12
Das Treffen mit dem Gesandten von Rhûn und Rhan wurde so aufregend, wie der Kammerherr es vorhergesagt hatte. Der Edle Gioanî entpuppte sich als klein und hochmütig, aufbrausend und äußerst anstrengend.
Ich suchte Karas sofort auf, nachdem Leonie mich entlassen hatte. Mir schwirrte zwar der Kopf, aber ich stellte alles hintan, bis ich mehr Muße dafür haben würde, über das nachzudenken, was an diesem Morgen geschehen war, und konzentrierte mich jetzt lieber auf meine Arbeit.
Ich fand den Kammerherrn in seinem vollgestopften Arbeitszimmer in der Nähe der Schreibstube, zwischen dem Archiv und der Bibliothek. Karas saß in Hemdsärmeln an einem von Papieren überquellenden Schreibtisch zwischen Bergen von Akten und Folianten und rieb sich verzweifelt über das Gesicht, als ich eintrat.
»Ah, gut, daß du kommst, Elloran.« Er sah mich besorgt an. »Fühlst du dich auch wohl?« Ich nickte. »Ich brauche deine Hilfe. Ich arbeite mich hier gerade durch die Aufzeichnungen Evans, aber mir fehlen noch Unterlagen über die Handelsabkommen mit den Inseln und da vor allem die Zusicherungen, die die Großfürstin bezüglich des Schutzes unserer Handelsschiffe vor S'aavaranischen Piraten gemacht hat. Wärest du so liebenswürdig, mir die entsprechenden Akten herauszusuchen? Du findest sie wahrscheinlich in dem Stapel, der dort in der Waschschüssel liegt.«
Er vertiefte sich erneut in seine Papiere. Ich hockte mich neben der Waschschüssel auf den Boden und sichtete den Aktenstapel. Die gesuchten Unterlagen fanden sich dann schließlich in einem unordentlichen Haufen neben dem Kamin zwischen Bergen von Protokollen etlicher Kronratssitzungen, die sich ausschließlich mit der Aufzucht von Frischlingen und der Einführung von Schonzeiten für das anscheinend von Ausrottung bedrohte Schwarzwild im Kronforst beschäftigten.
»Das war ein eminent bedeutsamer Gegenstand«, dozierte Karas und drehte die gesuchten Papiere zu einer akkuraten Rolle zusammen. »Das Schwarzwild hat mir den Kronrat für zwei Neunwochen vom Leib gehalten und seine Mitglieder während der gesamten Zeit wirksam daran gehindert, ihre Nasen in wichtige Angelegenheiten der Krone zu stecken.« Er zwinkerte mir zu. »Aber ich frage mich, was das Zeug hier in meinem Arbeitszimmer zu suchen ...« Er schlug sich vor die Stirn. »Natürlich! Es lag neben dem Kamin, richtig?« Ich nickte. »Genau. Mir waren im Herbst die Zunder ausgegangen, und ich hatte keine Lust, deswegen einen Diener zu rufen. Gut, daß ich noch nicht alles verbrannt habe, das Handelsabkommen mit den Inseln hätte mir jetzt sehr gefehlt.«
Er stand auf und quälte sich in seine Jacke. Dann zog er eine Schublade seines Schreibtisches auf und holte ein einfaches Holzkästchen hervor, dessen funkelnder Inhalt bei näherer Betrachtung aus einem nicht unbeträchtlichen Teil des Kronschatzes zu bestehen schien. Karas kippte die kostbaren Geschmeide nachlässig auf die unordentlichen Papierhaufen, die seinen Schreibtisch bedeckten, wobei das eine oder andere Juwel unbeachtet zu Boden kollerte, und suchte eine Handvoll Ringe mit riesigen geschliffenen Steinen heraus, eine goldene Nadel mit einem walnußgroßen Cabochon-Rubin und ein kleines Samtfutteral. Den blitzenden und schimmernden Rest der Juwelen fegte er achtlos zurück in das Kästchen, das er wieder im Schreibtisch verstaute. Dann griff er zu einer breiten, tressenbesetzten Ordensschärpe, die an seiner Stuhllehne hing, zog sie über seinen Kopf und ordnete sie über die Schulter. Er glättete mit den Fingern die goldenen Fransen der Schärpe, schüttelte die herabhängenden Quasten aus und zückte ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch, um damit die großen, mit Diamantsplittern besetzten goldenen Ordenssterne blankzupolieren, die an der Schärpe befestigt waren. Dann blickte er versonnen auf das Tuch, zuckte mit den Achseln und steckte es wieder ein. Er befestigte die Nadel mit dem riesigen Rubin an seinem Jabot, steckte alle herausgesuchten Ringe an seine Finger, bis er sie vor lauter Metall und Edelsteinen kaum noch bewegen konnte, und griff dann nach dem Futteral, dem er ein kleines, goldgerahmtes Glas mit einem daran befestigten dünnen Goldkettchen entnahm. Das fädelte er durch ein Knopfloch am Aufschlag seines Rockes. Zu guter Letzt schleuderte er die ausgetretenen Schuhe von den Füßen und stieg ächzend in ein Paar schmaler, mit funkelnden Schnallen versehener Lackschuhe mit elegant geschwungenen, hohen Absätzen.
Er stemmte sich schwerfällig auf die Füße, verzog schmerzlich das Gesicht und hinkte zur Tür. Dort drehte er sich zu mir um, griff nach dem Kettchen mit dem kleinen runden Glas, hauchte es an, rieb es über seinen Ärmel, klemmte es sich in das linke Auge und musterte mich mit geradezu beleidigender Herablassung. Wie er da stand in seiner ganzen blitzenden, funkelnden, überladenen Pracht, umgab ihn eine Aura von unnahbarem, eisigem Hochmut. Mich überkam plötzlich eine überaus heftige, aber rätselhafte Abneigung gegen diesen pompösen kleinen Mann.
Der Kammerherr zückte ein frisches, parfümiertes Spitzentüchlein, wedelte damit affektiert vor seiner Nase herum und bemerkte mit hoher, blasierter Stimme: »Ich sage Euch, mein Allerwertester: diese Schuhe bringen mich schneller um als ein S'aavaranischer Attentäter das fertigbrächte.« Er ließ das Glas aus seinem Auge fallen und blinzelte mich verschmitzt an. Ich schüttelte mich, als hätte er mir Eiswasser ins Gesicht geschüttet, und lachte. Ehe ich mich versah, hatte er mich in eine feste Umarmung gezogen. »Junge«, stammelte er. »Junge, du – du kannst ja lachen!«
Das verschlug mir den Atem. Er hatte recht, ich hatte gerade seit Wochen zum ersten Mal wieder meine eigene Stimme gehört. Mir kamen die Tränen. Karas räusperte sich gerührt, tätschelte meine Schulter und murmelte verlegen: »Nu, nu. Bitte, beruhige dich, mein Kind. Komm, Elloran, putz dir die Nase. Der Botschafter wartet doch auf uns.« Ich riß mich zusammen und griff dankbar nach dem angebotenen Tüchlein. Karas blickte mich besorgt an. »Möchtest du lieber auf dein Zimmer gehen? Ich kann Meister Rowald bitten, mir einen anderen Schreiber mitzugeben.« Ich putzte mir die Nase und schüttelte heftig den Kopf. Er sah erleichtert aus.
»Ah, das hätte ich fast vergessen«, murmelte er, als wir an der Schreibstube vorbeikamen. Er trat hinein und dort an Meister Rowalds Pult. Ich stand an der Tür und beobachtete unauffällig die anderen Schreiber. Ihr Mienenspiel beim Anblick des aufgedonnerten Kammerherrn war ebenso verblüfft wie das meine vorhin gewesen sein mußte. Aber ich bemerkte auch die hämischen Blicke, die mich trafen, und ihr verstohlenes Flüstern. Eine Stimme erhob sich etwas und zischte ›Bettwanze!‹ Die anderen kicherten beifällig. Rowald hob den Kopf und bat mild um Ruhe.
»Wenn ich dich so ansehe, Karas ... Rhûn und Rhan, habe ich recht?« fragte er gedämpft. Karas bejahte. Rowald lachte meckernd und nahm eine kleine flache Dose von seinem Pult, die er dem Kammerherrn in die Hand drückte. Der ließ sie in seiner Rocktasche verschwinden und bedankte sich. »Keine Ursache, keine Ursache. Immer gern zu Diensten«, krächzte der Schreibermeister. »Grüß mir den Edlen Gioanî.« Sein Lachen verfolgte uns bis vor die Tür.
Karas schien jeder Schritt, den er in den vornehmen Schuhen tat, Schmerzen zu bereiten. Wir schritten dementsprechend gemessen über den Hof und boten so den Passanten, die gleich uns fröstelnd von einem Gebäude ins andere wechselten, einen offenbar bemerkenswerten Anblick. Der Kammerherr wurde pausenlos ehrerbietig gegrüßt und grüßte unermüdlich zurück, obwohl seine Aufmerksamkeit deutlich an einem anderen Ort weilte. Endlich waren wir am Fuß der Freitreppe angelangt, und Karas blickte mit fast komischer Verzweiflung an ihr hoch. Ergeben packte er seinen Stock fester und machte sich an den Aufstieg. Ich beeilte mich, seinen Arm zu ergreifen und bemerkte besorgt, wie schwer er sich dieses Mal auf mich stützte. Auf halber Strecke bat er kurzatmig um eine kleine Pause und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen mich. Sein Gesicht war schweißnaß und erschreckend grau. Ich nahm das Taschentuch, das er mir geliehen hatte, und tupfte sein Gesicht behutsam damit ab. Er nickte dankend und schleppte sich weiter. Am Kopf der Treppe ließ er meinen Arm nicht los, sondern stützte sich weiter auf mich, bis wir an unserem Ziel waren.
Ich öffnete die verzierte Tür zu einem der kleineren Konferenzräume und half ihm, sich auf einen der zierlichen Sessel zu setzen. Er legte den Kopf zurück an die Lehne und rang erbarmungswürdig nach Luft. Ich sah mich in dem kalten und dunklen Raum um. Nicht eine der Kerzen brannte in den Haltern an der Wand, und auch der Kamin lag tot und schwarz da. Das war ungünstig, wenn ein Gesandter von den warmen, südlichen Inseln sich hier einigermaßen wohl fühlen sollte. Ich suchte vergebens nach irgend etwas, womit ich das Feuer hätte entzünden können, warf dann einen schnellen Blick auf den anscheinend halb besinnungslosen Kammerherrn und entschied, die einzige magische Handlung zu riskieren, die ich immer noch problemlos ausführen konnte. Ein tiefer, konzentrierter Atemzug, und im Kamin brannte ein anheimelndes Feuer. Eine zweite kleine Anstrengung, und rundum flammten die Kerzen auf. Mit einem zufriedenen Grinsen öffnete ich die Augen und begegnete dem klaren, aufmerksamen Blick des Kammerherrn. Er machte keine Bemerkung zu dem, was geschehen war, also hatte ich vielleicht Glück gehabt, und er hatte meine Vorstellung verpaßt.
»Gut, Junge«, sagte er jetzt, und ich wurde wieder unsicher. »Sehr schön, daß du Feuer gemacht hast. Könntest du jetzt noch die beiden Stühle dort an das Tischchen rücken und die Vorhänge aufziehen? Der Gesandte müßte jeden Augenblick hier sein. Du kannst dich dort drüben hinsetzen, da findest du auch Schreibzeug und Papier. Ach ja, und läute doch bitte, damit man uns einige Erfrischungen bringt.«
Ich tat, was er verlangte, und dann half ich ihm wieder auf die Füße, weil er den Edlen Gioanî nicht im Sitzen empfangen wollte. Ein Diener brachte Wein und süßes Gebäck und hielt dann die Tür auf für den Gesandten der Inseln Rhûn und Rhan, Sonderbotschafter der Großfürstin Lenora, einen der wichtigsten Verbündeten S'aavaras.
Der Kammerherr und der Edle Gioanî waren etwa von gleicher Körpergröße, aber der Botschafter wirkte etliche Jahre jünger und um einige Pfunde leichter als Karas. Sein Aufzug stand dem des Kammerherrn in nichts nach: Ich bekam so die Gelegenheit, einen südländischen Adligen in der legendären Pracht der kostbaren, silber- und golddurchwirkten bunten Stoffe und der riesigen, strahlenden Juwelen seines Landes zu bewundern. Gegen diese augenbetäubende Farbigkeit und Opulenz wirkte der Kammerherr etwa so elegant wie eine aufgeputzte Hafenhure.
Gioanî reichte dem Kammerherrn eine herablassende Hand. Ein ausgesucht höfliches Begrüßungszeremoniell nahm seinen Lauf. Endlich war das Vorspiel beendet, und Karas bot dem Edlen eine Erfrischung an. Beide nahmen Platz und belauerten sich einige Minuten lang.
Dann begann das eigentliche Duell. Ich muß gestehen, daß ich Mund und Nase aufsperrte: Der Edle Gioanî beleidigte Karas auf das Tödlichste und gegen alle Regeln der Höflichkeit. Wenn ich nach der ersten halben Stunde hätte Punkte verteilen müssen, so hätte Gioanî klar und um Längen gesiegt: seine Fähigkeit zu exquisiten Schmähungen schien mir unerreichbar. Karas wehrte nur blaß und zurückhaltend einige der ehrenrührigsten Hiebe ab und enttäuschte mich mit dieser unvermuteten Schwäche zutiefst. Gioanîs goldhäutiges Gesicht mit der kühn gebogenen Nase dagegen zeigte unverhüllt verächtlichen Triumph nach dieser so eindeutig gewonnenen Runde. Beide Männer schöpften Atem und nippten an ihren Gläsern.
Dann lächelte Karas sanftmütig und falsch, betupfte geziert seine Mundwinkel, klemmte das Glas in sein Auge und verfluchte Gioanî und alle seine Vorfahren in sämtlichen Sprachen der erforschten Welt, ohne auch nur einmal die Stimme zu erheben oder Atem zu holen. Der Gesandte wurde abwechselnd blaß und rot, schnappte in höchster Erregung nach Luft, und kurz darauf beschimpften die beiden aufgetakelten Männer sich wie zwei betrunkene Fischweiber. Mir kamen fast die Tränen. Wenn das die Kunst war, mit der Verbündete und Kriege gewonnen wurden, so hatte ich anscheinend die falschen Bücher gelesen. In meinen Ritterromanen verliefen solche diplomatischen Treffen immer völlig anders.
Erneute Atempause. Ich sah, wie Karas unauffällig die geheimnisvolle kleine Dose hervorholte, die Rowald ihm gegeben hatte, und verstohlen etwas daraus in den Mund steckte. Der Edle Gioanî wirkte inzwischen leicht derangiert und nahm mit einem ungeduldigen Handgriff seinen umständlich gewickelten Kopfputz ab.
»Also gut, du verdammter Bastard von einem Schweinehund«, knurrte er und fuhr sich durch die gesträubten schwarzen Haare. »Was verlangt die Krone von den Inseln?« Ich hielt den Atem an. Anscheinend hatte Karas die zweite Runde für sich entschieden. Und richtig: jetzt holte er die alten Verträge und Abkommen hervor und legte sie auf den Tisch.
»Ihre Majestät, die Krone von L'xhan, Herrscherin über beide Raulikars, Norrbrigge und Olyss, Hüterin des Steins von Danann und Beschützerin des Glaubens, wünscht eine Verlängerung des freundschaftlichen Abkommens mit Ihrer Erhabenheit Lenora, der Großfürstin von Rhûn und Rhan, Schutzpatronin der südlichen Meere ...«
Der Edle Gioanî hob eine gepflegte schmale Hand und stöhnte: »Karas, alter Kampfgenosse, ich kapituliere! Wenn du vorhattest, mich mit dem vollständigen Protokoll zu erschlagen, dann ist dir das hiermit gelungen. Klartext, mein dicker Freund! Die Großfürstin ist in einer recht unangenehmen Lage: Die T'jana-Fürsten von S'aavara rüsten zum Krieg gegen die Kronstaaten, und wie du weißt, sind der maior und der minor unsere mächtigsten Verbündeten und gleichzeitig unsere stärksten Gegner auf dem südlichen Meer. Die Inseln haben der Streitmacht der S'aavara nichts entgegenzusetzen. Wir können uns bei einem Konflikt zwischen der Krone und den T'jana auf keinen Fall auf eure Seite schlagen, das wäre unser Untergang.« Er schwieg und trank von seinem Wein. Karas steckte wieder etwas aus dem Döschen in seinen Mund. Gioanî fuhr fort: »Ich habe die Vollmacht, dir unsere weitgehende Neutralität in diesem Krieg anzubieten. Mehr kann ich leider nicht für dich tun, Karas.«
Der Kammerherr rieb sich nachdenklich über den Hals. Dann sagte er freundlich: »Das ist mehr, als ich erwartet hatte, Gioanî. Aber du mußt verstehen, daß die Krone gerne ein Pfand für eure Neutralität ...«
Der Botschafter sprang auf, hochrot im Gesicht. »Das ist eine Beleidigung, die nach Blut schreit!« brüllte er und griff nach dem schmucken Dolch in seiner Schärpe. Ich erhob mich alarmiert, aber Karas schüttelte nur knapp und unauffällig den Kopf.
»Gioanî, hör auf zu schreien und setz dich wieder«, sagte er ruhig. »Wir haben doch schon oft darüber gesprochen, daß es für unsere beiden Völker von Vorteil wäre, sich etwas besser kennenzulernen. Mein Vorschlag ist: Wir schicken eine Anzahl von jüngeren Söhnen und Töchtern unserer höchsten Adligen an den Hof der Großherzogin, und ihr – nun, ich dachte an den jüngsten Sohn Lenoras. Er müßte doch inzwischen zehn oder elf sein, oder?«
Gioanî ließ sich schwer in seinen Sessel fallen und starrte Karas wütend an. »Kommt nicht in Frage«, zischte er. »Der junge Avigdor ist bereits dem minor T'jana versprochen worden!«
»Schade«, sagte Karas friedlich. Warum hatte ich nur das Gefühl, daß diese Auskunft ihn nicht im mindesten überraschte?
»Aber wir könnten der Krone den Neffen der Großfürstin ...« Gioanî unterbrach sich und musterte Karas harmloses Gesicht aus zusammengekniffenen Augen. Dann holte er tief Luft und brach in ein unbändiges Gelächter aus. Karas sah ihn milde erheitert an.
»Du verdammter hinterhältiger Sohn eines Kameltreibers – darauf hast du doch die ganze Zeit hinausgewollt!« brüllte Gioanî entzückt und hieb dem Kammerherrn auf die Schulter. Karas zuckte zusammen und verzog leicht das Gesicht. Dann lächelte er Gioanî erstaunlich echt an und ließ sich von ihm aufhelfen. Er legte dem schlankeren Mann seinen Arm um die Schultern und sagte leise: »Ich halte das für die beste Lösung, alter Freund. Du weißt, daß deinem Sohn hier nichts geschehen wird. Ich werde ihn behandeln, als wäre er mein eigener Junge.«
Gioanî stieß die Luft aus und nickte. »Abgemacht. Ich schicke Cesco zu euch, sobald das Wetter es erlaubt. Ehrlich gesagt, ich bin froh, wenn der Junge sich mal eine Zeitlang woanders austobt. Meinem Haus wird ein bißchen Ruhe sehr gut tun!« Karas und der Edle grinsten sich an. Gioanî wandte sich zur Tür und sagte fast entschuldigend: »Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich nicht zum Essen bleibe, ich werde mich noch heute auf den Rückweg machen. Wenn die Stürme losgehen, möchte ich nicht gerade auf dem Wasser sein.«
»Immer noch seekrank, alter Pirat?« foppte ihn Karas. Ein gequälter Blick war die einzige Antwort. Die beiden Männer umarmten sich herzlich, und Karas öffnete dem Gesandten die Tür.
»Eins noch«, sagte Gioanî und legte Karas eine Hand auf den Arm. »Das hast du nicht von mir gehört, aber – dieser Streit zwischen der Krone und den T'jana wird von irgend jemandem angeheizt. Ich kann dir nicht sagen, wer dahintersteckt, aber es muß einer von euch sein.« Karas sah ihn schweigend an. Gioanî biß sich auf die Lippe und fügte hinzu: »Dieser Gesandte der Allianz – vertraust du ihm eigentlich?« In Karas Gesicht regte sich kein Muskel, aber er drückte kurz den Arm des anderen. Die Tür schloß sich, und wir waren allein.
Karas fiel aufstöhnend in einen Sessel und vergrub das Gesicht in den bebenden Händen. Ich eilte besorgt an seine Seite. Er ließ matt die Hände sinken und murmelte: »Es ist gleich besser, laß mich nur einen Augenblick lang ruhig hier sitzen.« Sein Gesicht war aschfahl. Ich schenkte Wein in ein Glas und hielt es ihm an die blutleeren Lippen. Er trank dankbar einige Schlucke und richtete sich dann auf.
»Das war heute kein günstiger Zeitpunkt für ein Treffen mit Gioanî«, sagte er, verwirrt auf seine schmucküberladenen Hände niederblickend. Er wollte die protzigen Ringe von seinen Fingern ziehen, aber seine Hände zitterten so stark, daß er sie nicht herunterbekam. Ich griff nach seiner Hand und half ihm dabei, und er ließ es wortlos zu, schlaff in den Sessel zurückgesunken. Dann kniete ich neben ihm, die Hände voller Schmuck und sah besorgt in sein graues, eingefallenes Gesicht. Er öffnete die Augen und lächelte mich schwach an.
»Mach nicht so ein Gesicht, mein Sohn. Es geht mir schon wieder besser. Hast du dir Notizen gemacht?« Ich nickte und mußte unwillkürlich grinsen. Das dürfte eines der spannendsten Protokolle werden, das die Schreibstube seit langem zum Kopieren bekam. Karas sah mein Lachen und erwiderte es mit echter Fröhlichkeit.
»Ein bemerkenswerter Mann, der Bruder der Großherzogin, nicht wahr? Ich kenne ihn schon seit Jahren und schätze ihn sehr. Wenn er nur nicht so anstrengend wäre ...« Er verzog das Gesicht und machte Anstalten, sich zu erheben. Ich stopfte hastig die kostbaren Ringe in meine Jackentasche und half ihm auf.
»Nimm deine Sachen mit.« Er humpelte zur Tür. »Bist du hungrig?« Ich nickte, nach den Aufregungen dieses Tages knurrte mein Magen schon wieder heftig. »Wir essen also erst einen kleinen Happen, dann werde ich mich etwas aufs Ohr legen, damit ich für die Sitzung mit dem Kronrat frisch bin.« Karas schnitt eine Grimasse und nahm meinen angebotenen Arm. »Du wirst den Nachmittag nutzen, um meinen Schneider aufzusuchen und das Protokoll anzufertigen. Du kannst dich dafür gerne in mein Arbeitszimmer zurückziehen.«
Wir waren unterdessen in einem Teil des Palas angelangt, den ich noch nicht kannte. Ein höfisch gekleidetes Paar trat auf den Kammerherrn zu, begrüßte ihn herzlich, und die Frau mit dem knochigen Aussehen einer Berg-Raulikanerin erging sich in einem langen Klagelied über das schlecht ausgebildete Dienstpersonal der Kronenburg. Dabei glitten ihre schönen, stark geschminkten Augen abfällig über mich hinweg. Karas hörte sich ihre Tirade mit wahrer Engelsgeduld an, während sein Gewicht immer schwerer auf meinem Arm lastete. Endlich kam sie zu einem Ende, und sie und ihr verlegen dreinschauender Begleiter verabschiedeten sich wortreich. Der Kammerherr schnaubte nur verächtlich, als die beiden um die Ecke bogen und bedeutete mir, unseren Weg fortzusetzen.
Der Speiseraum, den wir betraten, war groß, aber so eingerichtet, daß der Eindruck von Intimität entstand. Mit Teppichen ausgelegt, gedämpft beleuchtet und erfüllt von dem leisen Gemurmel kultivierter Stimmen, unterschied er sich gewaltig von der lauten, betriebsamen Kantine des Dienstpersonals. Karas lotste mich zu einem kleinen Tisch in einer Fensternische. Er sank aufatmend in den weich gepolsterten Stuhl und lächelte erleichtert. Eine Bedienstete trat zu uns und fragte: »Was darf ich Euch bringen, Kammerherr?«
Er klopfte nachdenklich mit dem Fingernagel gegen seine Zähne und fragte mich: »Hast du einen besonderen Wunsch, mein Junge?« Ich verneinte, und er wandte sich an die junge Frau: »Ich hätte gerne etwas Leichtes, Kind, mein Magen ist verstimmt. Vielleicht ein Omelett? Danach gedünsteten Fisch. Und dazu, meine Liebe, kannst du uns eine Karaffe von dem gelben Lorraner bringen.« Die Bedienstete zog sich zurück, und Karas griff wieder einmal nach meiner Hand.
»Gefällt es dir, Elloran? Du kannst ab heute hier deine Mahlzeiten einnehmen, wenn du es nicht vorziehst, dir etwas auf dein Zimmer bringen zu lassen.« Er lächelte. »Aber es würde mich freuen, wenn wir auch manchmal gemeinsam speisen könnten; sofern du es ertragen kannst, einem lästigen alten Mann hin und wieder ein wenig Gesellschaft zu leisten ...«
Ich erwiderte den Druck seiner Finger und lächelte ihn mit echter Zuneigung an. In meinem Hinterkopf hörte ich Leonies warnende Worte, aber ich schob sie unwillig beiseite. Wann war je ein Mensch so gütig zu mir gewesen, seit ich Salvok verlassen hatte – Uliv und seine Frau einmal ausgenommen – und wenn der Kammerherr dabei irgendein eigennütziges Ziel verfolgte, würde ich das schon noch rechtzeitig bemerken und könnte mich immer noch dementsprechend verhalten.
Die Bedienung brachte unser Essen, und Karas ließ meine Hand los. Ich schob mir mit Genuß eine Gabelvoll von dem köstlich lockeren Pilzomelett in den Mund und probierte dann den dunkelgelben, ölig aussehenden Wein. Der entpuppte sich als ein Getränk von geradezu betäubendem Aroma, viel zu schwer für unser leichtes, spätes Mittagessen. Ich warf Karas einen verwunderten Blick zu und mischte mir den Wein mit sehr viel Wasser, um ihn mir genießbar zu machen.
Der Kammerherr saß vor seinem Teller und zerpflückte gedankenverloren sein Essen. Die Frau, die uns bediente, kam und nahm meinen leeren Teller fort. Sie blickte auf das pilzübersäte Schlachtfeld, das Karas aus seinem Omelett gemacht hatte, und fragte besorgt: »War das Gericht nicht nach Eurem Geschmack, domu? Soll ich den Koch kommen lassen?«
Karas schreckte hoch und fragte: »Was?« Die Dienerin wiederholte ihre Worte, und er sagte begütigend: »Nein, nein, mein Kind. Das Omelett war ganz in Ordnung. Ich habe nur keinen rechten Appetit. Serviere uns nun ruhig den Fisch.«
Der Fisch kam und war so sanft gedünstet, daß er bei der leisesten Berührung von den Gräten fiel. Dazu gab es in feine Streifen geschnittenen Lauch und buttrige kleine Kartoffeln, die verlockend dufteten. Karas schob seinen Fisch unentschlossen über den Teller, ließ ihn dann unberührt stehen und sprach statt dessen um so eifriger dem schweren, öligen Wein zu. Sein Gesicht war verschlossen und der sonst so weiche, kleine Mund zu einer harten Linie zusammengepreßt. Ich hatte kaum den letzten Bissen hinuntergebracht, da schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. Ich beeilte mich, an seine Seite zu kommen, und er sah mich entschuldigend an.
»Vergib mir meine Unhöflichkeit«, bat er leise, während wir den Raum verließen. Das blieben seine einzigen Worte, bis ich ihn zu seinem Quartier geleitet hatte. Dort legte er seine Hand auf meinen Arm und sagte: »Du wirst es gewiß noch oft bereuen, dich meinen Launen ausgesetzt zu haben. Aber sei versichert, daß ich dich sehr schätze, Elloran. Jetzt geh an deine Arbeit und denke bitte auch an den Schneider. Wir sehen uns morgen zum Frühstück wieder.« Ich wandte mich zum Gehen, da rief er mich noch einmal zurück. »Du kommst doch an der Schreibstube vorbei. Sei so gut, und gib Meister Rowald das hier mit meinem besten Dank zurück. Richte ihm aus, er habe das Bündnis zwischen den Inseln und der Krone gerettet.« Er drückte mir das geheimnisvolle Döschen in die Hand und schloß die Tür.
Den Rest des Nachmittags verbrachte ich im Arbeitszimmer des Kammerherrn, unterbrochen nur von einer unterhaltsamen Stunde bei Karas' geschwätzigem Schneider, der mich ausmaß wie ein neu auszustattendes Schloß. Meister Rowald, dem ich die kleine Dose übergeben und Karas Worte aufgeschrieben hatte, hatte nur sein meckerndes Lachen ausgestoßen und mir eine der kleinen, grünen Pastillen aus dem Behältnis angeboten.
»Magenpastillen«, sagte er und schob sich eine davon zwischen die gelben Zähne. »Die Inseln und ihr Botschafter schlagen domu Karas immer sehr auf die Verdauungsorgane!« Wieder lachte er meckernd.
Ich saß noch lange, nachdem ich mein Protokoll angefertigt hatte, an Karas' Schreibtisch und las alle Aufzeichnungen, die über das Inselreich von Rhûn und Rhan im Archiv aufzutreiben waren. Karas hatte mir durch die Blume zu verstehen gegeben, daß er es begrüßen würde, wenn ich mich ein wenig in das Tagesgeschäft einarbeitete, und das bedeutete für mich, daß ich einiges an Wissenslücken aufzufüllen hatte. Nur gut, daß mir Bibliothek und Archiv frei zugänglich waren, der Kammerherr hatte mir den Schlüssel für alle diese Räume gegeben.
Als ich die Kerzen löschen und mich zu Bett begeben wollte, fiel mir ein, daß ich noch immer den Schmuck des Kammerherrn mit mir herumtrug. Ich leerte hastig meine Tasche aus und verstaute die Ringe in dem Holzkästchen. Karas bewies erstaunlichen Leichtsinn, diese Kostbarkeiten so offen in seinem unverschlossenen Schreibtisch zu verwahren, dachte ich unbehaglich.
Es war spät geworden, und ich war froh, mich aus meiner Jacke schälen und auf meinem Bett ausstrecken zu können. Jetzt hatte ich endlich Gelegenheit, über die seltsamen Vorkommnisse bei Leonie nachzudenken. Worum mochte es sich bei dem geheimnisvollen Spiel handeln, und was hatte ich damit zu tun? Und was hatte Karas' Ausbruch zu bedeuten? Daß er sich der Krone entledigen wollte? Plante dieser getreue, altgediente Beamte vielleicht einen Staatsstreich?
Es klopfte, und ich schwang die Beine vom Bett. Ich tappte zur Tür und öffnete sie mit fragender Miene. Mikel, der Diener des Kammerherrn, stand vor mir und sagte knapp: »Kammerherr Karas läßt anfragen, ob du auf einen Schlummertrunk bei ihm vorbeikommen möchtest. Es sei dir aber freigestellt, in deinem Quartier zu bleiben, wenn es dir gerade nicht genehm sein sollte.« Seine Miene zeigte nur zu deutlich, was er davon hielt. Wenn ich mich weigerte, würde er mich wahrscheinlich bewußtlos schlagen und am Kragen zu seinem Herrn schleifen.
Ich bedeutete ihm, ich käme unverzüglich, und kleidete mich seufzend wieder an. Wie hatte Karas gesagt? Ich würde es noch bereuen, den Launen eines alten Mannes ausgesetzt zu sein? Anscheinend fing ich gerade damit an.
In Karas' Quartier war es dämmrig, und im Kamin brannte ein riesiges Feuer. Die Fenster waren geschlossen. Es herrschte eine unerträgliche Hitze in dem stickigen kleinen Raum. Der Kammerherr saß in seinem schäbigen Schlafrock im Sessel, das lahme Bein hochgelegt, einige Kissen im Rücken und einen halbgeleerten Becher Rotwein in der Hand. Seinem geröteten Gesicht und dem verschwommenen Blick seiner Augen nach zu urteilen, hatte er sich bereits ein ordentliches Quantum davon zu Gemüte geführt. Ich setzte mich ihm gegenüber und nahm den angebotenen Wein mit einem dankenden Nicken an. Karas schwieg und trank.
»Diese verdammten Narren«, bemerkte er nach einiger Zeit mit schwerer Zunge, dann verstummte er wieder. Ich schloß daraus, daß die Sitzung mit dem Kronrat nicht allzu erfreulich verlaufen sein konnte.
In den nächsten beiden Stunden durfte ich zusehen, wie der verdiente Kammerherr der Krone sich bis zur völligen Besinnungslosigkeit betrank. Schließlich hing er zusammengesunken im Sessel, schnaufend wie ein Walroß und den leeren Becher immer noch in der schlaffen Hand. Ich stand peinlich berührt auf und wandte mich zum Gehen. In der Tür blickte ich noch einmal zurück, und mein Gewissen regte sich. Wenn Karas die Nacht in dieser Haltung verbringen mußte, würde er morgen sicherlich vor Schmerzen schreien. Ich überwand meinen Widerwillen und nahm ihm den Becher aus der Hand. Dann beugte ich mich über ihn, packte ihn unter den Armen und zerrte ihn hinüber in das andere Zimmer, wuchtete ihn aufs Bett und schälte ihn aus seinem Schlafrock. Er bewegte sich schwach und murmelte etwas völlig Unverständliches. Ich zog die weichen Pantoffeln von seinen Füßen und knöpfte die Hose auf. Sie von seinen Beinen herunterzubekommen erwies sich als fast unmöglich, aber schließlich schaffte ich es doch.
Dabei konnte ich zum ersten Mal einen Blick auf das lahme Bein des Kammerherrn werfen und schrak zurück. Ich war gedankenlos davon ausgegangen, er hätte sein Hinken einem Geburtsfehler zuzuschreiben, so wie der lahme Ferran, der älteste Stallknecht auf Salvok. Aber das gräßlich verkrüppelte, von altem Narbengewebe entstellte Bein erzählte eine andere, weit grausamere Geschichte. Mehr noch, die Narben schienen sich über die gesamte linke Körperhälfte bis hinauf zur Brust zu ziehen. Was für ein Unfall hatte bloß solch schwere Verletzungen verursacht? Es schien mir ein Wunder, daß ein Mensch so etwas überlebt haben konnte.
Nachdenklich deckte ich den alten Mann zu und blickte noch einmal in sein schlaffes, fleischiges Gesicht. Er hatte die geröteten Augen einen Spalt weit geöffnet und schien mich anzusehen. Ich legte mit plötzlichem Mitleid eine Hand auf seine Wange und strich flüchtig darüber, ehe ich sie verlegen zurückzog. Er schloß ohne eine Regung die Augen, und ich verließ erleichtert sein Quartier, um endlich zu meinem eigenen Bett zurückzukehren.
Ich muß gestehen, daß ich nicht schlecht überrascht war, den Kammerherrn am anderen Morgen hellwach und erstaunlich guter Laune am Frühstückstisch anzutreffen. Nur die geröteten Augen und die gedunsenen Säcke unter ihnen erinnerten an die vergangene Nacht. Karas begrüßte mich herzlich und erwähnte den Abend mit keiner Silbe. Wir frühstückten beide mit gutem Appetit, und Karas legte mir den Arbeitsplan des heutigen Tages dar.
»Du sollst dich doch wahrscheinlich auch wieder bei Leonie blicken lassen, oder?« Ich nickte, und er seufzte leise. »Gut, dann gehst du jetzt als erstes zu ihr. Du findest mich nachher im Archiv oder in meinem Arbeitszimmer. Und, Elloran«, ich sah ihn aufmerksam an, »trau ihr nicht.«
Das hat sie mir selbst auch schon geraten, dachte ich mißvergnügt. Vertraute hier bei Hofe überhaupt jemand irgendeinem anderen? Ich nickte wieder und machte mich auf den Weg, dieses Mal alleine.
Vor der altersdunklen Tür holte ich tief und aufgeregt Luft und klopfte dann an. »Komm nur herein, Elloran«, rief Leonies sanfte, dunkle Stimme. Ich trat ein, ohne überrascht zu sein, daß sie wußte, wer ihr Besucher war. An diese Art von verblüffenden Tricks hatte mich Julian seinerzeit schon gewöhnt.
Sie stand auf dem Altan vor ihrem Fenster und schien sich mit einer Nebelkrähe zu unterhalten. Endlich neigte sie grüßend den Kopf und trat zu mir ins Zimmer. Die Krähe schwang sich auf und flog in Richtung Süden.
»Sei gegrüßt, Elloran. Hast du schon nach deinem Vogel gesehen?« Sie führte mich zu dem Bauer, in dem die kleine, gesprenkelte Drossel saß. Sie sah mich aus glänzend schwarzen Augen an und öffnete einen Spalt weit den Schnabel. Aber kein Ton drang heraus. Leonie öffnete das Bauer und ließ die Drossel auf ihren Finger hüpfen. Sie strich ihr über den Kopf und forderte mich dann auf, den Vogel zu nehmen. Behutsam und ein wenig ängstlich nahm ich ihn Leonie ab und spürte das zarte Kratzen der Füße auf meinen Fingern.
Leonie wandte sich ab und holte wieder den Spiegel hervor. »Nun wollen wir einmal nachsehen«, sagte sie versonnen. »Irgendwo hier drinnen muß es einen Grund geben, warum deine Stimme sich verloren hat.« Sie neigte ihren schönen Kopf mit der Wolke weißer fedriger Locken über den Spiegel und versenkte ihren Blick hinein.
Ich hockte mich auf die Kante eines Sessels und ließ meine Blicke umherwandern. Dabei streichelte ich das weiche Gefieder des kleinen Vogels und spürte sein Herz schnell und kräftig in meiner Hand schlagen. Neben mir auf einem niedrigen Tisch erblickte ich ein fünfeckiges Spielbrett: silbergrau, von schwarzen, roten und blauen Linien durchzogen, auf denen verschiedene groteske kleine Figuren standen: Ein Wagen mit einem geflügelten Pferd, ein Reiter mit Bündeln von Schlangen anstelle von Armen, eine Figur mit einem Katzenkopf und gegabelten Messern in den winzigen Fäusten, ein Wesen mit nur einem Arm, aber zwei Köpfen auf seinen Schultern. Auf einer kreisrunden goldenen Markierung in der Mitte des Spielbrettes standen zwei weitere Figuren, die ich mir gerne noch näher angesehen hätte. Aber nun atmete Leonie tief ein und sagte befriedigt: »Ah, da!«
Mit ihren überlangen Fingern griff sie nach der Drossel und nahm sie mir ab. Sie senkte den Kopf und küßte das Tier zart auf den Kopf. Der Vogel breitete die Flügel aus und zirpte fast unhörbar. Leonie lächelte auf ihn hinunter und setzte ihn wieder ins Bauer zurück. Dann wandte sie sich zu mir um, daß ihre leichten, weiten Gewänder um ihre langen Glieder flatterten und legte mir ihre Hände ums Gesicht. Ihre riesigen, gelben Augen bohrten sich in meine. Ich starrte wie gebannt in ihre funkelnde Tiefe. Meine Lider flatterten und sanken herab. Ich spürte, wie starke, sehnige Arme mich umfingen und aufhoben und auf weiche Kissen legten.
»Schlaf ein wenig, Elloran«, flüsterte sie und strich über meine Stirn und meine Augen. »Schlaf und träume. Träume und werde heil ...«
Unversehens fand ich mich auf der grauen Ebene meiner Träume wieder. Ich war allein und konnte nicht wie sonst die Gegenwart der beiden Spieler spüren. Ich sah an mir herab, an dem bunten, lächerlichen Flickenkleid des Narren, das ich am Leibe trug und fragte mich benommen, was diesen Traum von den anderen unterschied, in denen ich hier auf dieser Ebene gestanden hatte. Ich hob meine Hände, drehte den Kopf und wußte es: Dieses Mal konnte ich mich bewegen! Wo war der Berg, den ich sonst vor Augen gehabt hatte? Ich drehte mich um meine eigene Achse, aber er war nirgendwo zu sehen. Dafür gab es nur eine Erklärung: Ich mußte auf seinem Gipfel stehen. Vorsichtig ging ich einige Schritte nach vorne und näherte mich einer hohen, grauen Mauer, die aus dem Dunst auftauchte. Dicht hinter mir lachte jemand, und ich fuhr herum. Meine Traumschwester stand neben mir und nahm mich bei der Hand. Sie sah mir auffordernd in die Augen, und ich bemerkte ohne Überraschung, daß Leonies Vogelaugen mich aus dem vertrauten, blassen Antlitz anblickten. Sie drückte meine Hand und legte dann die andere auf meine Lippen.
»Jetzt«, hauchte sie tonlos. »Jetzt, Elloran!« Ich holte schluchzend Luft und flüsterte: »Aber ich k-kann doch nicht ...« Über mir jubilierte ein Vogel, und die gelben Augen vor mir blitzten vergnügt. Ich schrie auf und erwachte.
Leonie hielt mich im Arm. Irgendwo im Raum sang süß und schmelzend ein Vogel. Ich fühlte Tränen über mein Gesicht laufen, und Leonie wischte sie behutsam fort. »Hörst du die Drossel, Elloran?« fragte sie. Ich nickte stumm; zu ängstlich, meine Stimme zu versuchen und dann womöglich feststellen zu müssen, daß sie mir immer noch ihren Dienst versagte. Leonies Gesicht näherte sich, und sie küßte mich auf den Mund. Ich konnte all die unzähligen Fältchen sehen, die sich nun vergnügt kräuselten. »Sag etwas, Elloran. Sei ein mutiger Junge und sag: ›Guten Morgen, Leonie.‹«
Ich räusperte mich und flüsterte: »G-guten Morgen, Leonie.« Sie warf den Kopf zurück und lachte.
»Das war die mutige Begrüßung einer kleinen Maus! Noch einmal, Elloran!«
Ich holte zittrig Luft und schmetterte: »Guten M-Morgen, Leonie!«
Ihr Gesicht verschattete sich. »Hast du auch früher schon gestottert, Elloran?« fragte sie scharf. Ich mußte einen Augenblick lang überlegen; es war so unendlich lange her, daß ich hatte sprechen können. Endlich schüttelte ich wie selbstverständlich den Kopf und mußte dann über mich selber lachen.
»N-nein«, brachte ich mühsam heraus. »Es l-liegt nicht an dir. Ich stottere, seit ich den Schlag auf den K-kopf bekommen h-habe.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Dann kann ich vielleicht etwas dagegen tun. Aber nicht mehr heute, Elloran, ich bin erschöpft. Nein«, sie hob in einer herrischen Geste die linke Hand. Das weiße Gewand rutschte von ihrem schlanken Arm und enthüllte einen breiten silbernen Armreif an ihrem Oberarm, der mir bekannt vorkam. »Für heute keine Fragen mehr, Elloran. Wir werden noch reichlich Gelegenheit haben, miteinander zu reden. Geh jetzt.«
Ich stand auf und stotterte einen Dank. Sie entgegnete lächelnd: »Danke mir nicht, Elloran. Du mußt übrigens noch deine Freundin befreien, sie hat ihre Aufgabe jetzt erfüllt.« Ich öffnete das Bauer und lockte die Drossel auf meine Hand.
»D-danke auch dir«, murmelte ich und legte kurz meine Wange an ihr klopfendes Herz. Dann trat ich auf den Altan und warf den Vogel in die Luft. Mit einem Jubelschrei, der aus meinem überfließenden Inneren kam, sah ich die Drossel sich aufschwingen und davonfliegen. Mir war, als hätte ein Gewicht sich von meinem Herzen gelöst. Ich war von meiner schrecklich quälenden Stummheit endlich erlöst! Wieder flossen meine Tränen, aber es waren Tränen der Freude.
Ich trat ins Zimmer zurück und fand es leer. Ich rief einen Gruß und verließ den Raum mit tausendmal leichterem Herzen, als ich ihn betreten hatte.
Karas saß an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, und las mein Protokoll vom Vortag. Er blickte kurz auf und lächelte mich an, dann setzte er seine Lektüre fort.
Ich hockte mich auf den kleinen Fußschemel neben dem Kamin und benutzte einige der Seiten der Kronratssitzungen dazu, mit ihnen das ausgegangene Feuer wieder zu entzünden. Dann nahm ich mir meinen Lesestoff vom Vorabend vor. Lange Zeit war nichts zu hören außer dem Rascheln von Papier und einem gelegentlichen Räuspern des Kammerherrn.
Ich legte das letzte Aktenbündel sorgsam zusammen, knotete die Schnur wieder darum und fragte beiläufig: »R-Rhûn und Rhan habe ich d-durch, domu Karas. Was soll ich m-mir jetzt vornehmen?«
»Die Berichte des Botschafters der Allianz, denke ich. Du wirst sie recht amüsant finden.« Er deutete zerstreut mit einer Hand auf einen kleinen Stapel Papier zu seiner Linken. Ich griff danach und hockte mich wieder auf den Fußschemel.
»D-domu Karas, darf ich eine Frage stellen?«
»Hm?«
»Was ist die Allianz? W-Welche Länder gehören ihr an?«
Er hob den Kopf und sah mich an. Seine Augen wurden immer größer, während er rekapitulierte, was ich ihn gefragt hatte. Daß ich ihn etwas gefragt hatte. Daß ich gesprochen hatte. Ich erwiderte seinen Blick so unschuldig, wie es mir bei dem unbändigen Lachreiz möglich war, den ich verspürte.
»Elloran«, sagte Karas sehr vorsichtig und äußerst höflich, »Junge, ich glaube, ich bin immer noch betrunken, oder ich bekomme ein böses Fieber. Würdest du mir bitte den Gefallen tun und zu mir herkommen?« Ich stand wortlos auf und ging zu ihm. Er nahm meine Hand und sah mir prüfend ins Gesicht. »Elloran, sei bitte ganz aufrichtig, schone mich nicht. Hast du mich gerade etwas gefragt?« Ich sah ihn nur groß und erstaunt an. Er vergrub aufstöhnend den Kopf in den Händen.
»S-Soll ich einen H-Heiler rufen, domu?« fragte ich scheinheilig. Dann konnte ich nicht mehr an mich halten. So hatte ich nicht mehr gelacht, seit Nikal bei einem Wettreiten mit mir kopfüber von seinem Pferd in den schlammigen Dorfweiher gefallen war.
Karas wechselte die Farbe, dann stemmte er sich hoch, umarmte mich heftig und küßte mich auf beide Wangen. »Mein Junge. Mein liebes, liebes Kind«, stammelte er und fing ebenfalls an zu lachen. Wir klammerten uns hilflos aneinander und keuchten und krächzten und wischten uns die Tränen ab und begannen dann wieder von vorne. Endlich ließ der Anfall nach, Karas sank kurzatmig in seinen Sitz zurück und wischte sich das Gesicht ab.
»Muß ich mich wahrhaftig bei Leonie bedanken?« fragte er keuchend. Ich hob die Schultern.
»Ohne s-sie wäre ich immer noch stumm wie ein F-ff«, ich holte Luft und setzte neu an: »Ein F-Fisch.« Ich kicherte. »Allerdings scheint ihr dabei ein w-winzig kleiner Fehler unterl-laufen zu sein.«
Karas runzelte die Stirn, dann lächelte er plötzlich. »Hauptsache, du kannst wieder sprechen. Das Stottern – dein Urgroßvater hat ganz fürchterlich gestottert, sein Leben lang. Und jeden einen Kopf kürzer gemacht, der gewagt hat, sich darüber lustig zu machen.« Er biß sich unbehaglich auf die Zunge.
Ich starrte ihn an. »Ihr habt m-meinen Urgroßvater gekannt? Aber ...«
Er winkte ab. »Ich war etwas älter, als du jetzt bist, als er starb. Unsere Familien leben seit Generationen hier in L'xhan, da bleibt es nicht aus, daß man sich kennt. Ich bin mit deiner Großmutter zusammen aufgewachsen, mußt du wissen. Sie war fast so etwas wie meine kleine Schwester.«
Das gab mir wieder Stoff zum Nachdenken. Vielleicht erklärte das sein eigentümliches Betragen mir gegenüber. Familiäre Gefühle oder so. »Habt Ihr K-Kinder, domu Karas?« fragte ich. Er antwortete nicht gleich, sah mich auch nicht an.
»Drei«, sagte er dann kurz. »Zwei Mädchen und einen Jungen. Meine Älteste ist vor sechzehn Jahren gestorben, meine jüngere Tochter lebt irgendwo in deiner Heimat, und der Junge ...«, er brach ab und sprach nicht weiter. Sein Gesicht hatte sich verfinstert. Er sah böse und enttäuscht aus. »Du hattest doch Fragen zur Allianz«, sagte er schroff. »Was wolltest du darüber wissen?« Enttäuscht bemerkte ich den Themenwechsel und griff gehorsam wieder zu den Akten.
»Ich wüßte g-gerne, was diese Allianz eigentlich ist. Ich habe noch nie zuvor v-von ihr gehört.« Der Kammerherr lehnte sich in seinen Stuhl zurück und faltete die Hände vor dem Bauch.
»Die Allianz«, sagte er nachdenklich. »Das darf ich dir eigentlich überhaupt nicht erklären, weil es einige sehr heikle Gebiete berührt, die in der Öffentlichkeit möglichst nicht bekannt werden sollten – jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht – und deshalb der striktesten Geheimhaltung unterliegen.« Er senkte das Kinn auf die Brust und hauchte auf den königlichen Siegelring. Ich erkannte diese Geste inzwischen als ein Zeichen äußerster Vorsicht und Sammlung.
»So viel kann ich dir sagen: die Allianz wäre ein überaus gefährlicher Feind und ein sehr mächtiger Verbündeter. Sie zeigt Interesse an einem Bündnis mit den Kronstaaten. Aber gleichzeitig steht sie auch in Verhandlungen mit den T'jana, was natürlich das Verhältnis der Krone zu dem Botschafter der Allianz im Augenblick etwas belastet. Lies seine Berichte, Elloran, sie sind sehr interessant, genau wie der Mann selbst. Manchmal glaube ich fast, er kann fliegen oder sich an zwei Orten gleichzeitig aufhalten. Er hat sich bis vor kurzem in S'aavara befunden und ist im Augenblick angeblich auf der Rückreise nach L'xhan. Irgendwann in den nächsten Wochen müßte er hier eintreffen. Du wirst ihn dann kennenlernen.«
Er vertiefte sich wieder in seine Arbeit, und ich nahm mir die Aufzeichnungen des Botschafters vor. Karas hatte recht, sie waren unterhaltsam. Der Ton, in dem sie abgefaßt waren, schien mir trocken humorvoll und ironisch; trotzdem waren sie sachlich und gespickt mit wichtigen Kenntnissen. Der Botschafter schätzte die Lage anscheinend als äußerst bedrohlich ein, empfahl dringend die Vermittlung durch eine Hand der Krone – deshalb war meine Großmutter persönlich abgereist, wurde mir nun klar – und benannte dann das, was auch der Edle Gioanî angedeutete hatte: Daß der Konflikt zwischen S'aavara und den Kronstaaten anscheinend durch Personen aus der unmittelbaren Umgebung der Krone geschürt wurde. Außerdem gab er sehr deutlich zu verstehen, daß die Allianz es begrüßen würde, wenn die Krone zu einem sicheren Frieden mit S'aavara und seinen Verbündeten käme.
Ich ließ die Papiere sinken und gähnte. Karas rieb sich die müden Augen und schlug vor: »Laß uns eine Pause machen, mein Junge. Ich könnte etwas ...«
» ... zu essen vert-tragen«, ergänzte ich vorlaut und errötete sofort vor Schreck. Ich war so froh, daß ich meine Zunge wieder benutzen konnte, daß ich sie wahrscheinlich in der nächsten Zeit sehr würde zügeln und kontrollieren müssen, um mir nicht ständig Ärger einzuhandeln. Zu meiner Erleichterung lachte der Kammerherr nur über meine Frechheit und ließ sich von mir aufhelfen. Er klopfte mir unbeholfen auf die Schulter und schmunzelte.
In der folgenden Stunde zeigte sich Karas wieder in alter Form. Ich mußte auf halber Strecke geschlagen die Waffen strecken, denn er schien fest entschlossen die sämtliche gestern ausgefallenen Mahlzeiten nachzuholen. Dann, nach dem reichhaltigen Dessert, tupfte er sich den Mund ab und sagte: »Es ist ein Grund zu feiern, daß du wieder sprechen kannst. Kommst du heute abend zu mir? Du könntest mir etwas von dir erzählen, wenn du magst.« Ich zögerte kurz, weil ich an den letzten Abend denken mußte, aber dann stimmte ich zu. Vielleicht würde mir Karas auch noch mehr über Großmutter und ihren stotternden Vater erzählen. Ich wußte so erschreckend wenig über meine Familie.
Den Nachmittag verbrachte ich über eine Geschichte der Krone gebeugt. Ich mußte feststellen, daß mein Wissen über die alte Herrscherfamilie der Kronstaaten äußerst lückenhaft und teilweise schlicht falsch war. So hatte ich zum Beispiel nicht gewußt, daß vier der gekrönten Herrscher nacheinander Attentaten zum Opfer gefallen waren: Der Vater der jetzigen Herrscherin, sein älterer Bruder, dem er nachgefolgt war, die Großmutter und eine Großtante waren in der Blüte ihrer Jahre von Meuchelmördern getötet worden. Gedrängt von den besorgten Händen der Krone, die sich anders außerstande sahen, ihren Herrscher wirksam zu beschützen, hatte der damalige Kronrat entschieden, daß die Krone nicht mehr in der Öffentlichkeit auftreten sollte. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte den Vater der jetzigen Krone allerdings nicht mehr retten können. Bei dem Attentat, das ihn tötete, war die kleine Prinzessin schwer verletzt worden. Die Sicherheitsmaßnahmen waren danach so vervollkommnet worden, daß die junge Frau inzwischen wahrscheinlich hätte völlig unerkannt unter ihren Untertanen umherlaufen können, wenn ihr das erlaubt worden wäre.
Nur drei Menschen hatten noch einen engen Kontakt zu der Krone, und nicht einmal ihr eigener Kronrat wußte, wie sie aussah. Alle Anweisungen und Erlasse, alle ihre Wünsche wurden ausschließlich durch die beiden Hände und den Kammerherrn weitergegeben, die sie unbarmherzig von der Außenwelt abschirmten. Mir grauste bei der Vorstellung, wie unendlich einsam diese junge Frau sein mußte. Um nichts in der Welt hätte ich mit ihr tauschen wollen.
Wir verbrachten den Abend mit entspannter Plauderei in freundschaftlicher Stimmung. Karas zeigte echtes Interesse an meiner Zeit auf Salvok, und ich erzählte, beantwortete seine Fragen, dachte dabei wehmütig an alte Freunde und machte keinen Hehl aus dem Groll meinem Vater gegenüber. Karas lauschte all dem mit Geduld und Freundlichkeit, trank dabei eher mäßig und beschloß den Abend nicht allzu spät.
In der folgenden Zeit deckte er mich unbarmherzig mit Arbeit ein. Er selbst gönnte sich ebenfalls keine Schonung. Es kam sogar vor, daß er die eine oder andere Mahlzeit ausfallen ließ. Wie ein Besessener las ich alles, was der Kammerherr für nötig, wichtig oder einfach nur interessant hielt. Mein gutes Gedächtnis war mir dabei eine unschätzbare Hilfe. Nur dadurch, daß ich jede Akte, jede Notiz, jeden Vertrag nur einmal lesen mußte, um ihn vollständig bis zum letzten Komma im Kopf zu haben, konnte ich das Pensum, das Karas mir aufbrummte, überhaupt erledigen. Abends fiel ich erschlagen auf mein Bett und schlief wie ein Stein. Im Stillen bewunderte ich die Kraft und die Energie, mit der ein so viel älterer, nicht allzu gesunder Mann nicht nur das gleiche Arbeitspensum, sondern sogar noch ein Mehrfaches davon bewältigte.
Obwohl er mich so unerbittlich antrieb, ergaben sich wunderbarerweise doch immer wieder freie Zeiten, in denen ich mich zu Leonie fortstehlen konnte. Ich wußte, daß Karas das mit einigem Unbehagen sah, aber dennoch ermöglichte er mir regelmäßig diese Besuche.
Leonie konnte an meinem Stottern nichts ändern, die Ursache entzog sich ihrer Magie. Ich war selbst erstaunt, wie leicht ich mich damit abfand; mir war alles gleich, solange ich nur dazu in der Lage war, mich anders als auf schriftlichem Wege zu verständigen.
Eines düsteren Nachmittages, an dem ein eisiger Schneeregen jeden Aufenthalt außerhalb der schützenden Burgmauern zur Qual machte, fragte ich Leonie nach dem seltsamen, fünfeckigen Spiel, das auf dem niedrigen Tischchen stand. Vor kurzem war eine neue Figur auf dem Brett erschienen, die sich schnell und zielstrebig auf das Zentrum zubewegte, und die anderen Figuren waren gemeinsam an der roten Linie entlang einige Zentimeter nach Süden gezogen, auf eine der blauen Linien zu. Nur die zwei in der Mitte standen noch immer unbewegt dort, wo ich sie das erste Mal gesehen hatte.
Ich griff nach der neuen Spielfigur und hob sie auf, um sie näher zu betrachten. Sie stellte eine schmale, hohe Gestalt dar, weder eindeutig männlich noch weiblich; mit einem wie aus Marmor gemeißelten Gesicht und haarlosem Schädel. Die Augen der Figur stellten blicklose Höhlen dar, in denen ganz tief unten ein unheimliches Feuer zu lodern schien. Ich bewunderte nicht zum ersten Mal das Können des unbekannten Künstlers, der diese kaum handgroßen Figuren mit einer solchen Liebe zum grotesken Detail geschaffen hatte.
Leonie sah mir schweigend und reglos zu. Erst, als ich sie bat, mir das Spiel zu erklären, bewegten sich ihre Hände und nahmen mir sanft das Figürchen aus den Fingern. Sie stellte es wieder an seinen Platz – seit gestern hatte es sich dem Zentrum um ein weiteres großes Stück genähert – und blickte lange versonnen auf das Spielbrett nieder.
Dann lächelte sie fast mutwillig und sagte fröhlich: »Ja, warum eigentlich nicht? Wenn du willst, bringe ich es dir bei.«
Natürlich ließ ich mir das nicht zweimal anbieten. Die Regeln des Spiels schienen auf den ersten Blick nicht allzu schwierig zu sein; vor allem ging es darum, daß einer der Spieler, und zwar derjenige, der die ›Spitze‹ des fünfeckigen Brettes erwürfelt hatte, seine einzelne Figur unbeschadet über das ganze Spielfeld bis zur Heimatlinie bringen mußte, wobei ihm die Route, die er dabei einschlug, völlig freigestellt war. Hatte er die Basislinie erreicht, gab es zwei Möglichkeiten: Er konnte ehrenvoll kapitulieren, was zu einem Unentschieden führte; oder er entschied sich für den Kronenschluß: Er brachte seine Figur unbeschadet über die rote Herzlinie zurück zum Zentrum, zur sogenannten ›Burg‹ und hatte damit das Spiel gewonnen.
Der Gegenspieler führte die ›Jäger‹, das waren Figuren, die die Spielfigur des ersten nach bestimmten Regeln behindern, von seinem Weg abbringen oder gefangennehmen konnten. Er hatte sogar unter Umständen die Möglichkeit, die einzelne Figur zu ›töten‹ und damit das Spiel für sich zu entscheiden.
Kompliziert wurde diese einfache Struktur dadurch, daß der erste Spieler auf die Jäger seines Spielpartners in einem gewissen Rahmen einwirken durfte. Das hing unter anderem von dem Ergebnis aus dem Wurf eines oder zweier achtseitiger Würfel ab; aber auch von Konstellationen und Bündnissen auf dem Spielbrett. An diesem Punkt von Leonies Erklärungen bat ich um eine Pause.
Sie lächelte sanft und sagte: »Wir spielen eine Partie, Elloran. Dann wirst du schnell begreifen, worum es geht. Mir fehlt im Augenblick ohnehin meine liebste Gegnerin, deine Großmutter. Vielleicht hast du ihr Talent für dieses Spiel ja geerbt.«
Ich erwürfelte die Spitze und durfte meine Spielfigur wählen. »Ich n-nehme den Narren«, sagte ich ohne nachzudenken.
Leonie blickte mich spöttisch an. »Das würde ich mir gut überlegen, Elloran. Der Narr ist eine sehr schwierige, unberechenbare Figur. Du solltest lieber mit dem Ritter oder der Königin anfangen.«
»Was ist m-mit der Weißen Frau?« fragte ich.
Sie legte den Kopf zurück und lachte ihr gurrendes Lachen. »Du bist ein Dickkopf, Elloran, genau wie deine Großmutter. Also gut, nimm den Narren, du kleiner Narr.«
Natürlich hatte sie recht. Ich war kaum über die erste blaue Linie hinausgekommen, da hatten mich ihre Jäger schon umzingelt und getötet. Ich verlangte Revanche, und sie gewährte sie schmunzelnd. Aber auch beim nächsten und übernächsten Versuch gelang es mir nicht, die Heimatlinie zu erreichen. Doch zumindest schaffte ich es beim dritten Anlauf, bis über das Zentrum hinauszukommen und zwei der Jäger dabei außer Gefecht zu setzen.
Leonie räumte das Brett frei und stellte die ursprüngliche Konstellation wieder her. Täuschte ich mich, oder hatte die neue Figur sich erneut um ein Stückchen auf die ›Burg‹ zubewegt?
»W-Warum haben wir eigentlich nicht mit diesen F-Figuren gespielt?« fragte ich neugierig. Für unser Spiel hatte Leonie einfachere, stilisierte Spielfiguren aus bemaltem Holz aus einem Kästchen genommen. Sie dienten ihrem Zweck, entbehrten aber des Reizes, den diese fein ausgearbeiteten Steinfiguren auf mich ausübten.
Leonie stellte behutsam den Narren wieder ins Zentrum des Brettes und sagte kurz: »Das sind Figuren für fortgeschrittenere Spieler, mein wißbegieriger junger Freund. Du bist noch lange nicht so weit, obwohl du dich für einen Anfänger heute gut geschlagen hast.« Sie schob eine Strähne ihres schneeigen Haares aus der Stirn und streckte sich dann wie eine Katze. »Genug für heute, Elloran. Wir sehen uns morgen wieder.« Sie schnippte leicht mit den Fingern, und die Tür öffnete sich für mich. Ich grinste sie an, und sie hob eine Augenbraue. Ich schloß kurz die Augen. Im Zimmer erloschen alle Kerzen. Sie schnaufte empört und sagte: »Jetzt mach aber, daß du rauskommst, du unverschämter Bengel!« Die Kerzen flammten wieder auf. Ich wurde von einem heftigen Windstoß zum Zimmer hinausgefegt. Die Tür schlug zu, und immer noch kichernd ging ich zurück an meine Arbeit.