierigen Entscheidung. Über seinem Gesicht hing noch immer eine Gewitterwolke, während wir gemeinsam die Treppe zum Eingang des Palas erklommen. Ich warf ihm aus dem Augenwinkel einen ängstlichen Blick zu, die Mißstimmung zwischen uns bedrückte mich.

Wortlos folgte er mir zu den Gemächern meiner Mutter. Ich bewohnte seit kurzer Zeit eine eigene Kammer und dachte, er wolle mit mir dorthin – warum auch immer. Aber er überraschte mich damit, daß er vor Ellemirs Tür stehen blieb und anklopfte. Malima öffnete und sah ihn fragend an. Ohne ein Wort schob er sie wie einen Vorhang beiseite und trat ein. Empört aufschreiend fuhr sie herum und folgte ihm.

»Was fällt dir ein, du grober Klotz? Du kannst doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts hier hereinmarschieren ...«

Ihr Keifen verklang im Inneren des Gemachs, während die Tür hinter ihr offenblieb. Von unerträglicher Neugier getrieben, schlich ich hinter ihnen her. Aus dem hinteren Gemach erklangen aufgebrachte Stimmen.

Meine Mutter und Nikal standen sich gegenüber und funkelten sich wütend an. Malima war nirgends zu sehen, Ellemir mußte sie nach nebenan geschickt haben. Die Auseinandersetzung wurde in einem gedämpften Ton geführt, wenn auch erstaunlich heftig. Mich überraschte die außerordentliche Kühnheit, die Nikal besitzen mußte, in einem derart groben Ton mit der Gemahlin seines Dienstherrn zu sprechen. Bemüht, den einen oder anderen Satzfetzen aufzuschnappen, spitzte ich die Ohren.

»Ist dir eigentlich klar, was du dem Kind da antust? Warum sagst du ihm nicht endlich die Wahrheit?« Dieser Satz war deutlich zu verstehen, weil Nikal ihn aus voller Brust mit seiner trainierten Kommandostimme brüllte.

Ellemirs Erwiderung darauf ertönte auch nicht viel leiser: »Würdest du freundlicherweise deine Stimme dämpfen? Es muß ja nicht die ganze Burg mithören!«

Nikal gehorchte zähneknirschend, und dann konnte ich nur noch einige Brocken von ihrem heftigen Streit auffangen.

» ... wird ständig von den Jungen gehänselt ...«, hörte ich Nikal sagen. Seine Stimme klang heiser vor unterdrücktem Grimm. Einige Minuten lang hörte ich nur ein aufgebrachtes Zischeln und Murmeln, bis Nikal erneut die Beherrschung verlor.

»Was wird erst sein, wenn er einmal erwachsen ist?« herrschte er meine Mutter an.

Ellemir fauchte wie eine gereizte Katze. »Elloran wird Herr auf Salvok sein, wie sein Vater!«

» ... jemals ein gewöhnliches Leben führen?« Nikals wieder gedämpfte Stimme verklang zu einem aufgebrachten Murmeln, ehe er wieder heftiger wurde: » ... ahnt doch nicht einmal, was mit ihm los ist ...«

Ellemirs Erwiderung war zu leise, als daß ich sie hätte verstehen können. Ich zitterte inzwischen am ganzen Leib vor Aufregung. Was für ein Geheimnis verbargen die beiden vor mir? Wußte denn außer mir jedermann in der Burg darüber Bescheid?

Nikals aufgebrachte Stimme riß mich aus meinen fiebrigen Überlegungen: » ... vertraust einem Zauberer? Gerade du?« Er fluchte unbeherrscht, und Ellemir schluchzte.

Die Stimmen drinnen verklangen und machten einer gespannten Stille Platz. Ich linste vorsichtig durch den Türspalt.

Der Anblick, der sich mir bot, durchfuhr mich wie ein scharfes Messer, und beinahe hätte ich mich durch einen Ausruf verraten: Meine Mutter und Nikal standen mitten im Zimmer, eng umschlungen, und küßten sich voller Leidenschaft. Mir wurde heiß und kalt, und ich hatte nur noch einen Gedanken: nichts wie raus, weg von diesem Anblick!

In meiner Kammer warf ich mich heftig weinend auf mein Bett. Ich dachte, mein Herz müßte zerspringen, so sehr fühlte ich mich verraten und verlassen von jenen Menschen, die ich liebte und denen ich immer blind vertraut hatte.