2
Von diesem Tag an ging ich Nikal aus dem Weg. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihm in die Augen zu sehen, ohne ihm meine Wut über seine Verlogenheit und seinen Verrat ins Gesicht zu schreien. Also mied ich lieber seine Gesellschaft, eine leichte Übung, da er ohnehin kaum noch dazu kam, mich zu unterrichten.
Ich vergrub mich in meine Studien bei Julian, der sich über meinen plötzlichen Eifer zu freuen schien, wenn er ihm auch sichtlich etwas unheimlich war. Ein oder zwei Male versuchte er behutsam, aus mir herauszuholen, was mich bedrückte. Als er aber merkte, wie sehr es mir widerstrebte, darüber zu sprechen, ließ er davon ab und beschränkte unsere Unterhaltungen auf allgemeinere Themen. Ich war ihm für seine Feinfühligkeit dankbar, obwohl ein mitleidiges Ohr mir sicher gutgetan hätte. Außerdem war Julian jetzt seltener auf Burg Salvok – und irgendwo im Land unterwegs. Er sprach nicht über seine Reisen, aber er erlaubte mir, auch während seiner Abwesenheit sein Turmzimmer und seine Bücher zu benutzen.
Wenn ich nicht in Julians Turm hockte, war ich bei Jemaina. Die kleine, stämmige Heilerin war mir eine echte Freundin geworden. Sie schien völlig alterslos, aber ich wußte, daß sie nicht mehr jung sein konnte, sie lebte schon jahrelang auf Salvok. Dieser Umstand hatte aber wenig Einfluß auf ihren weichen olyssischen Akzent gehabt.
Jemaina nahm es wortlos hin, daß ich ihr in ihrem Kräutergarten zur Hand ging oder zusah, wenn sie ihre Arzneien bereitete. Ihre lackschwarzen Augen blickten mich zwar hin und wieder fragend an, aber sie beließ es bei diesen Blicken. Sie sprach überhaupt nicht viel. Auch ihr dunkelhäutiges, von dicken schwarzen Zöpfen gerahmtes Gesicht zeigte für gewöhnlich wenig Regung.
Ihre Gehilfin war von gänzlich anderem Wesen. Nicht äußerlich, da glichen sich beide wie Mutter und Tochter. Jenka war etwa so alt wie ich und genauso klein wie Jemaina, aber wo diese stämmig war, war Jenka zäh, dünn und unansehnlich. Sie hatte ein schmales, finsteres Gesicht und ein äußerst reizbares und streitsüchtiges Gemüt. Wir haßten uns inbrünstig – von der ersten Sekunde an.
Ich liebte es, in Jemainas buntem Garten zu hocken, den würzigen Duft der üppig wuchernden Kräuter einzuatmen und beim Unkrautjäten vor mich hinzuträumen. Der Beruf des Heilers schien mir jetzt manchmal ebenso erstrebenswert wie mein alter Wunsch, ein Ritter zu werden. Bei dieser Laufbahn standen mir wenigstens nicht meine eigenen Schwertkünste im Weg.
Jenka dagegen schien die Ausbildung bei Jemaina zu verabscheuen. Sie drückte sich vor ihren Aufgaben, wo sie nur konnte. Oft fand ich sie statt dessen an die Umzäunung des Waffenhofes gelehnt, wo sie mit sehnsüchtigen Blicken die Übungen der Jungen beobachtete. Das kam mir spaßig vor, weshalb sollte sich ein Mädchen für Waffenübungen interessieren?
Ich zog sie einmal damit auf und werde nie vergessen, mit welcher Wut sie sich auf mich stürzte. Sie trat und biß und schlug mit einer so unglaublichen Wildheit auf mich ein, daß ich mich ihrer kaum zu erwehren vermochte. Außerdem – ich konnte doch unmöglich ein Mädchen schlagen!
Ausgerechnet Nikal rettete mich aus meiner Bedrängnis. Er packte Jenka mit geübtem Griff im Nacken und zog sie von mir fort. Sie fauchte und trat nach ihm, ihr mageres dunkles Gesicht schien wutverzerrt, aber er schüttelte sie nur ein wenig wie einen ungezogenen jungen Hund, da wurde sie friedlich. Mit zusammengezogenen Brauen sah er sie und mich an.
»Was sollte das denn darstellen?« Er funkelte mich an. »Wie kannst du dich mit einem Mädchen prügeln, schämst du dich denn nicht?«
Jenka spuckte verächtlich aus, als sie das hörte, wagte aber nicht, etwas zu sagen. Ich befühlte vorsichtig mein langsam zuschwellendes Auge und leckte das Blut von meiner aufgeplatzten Lippe. Alles in allem sah meine Gegnerin insgesamt sehr viel weniger ramponiert aus als ich.
Nikal verkniff sich ein Lachen und bemühte sich weiter um eine böse Miene. »Wer von euch hat damit angefangen? Na, wird's bald?«
»Ich war schuld«, murmelte ich ritterlich. Im Grunde entsprach das ja sogar der Wahrheit, immerhin hatte ich Jenka gefoppt und hätte wissen müssen, wie sie darauf reagieren würde. Nikal ließ Jenka los und beugte sich zu mir hinunter.
»Du weißt, daß ich dich dafür bestrafen muß.« Ich nickte ergeben. Prügeleien auf dem Burggelände wurden gewöhnlich hart bestraft, unter Umständen sogar mit der Peitsche.
»Also ab mit euch. Elloran, du gehst zu Jemaina und läßt dich verarzten. Danach meldest du dich sofort bei mir in der Wachstube.« Ich nickte wieder. Das war genau die Begegnung, die ich unter allen Umständen hatte vermeiden wollen, aber ich konnte mich diesem Befehl schlecht widersetzen. Stumm trabte ich neben Jenka her zu Jemainas überwucherter Kate inmitten des Kräutergartens. Jenka hatte noch kein Wort gesagt. Ihr Gesicht war so finster und wütend wie eh und je. Vor der Tür der Kate hielt sie mich mit ihrer mageren, schmutzigen Hand am Arm fest. Ich fuhr herum, darauf gefaßt, mich wieder gegen sie zur Wehr setzen zu müssen, aber sie hob nur abwehrend beide Hände.
»Danke«, sagte sie mürrisch.
»Wofür?« fragte ich genauso kurzangebunden.
»Daß du mich nicht verpetzt hast.« Sie rümpfte verächtlich die Nase. »Der Kommandant mag es nicht, wenn ich mich am Waffenhof rumtreibe. Er hat mich schon ein paar Mal dort weggejagt.«
Ich war überrascht. So eine lange Rede hatte ich von ihr noch nie zu hören bekommen.
»Ist schon gut«, sagte ich großzügig.
»Du wirst jetzt sicher bestraft.«
»Ich werde es überleben. Ist nicht das erste Mal.«
»Jedenfalls, danke. Wenn ich mal was für dich tun kann ...« Wir schüttelten uns feierlich die Hände. Irgendwie war sie ja doch ganz in Ordnung – für ein Mädchen.
Die Heilerin entließ mich, nachdem sie mir kopfschüttelnd eine übelriechende grüne Paste ins Gesicht geschmiert hatte. Ich trödelte noch ein wenig zwischen den Beeten herum und zupfte halbherzig hier und da ein paar Grashalme aus. Schließlich sah ich dem Unausweichlichen ins Auge: Ich konnte die Unterredung mit Nikal nicht weiter hinauszögern. So oder so: Ich mußte mich dem unangenehmen Gespräch endlich stellen.
Nikal wartete schon auf mich. Eine Weile blickte er mich nur schweigend an. Sein Ausdruck war schwer zu deuten, bekümmert und gleichzeitig fragend oder bittend – es fiel mir schwer, meine steinerne Miene zu bewahren. Aber sein Verrat lastete noch zu sehr auf meinem Herzen. Ich konnte ihm nicht so einfach vergeben.
Er deutete auf einen Schemel. »Warum habt ihr euch eigentlich geprügelt, Jenka und du? War es was Ernstes?« fragte er nüchtern.
Ich war ihm dankbar für seinen nüchternen Tonfall und bemühte mich deshalb ebenfalls darum. Ich versicherte ihm, jede Unstimmigkeit zwischen Jenka und mir sei nunmehr völlig aus der Welt geschafft, und der Anlaß sei eher nichtig gewesen. Alles in bester Ordnung, und er möge jetzt bitte meine Strafe bestimmen und mich gehen lassen.
Nikals Gesicht wurde traurig. Er stand auf und ging ans Fenster. Dort stand er eine Zeitlang, die Hände auf dem Rücken, und starrte hinaus. Ich rutschte in Erwartung einer ordentlichen Standpauke unruhig auf dem Schemel hin und her.
»Was ist los?« fragte er, ohne sich umzudrehen. »Was habe ich dir getan?« Er wartete, und ich beobachtete das nervöse Spiel seiner Finger. Nach einer endlos erscheinenden Zeitspanne drehte er sich um und sah mich an. Er seufzte und hob mit einer hilflosen Geste beide Hände.
»Willst du mir noch nicht mal die Gelegenheit geben, mich bei dir zu entschuldigen, wenn ich dir weh getan habe? Elloran, bitte. Sag mir, was los ist.«
Ich kniff die Lippen zusammen. Nikal kniete vor mir, so daß sein Gesicht mit meinem auf einer Höhe war. Dann nahm er mich bei den Schultern und sah mir in die Augen. Ich spürte Tränen in meine Augen schießen und biß die Zähne so stark aufeinander, daß meine Kiefer schmerzten.
»Bitte, Elloran«, wiederholte er drängend. Ich schüttelte trotzig den Kopf, mehr, um die Tränen zu vertreiben, als um ihn abzuwehren, aber er verstand mich falsch. Seine Hände fielen von meinen Schultern, und er stand schwerfällig auf. Mit einem Mal sah er müde und alt aus. Ich hatte ihn immer wie einen älteren Bruder angesehen, aber nun begriff ich mit schmerzlicher Klarheit, daß Nikal sogar um einige Jahre älter sein mußte als mein eigener Vater. Unwillkürlich griff ich nach seiner Hand. Ich sah die Hoffnung in seinen Augen und konnte ihn nicht mehr enttäuschen.
»Es – es tut mir leid«, murmelte ich. »Ich habe mich ziemlich kindisch verhalten, glaube ich.« Nikal nahm mich wortlos und erleichtert in den Arm. Ich barg mein Gesicht an seiner Schulter und kam mir sehr dumm vor. Vielleicht war die ganze Sache ja nur ein riesengroßes Mißverständnis, und ich hätte ihn oder meine Mutter nur fragen müssen, um eine einfache Erklärung für alles zu bekommen. Ich wußte, daß ich mich selbst belog, aber ich schluckte nur und erwiderte unbeholfen Nikals Umarmung.
»Möchtest du es mir sagen?« fragte er leise in mein Ohr. Ich schüttelte stumm den Kopf.
»Ist es denn jetzt wieder gut?« Ich nickte, genauso stumm. Ein tiefer Atemzug durchströmte seinen Leib. »Bei allem, was passiert ist und vielleicht noch passieren mag, vergiß bitte eines nie: Ich liebe dich und will dir auf keinen Fall weh tun. Bitte, Kleiner, glaub mir das!«
Die vertraute Anrede und sein drängender, liebevoller Tonfall machten mich lächeln. Für den Augenblick waren die Tränen vergessen. Er schob mich ein Stück fort und sah mich forschend an. »Freunde?«
»Freunde«, antwortete ich erleichtert und glücklich.
Er nickte, und sein zerfurchtes Gesicht glättete sich wieder. »Auf die Gefahr hin, daß ich unsere Freundschaft damit gleich wieder gefährde ...«, er unterbrach sich und setzte eine dienstliche Miene auf, » ... ich muß dir noch eine Strafe für die ungehörige Prügelei auf dem Hof aufbrummen. Du wirst Torkal helfen, den Waffenschuppen zu streichen.« Er grinste über mein wenig begeistertes Gesicht. »Melde dich sofort bei ihm. Ab jetzt!«
Ich war schon halb zur Tür hinaus, als er mich noch einmal anrief: »Kleiner?«
Ich drehte mich fragend um. Geblendet von der Helligkeit außerhalb der düsteren Wachstube konnte ich sein Gesicht nicht mehr deutlich erkennen, aber ich hörte das Lächeln in seiner Stimme: »Keine Schlägereien mehr mit irgendwelchen Mädchen, klar?«
»Klar!« gab ich inbrünstig zurück und machte mich auf den Weg, meine Strafe anzutreten. Um die Ecke der Wachstube biegend, stolperte ich über Jenka, die dort im Staub hockte und mit Steinchen nach den Tauben warf. Sie sah mich und sprang auf die Füße.
»War es schlimm? Hat er dich verprügelt?« Behende trabte sie auf ihren bloßen, schmutzigen Füßen neben mir her. Ich schüttelte ein wenig verlegen den Kopf. Es war mir nicht sehr angenehm, mit ihr zusammen gesehen zu werden, denn das wäre ein Anlaß mehr für die anderen Jungen, mich zu verspotten. Vor allem meinem Hauptquälgeist, dem dicken Bernak, wäre es sicher ein Fest, mich mit einem Mädchen im Hof zu erwischen.
Jenka blieb stur wie ein Esel an meiner Seite, ohne sich von meiner Maulfaulheit abschrecken zu lassen. »Erzähl schon. Was hat er gesagt?«
Ich stöhnte und blieb stehen. Wenn ich sie loswerden wollte, würde ich wohl ihre Neugier befriedigen müssen. »Ich muß den Schuppen streichen.«
Sie überraschte mich damit, daß sie aufstrahlte, was ihr sonst so mürrisches Gesicht völlig verwandelte. Sie klatschte in die Hände, daß es nur so über den Hof schallte. »O bitte, laß uns Torkal sagen, daß der Kommandant uns beide dazu verdonnert hat, jo?«
Ich starrte sie mit offenem Mund an. Sie knurrte ungeduldig und zerrte mich am Ellbogen weiter. »Komm schon, warum sollst du den ganzen Spaß alleine haben?« Ich lachte und ließ mich mitziehen. Torkal rümpfte zwar ein wenig die Nase, als er Jenka sah, stapfte aber wortlos hinüber zum Schuppen und drückte uns beiden Pinsel und einen Topf Farbe in die Hände.
Wir arbeiteten eine Weile schweigend. Ich bemerkte, daß Jenka mich immer wieder verstohlen von der Seite ansah.
»Darf ich dich was fragen?« hörte ich sie endlich sagen. »Du gehst nie mit den anderen Burgjungs ins Dorf runter, oder? Ich hab dich da jedenfalls noch nie gesehen.«
Ich zuckte die Achseln, und ein dicker Klecks Farbe fiel von meinem Pinsel auf meinen Kittel. Hartnäckig fuhr sie fort: »Die anderen kannte ich alle schon, bevor ich hier zu meiner Tante auf die Burg gekommen bin. Eine gräßliche Bande, alle miteinander.« Ich blickte sie an und mußte lachen. Irgendwie hatte Jenka es geschafft, ihre spitze Nase mit einem ordentlichen Streifen Weiß zu verzieren. Sie grinste und wischte sich übers Gesicht, was die ganze Bescherung nur noch schlimmer machte.
»Du scheinst ja soweit ganz in Ordnung zu sein«, meinte sie. »Trotzdem, warum ziehst du nie mit den Burschen herum? Ist es, weil du ...«
Sie verstummte und malte verbissen an einer Ecke des Schuppens herum, die ich gerade erst geweißt hatte. Sie merkte, daß ich die Arbeit unterbrochen hatte und sie ansah. Mit so viel Nachdruck, daß es spritzte, beförderte sie ihren Pinsel in den Farbtopf und wischte die Hände an ihrem geflickten Rock ab.
»Was wolltest du mich fragen?« hakte ich nach.
Sie zog die Nase hoch und sah wieder finster drein. »Näh, ist schon gut.«
Ich ließ nicht locker, obwohl ich zu wissen glaubte, welche Frage sie vorhin so schnell verschluckt hatte.
»Also gut«, gab sie schließlich nach, »aber du mußt mir versprechen, daß du nicht sauer wirst. Es wird erzählt, daß du JuCan bist.« Ich sah sie fragend an. Dieses Wort hatte ich noch nie gehört. »JuCan. Frau-Mann in der Sprache von Olyss.« Sie schielte vorsichtig zu mir herüber, unsicher, ob ich mein Versprechen noch hielte. Als ich mich nicht rührte, fuhr sie fort: »Meine Mutter sagt, daß JuCan Glück für ihren ganzen Clan bedeuten. In Olyss wird eine JuCan-Geburt vom Dorf eine Woche lang gefeiert.« Sie sah mich erwartungsvoll an.
Ich dachte nach. Wie sollte ich ihre Frage beantworten? Nikal hatte mir gesagt, ich sei kein T'svera. Meine Mutter weigerte sich, die Frage überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Nikal hatte mich angelogen. Meine Mutter belog mich auch. Die Jungen und die Soldaten der Burg hielten mich für einen T'svera. Ich selbst wußte nur, daß mir einige anscheinend äußerst wichtige körperliche Merkmale fehlten, die einen Jungen ausmachten.
»Ja«, sagte ich endlich laut. »Ja, ich bin ein T'svera!« Erleichterung durchströmte mich. Endlich hatte ich meine bedrückende Andersartigkeit benannt und konnte damit aufhören, mich auch noch selbst zu belügen. Ich war die Enttäuschung meines Vaters, der einen Sohn und Erben gewollt hatte, ich würde niemals zu den Männern gehören, ich mußte meinen eigenen Weg durch das Leben finden: Doch es gab andere Orte auf dieser Welt, Orte, wo Menschen wie ich anerkannt und vielleicht sogar geachtet wurden. Selbst hier auf Burg Salvok gab es Menschen, die mich liebten, so wie ich war. Ich mußte vor Freude und Erleichterung lachen. Mir war, als hätte sich ein tonnenschweres Gewicht von meiner Brust gelöst, ich hätte die ganze Welt umarmen können. Statt dessen umarmte ich Jenka, die mich mit offenem Mund beobachtete. Aber schließlich konnte sie nicht anders, als mit mir mitzulachen, auch wenn sie nicht recht wußte, worüber eigentlich.
»Sag mal«, fragte sie nach einer Weile stummen Pinselns, »meinst du, ich könnte bei eurem Waffentraining mitmachen?«
Ich verschluckte mich und mußte eine Weile husten, um meine Kehle freizubekommen. Jenkas spitzes Gesicht bezog sich mit unheilverkündenden Wolken. Ich beeilte mich, ihr zu versichern, daß ich nicht über sie gelacht hatte.
»Aber, hör mal«, sagte ich vorsichtig, »glaubst du, das ist das Richtige für ein Mädchen?«
Wortlose Laute höchster Empörung ausstoßend, fuchtelte sie aufgebracht mit ihrem Pinsel vor meiner Nase herum. Ich brachte vorsichtshalber den Farbtopf in Sicherheit.
»Das ist doch wieder mal typisch! Und ich dachte, du hättest mehr Grips als die anderen Strohköpfe hier!« Sie zielte mit dem Pinsel auf mich und funkelte mich an. Ich traute mich nicht zu lachen, sie hätte mir sicher sofort das Gesicht getüncht.
»Wo bitte steht geschrieben, daß Frauen nicht kämpfen können? Darf ich dich an Calliandra von L'xhan erinnern, die mit ihren Kriegerinnen die Heere von S'aavara besiegte? Und ...« Sie mußte Luft holen, und ich nutzte die günstige Gelegenheit, um einzulenken.
»Ist ja gut, Jenka. Ich gebe zu, ich habe gesprochen, ohne nachzudenken. Aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, daß Torkal einwilligen wird, ein Mädchen zu unterrichten.« Jenkas Gesicht verfinsterte sich schon wieder bedrohlich. Hastig fuhr ich fort: »Mir kommt eine viel bessere Idee: Ich bin zwar keine Leuchte im Schwertkampf, aber um dir die Grundlagen beizubringen, müßte es eigentlich reichen. Was hältst du davon?«
Jenkas Antwort bestand darin, daß sie mir um den Hals fiel und mich abküßte. Ich war gleichzeitig verlegen und geschmeichelt. Ihr schmaler, sehniger Körper drängte sich fest und warm an mich, und mich durchzuckte ein fremdes, erregendes Hitzegefühl. Fast war ich enttäuscht, als sie sich wieder von mir löste und mich aus blitzenden schwarzen Augen anstrahlte. Ihre kurzen schwarzen Locken tanzten förmlich um ihren Kopf. Ich verstand nicht, wie ich sie jemals für unansehnlich hatte halten können.
»Wann fangen wir an?« fragte sie atemlos.
»Meinetwegen, sobald wir hiermit fertig sind.« Ich hatte kaum ausgeredet, da hielt sie schon ihren Pinsel in der Hand und fiel mit Feuereifer über den Schuppen her. Ich stöhnte. Was hatte ich mir da bloß eingebrockt!
In der folgenden Zeit ergötzte ich mich an der neuen und aufregenden Erfahrung, die die Gesellschaft einer gleichaltrigen Gefährtin für mich darstellte. Bisher hatte ich in dem festen Glauben gelebt, daß ich mir aus dem Umgang mit Altersgenossen nichts machte. Ich hatte schließlich Freunde wie Nikal, Jemaina und Julian. Jetzt stellte ich mit einem Male fest, wie sehr ich das Zusammensein mit Jenka genoß. Wir stromerten durch Dorf Salvok und ließen uns von ihrer Mutter Leckereien zustecken, dann ritten wir auf struppigen Olysser-Ponies hinaus in die Felder und schmausten dort im Schatten einer hochragenden Kolverbuche. An Tagen, an denen es selbst für solche Unternehmungen zu heiß war, hockten wir uns in das Geäst der alten Weide, die sich tief über das Flußufer beugte, ließen unsere Füße in das kühle Wasser baumeln und lasen uns gegenseitig aus einem von Julians Büchern vor. Zu meinem Erstaunen konnte Jenka ebensogut lesen und schreiben wie ich, was bei einem einfachen Dorfmädchen durchaus keine Selbstverständlichkeit war.
Natürlich hielt ich mein Versprechen, mit Jenka den Schwertkampf zu üben. Wir trainierten heimlich, und Jenka hatte schon bald alles gelernt, was ich konnte, mit dem Unterschied, daß sie ihr Schwert sehr viel besser beherrschte als ich. Es dauerte nicht lange, und sie besiegte mich bei so gut wie jedem unserer Übungskämpfe.
In vielem waren Jenka und ich uns ähnlich: So, wie ich nie mitgemacht hatte, wenn die Burgjungen ins Dorf hinunterzogen, um eine weitere Schlacht in dem generationenalten Krieg zwischen Dorf- und Burgknaben zu schlagen, so hatte auch Jenka den Umgang mit den anderen Mädchen von Salvok gemieden. Sie sagte, sie seien ihr zu dumm und zu kindisch, aber ich hörte den Hauch von Sehnsucht in ihrer Stimme. Jenka war ›anders‹, so wie ich. Wo mein Stand als Sohn des Burgherrn und meine körperliche Andersartigkeit mich von den anderen trennte, taten dies bei Jenka ihre fremde Herkunft und ihre Hautfarbe. Die Leute aus Olyss waren in unserer Gegend nicht allzu angesehen: ›hergelaufenes Lumpenpack‹ war noch eine der harmloseren Bezeichnungen. Mehr aber trug Jenkas hitziges Temperament und ihre Weigerung, sich wie ein Mädchen zu benehmen, dazu bei, daß die anderen Kinder sie mieden.
Bald bekam ich am eigenen Leib zu spüren, was es bedeutete, sich mit einem Mädchen herumzutreiben. Ich kam hungrig und müde von einem unserer Ausflüge zurück in die Burg. Vor den Stallungen lungerte der dicke Bernak mit seinem Gefolge herum. Sein feistes Gesicht glänzte vor hämischer Freude, als er mir in den Weg trat. Die anderen kreisten mich ein und knufften sich in Erwartung eines spannenden Schauspiels in die Seiten. Bernak baute sich vor mir auf und grinste sein boshaftestes Grinsen.
»Na, wen haben wir denn da?« Er sah beifallsheischend in die Runde, gespieltes Erstaunen im Gesicht. »Das ist doch wohl nicht etwa das hübsche Töchterchen unseres gnädigen Herrn?« Die Umstehenden johlten und klatschten. Bernak stieß mir seinen fetten Zeigefinger in den Bauch. »Wo hast du denn deine Freundin gelassen, das olyssische Lumpenmädchen? Die Kleine ist tausendmal mehr ein Junge, als du es jemals sein wirst, du Zimperliese!«
Die Bande grölte begeistert, und ich biß die Zähne zusammen. Ich hatte keine Chance gegen die streitlustige Horde und – obwohl es mir schwerfiel, das zuzugeben – ich hatte Angst. Bernak mochte ein dummer, aufgeblasener Kerl sein, aber er hatte seine Stellung als Anführer nicht zuletzt seinen schlagkräftigen Fäusten und der gefürchteten Wucht seiner Fußtritte zu verdanken. Ich war inzwischen zwar fast so groß wie er, aber bei weitem nicht so kräftig. Also schluckte ich seine Beleidigungen lieber hinunter. Für feige hielten die Burschen mich ohnehin, und ich verspürte nicht den Ehrgeiz, das zu ändern.
Bernak grunzte enttäuscht, da ich mich nicht reizen ließ und ging dazu über, mich zu umtänzeln und unter einem Strom von Schmähungen zu knuffen und zu schubsen. Seine Gefolgschaft begleitete das Schauspiel mit anfeuernden Zurufen, Lachen, Klatschen und einem Chor von höhnenden Gesängen.
»He, T'svera! Denkst du etwa, dein geliebter Hauptmann Nikal kommt und rettet dich?« höhnte Bernak feixend. »Der hat kein Interesse an kleinen Mädchen, der steht auf richtige Männer!«
Plötzlich sah ich die Welt wie durch einen roten Nebel. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte ich mich auf meinen Peiniger. Bernak taumelte völlig überrumpelt zurück und fiel fast auf den Rücken. Schon hatte ich ihm die Nase blutig geschlagen und wollte gerade damit anfangen, ihm den häßlichen Kopf von seinem feisten Nacken zu schrauben, als die anderen sich aus ihrer Erstarrung lösten. Mit markerschütterndem Geschrei warfen sie sich auf mich und ließen einen Hagel von Schlägen auf mich niederprasseln.
Die Geschichte wäre sicher übel für mich ausgegangen, hätte nicht der kahle Kerim diesen Augenblick gewählt, um nachzusehen, was der Tumult vor seiner Schmiede zu bedeuten hatte. Er räumte mit seinen baumstammdicken Armen die Jungen ab, die auf mir lagen, als wären sie nur ein Haufen schmutziger Wäsche, und verteilte dann einige gutgezielte Ohrfeigen und Fußtritte. Die Aussicht auf mehr davon vertrieb die Burschen so schnell, als hätte ein Sturmwind sie davongeblasen. Ich hörte noch den dicken Bernak laut und schrill Rache schwören, dann stand ich alleine da, den hünenhaften Schmied vor mir, der mich grimmig ansah.
So kam ich zum zweiten Mal in diesem Sommer zu einer Strafpredigt wegen Herumprügelns auf dem Burghof und zu einer weiteren Schicht grüner, übelriechender Salbe auf meinem lädierten Gesicht. Und alles nur wegen eines mageren, olyssischen Mädchens! Ich will zwar nicht behaupten, daß ich das alles mit Freuden für Jenka ertragen hätte, aber ihre Freundschaft ließ mich diese Widrigkeiten zumindest schnell wieder vergessen.
Nikal und ich bemühten uns indessen, unser altes, vertrautes Verhältnis wiederherzustellen. Ich versuchte, das Geschehene zu vergessen. Nikal war mein ältester Freund auf Burg Salvok, und wenn ich mir manchmal in einem sehnsüchtigen Augenblick ausmalte, wie ich mir meinen Vater wünschte, dann war es in meiner Vorstellung immer Nikal, der vor mir stand und mich so liebevoll anblickte, wie mein richtiger Vater es nie tat.
Wir trafen uns nicht mehr so häufig wie früher. Hin und wieder aßen wir zusammen in der Halle, oder Nikal holte mich von Julians Unterricht ab, um gemeinsam mit mir einen Ausritt zu unternehmen.
Nikal erschien mir neuerdings seltsam abwesend. Es war fast, als trüge er Sorgen mit sich herum, die er mit niemandem teilen konnte oder wollte. Immer öfter geschah es, daß er mich gereizt anfuhr, wenn ich mich beim Bogenschießen nicht ganz so geschickt anstellte, wie er es erwartete, oder eine seiner Anweisungen nicht schnell genug ausführte. Das war etwas, was ich von ihm nicht gewöhnt war, Nikal war immer ein geduldiger, freundlicher Lehrer gewesen. Irgend etwas schien ihn zu bedrücken und mir zu entfremden.
Ich wagte einmal, ihn darauf anzusprechen, aber er sah mich nur mit abweisender Miene an und gab vor, nicht zu verstehen, wovon ich sprach. Die Kälte in seinem Blick und seiner Stimme erschreckte mich so, daß ich nie wieder darauf zurückkam.
An einem Nachmittag gegen Ende des Sommers hatten Nikal und ich uns verabredet. Wir wollten zum Fluß, um zu angeln und mit dem Bogen zu schießen. Ich saß auf der Brunneneinfassung, blinzelte in das schon herbstlich verschleierte Sonnenlicht und wartete darauf, daß Nikal seinen Dienst beendete.
Endlich trat mein Freund aus der Wachstube. Er bewegte sich zögernd und schien wieder einmal tief in Gedanken versunken zu sein.
»Nik«, rief ich und winkte, als er vor der Tür stehenblieb und sich mit seltsam verlorener Miene auf dem Hof umsah. »Hier bin ich, ich habe auf dich gewartet!« Ich sprang vom Brunnenrand und lief auf ihn zu. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah mir entgegen. Seine hellen Augen waren eigenartig verschattet, und er blickte geradewegs durch mich hindurch.
Ich sah ihn jetzt aus der Nähe und erschrak. Sein Gesicht war schweißbedeckt und unter der gebräunten Haut seltsam fahl. Er hatte die Zähne krampfhaft zusammengebissen. In seinen Augen stand ein Ausdruck, den ich noch niemals zuvor an ihm gesehen hatte: panische Angst.
»Nik, was ist?« fragte ich und griff nach seiner Hand. Er entspannte widerwillig die geballte Faust und blinzelte. Sein fremder Blick richtete sich auf mich, und er runzelte die Stirn.
»Wo ...«, begann er heiser und räusperte sich. »Wo sind die anderen?« Ich sah ihn verständnislos an.
»Welche anderen, Nik? Wir wollten doch angeln gehen, unten am Fluß.«
Er sah sich wie ein gehetztes Tier um. Die Schweißperlen auf seiner Stirn schimmerten im Licht der Sonne. Er blinzelte den Schweiß fort, der ihm in die Augen lief, und umklammerte meine Schulter so hart, daß ich mich zusammenreißen mußte, um nicht aufzuschreien. »Was tue ich hier?« fragte er schroff. Sein angespanntes Gesicht zeigte eine Mischung aus Verwirrung und Zorn. Wieder sah er sich um, hastig, angstvoll, als witterte er einen Verfolger. »Antworte!« Er schüttelte mich grob. »Wo sind meine Leute?«
Ich stöhnte unter dem brutalen Griff seiner kräftigen Hände. »Bitte, Nik«, flehte ich, ängstlich geworden wegen seines eigentümlichen Betragens. »Bitte, laß mich los. Ich weiß nicht, wen du suchst. Deine Männer sind auf der Wache oder in ihren Quartieren. Nik, du tust mir weh!« Ich schrie fast, denn er schien meine Schulter zermalmen zu wollen.
Seine Finger lockerten sich, und ich stöhnte dankbar und rieb mir die schmerzende Stelle. Nikals Augen bohrten sich in meine, kalt, fremd und fern wie die Sterne. »Und wer bist du?« fragte er heiser.
Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, ihn zur Kate der Heilerin zu bringen. Ich redete auf ihn ein, als ginge es um sein Leben und lotste ihn dabei über den Hof. Er ging mit tastenden, unsicheren Schritten, und ich mußte mehrmals nach seinem Arm greifen, um den Taumelnden vor einem Sturz zu bewahren. Die wenigen Worte, die er noch von sich gab, waren beinahe unverständlich geworden, er lallte wie ein Betrunkener. Sein Blick wirkte gleichzeitig gehetzt und trübe. Ich befürchtete ernstlich, daß er jeden Augenblick bewußtlos zusammenbrechen würde.
Jemaina sah uns durch ihren Garten stolpern. Ich stützte den schwankenden, schweren Mann mit meiner ganzen Kraft, die kaum ausreichte, ihn zu halten. Jemaina sprang auf und griff mit sicherem, geübtem Griff zu, um mich zu entlasten. So klein sie auch war, sie schien mir kräftig wie ein Mann.
Wir brachten den nahezu besinnungslosen Nikal in ihre Kate und legten ihn vorsichtig auf das Bett. Während ich berichtete, was geschehen war, untersuchte Jemaina Nikal vorsichtig. Unter seinen halbgeschlossenen Lidern war nur noch das Weiße zu sehen. Sein Atem ging schwer und röchelnd, und seine schlaffe Hand, nach der ich trostsuchend gegriffen hatte, lag kalt und etwas feucht unter meinen bebenden Fingern.
»Was hat er?« fragte ich ängstlich, aber Jemaina schüttelte nur abwehrend den Kopf. Ihre dunklen Finger hoben vorsichtig eines von Nikals Lidern an.
»Schmerz«, sagte er plötzlich mit dumpfer, schleppender Stimme. Er hatte sich nicht bewegt, und ich fuhr erschreckt zusammen. Jemaina legte ihre Hand vorsichtig auf seine Stirn und fragte: »Wo hast du Schmerzen, Kommandant?«
Er blinzelte schwach, und seine Brust hob sich mit einem langen, mühsamen Atemzug. »Kopf«, lallte er und tastete unsicher über sein Gesicht. Seine Finger fuhren über Stirn und Schläfe, dann fiel seine Hand kraftlos auf seine Brust herab. Seine Augen verdrehten sich, und er wurde bewußtlos.
Jenka trat mit einem fröhlichen Gruß ein. Ihre Tante blickte auf. »Geht bitte beide hinaus«, sagte sie scharf. »Ich kann euch jetzt nicht brauchen.«
Jenka nahm schweigend meine Hand und zog mich aus dem Haus. Draußen legte sie ihren Arm um meine Schulter und drückte mich kurz und ungeschickt an sich.
»Was ist passiert?« fragte sie leise. »Hatte er einen Unfall?« Ich schluckte mühsam und schüttelte den Kopf. Ihre Nähe und ihr Mitgefühl gaben mir Trost, aber mit meinem Herzen war ich bei Nikal.
Wir gingen schweigend durch den Kräutergarten. Ich lauschte in der Hoffnung zur Kate hinüber, daß Jemaina nach mir riefe. Jenka griff fest nach meinem Arm und zog mich auf die kleine Bank unter dem Holunderbusch.
»He«, sagte sie beinahe grob. »Tante Jemaina kümmert sich um ihn. Jetzt sag schon, was geschehen ist.« Ich erzählte ihr stockend von Nikals seltsamem Verhalten. Sie starrte mich mit riesengroß aufgerissenen Augen an.
»Jo«, sagte sie schließlich erschüttert. »Das klingt gespenstisch. Vielleicht hat er sich den Kopf angeschlagen, bei einer Übung oder so.« Ich nickte unglücklich. Wahrscheinlich war es das, aber warum beruhigte mich die Erklärung nicht?
Spät in der Abenddämmerung kam Jemaina endlich heraus und winkte uns zu sich. Sie sah müde und unzufrieden aus. »Geh nach Hause«, sagte sie dennoch sehr sanft. »Er schläft jetzt, und ich glaube, es wird ihm morgen schon besser gehen. Mach dir keine Sorgen, Elloran.«
Ich biß mir auf die Lippe. Ihr Gesicht sagte etwas anderes. »Was ist mit ihm, Jemaina?« beharrte ich. »Hat er sich am Kopf verletzt?«
Sie zögerte. »Nein, ich glaube nicht«, sagte sie schließlich widerstrebend. »Ich kann nichts finden. Aber er ist jetzt ruhig, und ich habe ihm etwas gegen die Schmerzen gegeben. Bitte, Elloran. Geh nach Hause, du kannst jetzt nichts für ihn tun.« Ich nickte traurig und wandte mich zum Gehen. Jenka tuschelte kurz mit ihrer Tante und lief dann hinter mir her.
»Ich komme mit dir«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ich mußte trotz meines schweren Herzens lachen.
»Wohin willst du mitkommen?« neckte ich sie. »In mein Zimmer etwa? Liebste Freundin, du hast wohl vergessen, daß ich ein T'svera bin. Mach dir also keine falschen Hoffnungen.«
Sie schoß mir einen aufgebrachten Blick aus ihren schwarzen Augen zu, der mich beinahe zu Asche verbrannt hätte. Dann grinste sie und stieß mir ihren spitzen Ellbogen in die Seite.
»Blödmann«, sagte sie freundschaftlich. »Du verdienst mich gar nicht, weißt du das?«
Ich hätte es niemals zugegeben, aber es tat mir wirklich gut, daß Jenka in dieser Nacht bei mir blieb. Wir schlichen uns wie Diebe in meine Kammer – nicht auszudenken, was Mutter oder meine alte Amme gesagt hätten, hätten sie das Mädchen bei mir entdeckt! – und kuschelten uns in mein schmales Bett. Wir flüsterten miteinander, bis Jenka mitten im Satz einschlief. Ich lag noch lange wach und betrachtete im hellen Licht des Mondes ihr dunkles, im Schlaf rührend wehrlos und zart aussehendes Gesicht. Da war nichts mehr von der Härte und der stets zu einem Kampf bereiten Abwehr zu sehen, die sie im wachen Zustand immer zeigte. Ich streichelte sacht über ihre dunkle Wange und ließ endlich auch meine Augen zufallen.
Jemaina behielt recht: Nikal war schon am nächsten Tag wieder auf den Beinen und erinnerte sich an nichts mehr. Er konnte uns nicht sagen, was seinen Anfall ausgelöst hatte, und es schien ihn auch nicht sonderlich zu kümmern. Es kam mir vor, als wäre es ihm lästig und unangenehm, überhaupt darüber zu sprechen. Ich ertappte mich dabei, daß ich in seinem Gesicht und seinem Verhalten nach Anzeichen eines neuen Anfalls suchte. Ich fühlte mich oft unbehaglich in seiner Gegenwart und konnte mir nicht erklären, weshalb. Manchmal war es mir sogar, als ginge ein vollkommen Fremder an meiner Seite, der nur zufällig so aussah wie mein alter Freund Nikal.