20
Ich weiß bis heute noch nicht, auf welche Weise Julian mich in dieser Nacht zurück nach Sturmhaven gebracht hat, nachdem ich ihm auf dem Galgenhügel ohnmächtig vor die Füße gefallen war. Eine Zeit der schrecklichsten Alpträume folgte. Wieder und wieder sah ich Nikal qualvoll sterben, während mich ein gesichtsloses Wesen verfolgte und mit seinen messerscharfen Klauen zu zerfleischen drohte. Dazu tanzte Cesco einen makaberen Tanz mit unzähligen bleich glänzenden Schlangen, die sich um seine schlanken Glieder wanden und ihn langsam erwürgten. Während der ganzen Zeit hatte ich das Gefühl, daß jemand bei mir saß und mich beobachtete. Als ich das erste Mal aus diesen Träumen auftauchte, blickte ich in das aufmerksame, kühle Gesicht meines Dämons.
»Geh weg«, wisperte ich. Sie bewegte sich nicht, und ihre erbarmungslosen Augen gaben mich nicht frei. Ich schloß die Augen, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Dafür hörte ich ihre Stimme um so klarer.
»Vielleicht ist doch noch nicht alles zu spät, wenn du nur eine Sache erkennst, Elloran. Du warst schon auf der richtigen Fährte, aber du hast dich wieder ablenken lassen.« Sie griff nach meiner Hand und zwang mich, sie anzusehen. Ihr Gesicht war sehr nah an meinem. In ihren Augen spiegelten sich meine blassen Züge.
»Hör gut zu, Elloran«, sagte sie fast unhörbar leise. »Es gibt mich nicht, das hast du ja inzwischen begriffen. Begreifst du aber auch, was das für dich bedeutet?« Sie ließ mich los. Ich starrte sie an, gebannt von ihrem dringlichen Ton.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich kläglich.
Sie seufzte ungeduldig. »Dann denk darüber nach, Bruder. Aber beeile dich lieber, unsere Zeit läuft ab!«
Die Tür öffnete sich, und Julian trat ein. Er stutzte einen winzigen Augenblick lang, als habe ihn etwas irritiert, dann trat er an mein Bett. »Wie fühlst du dich?« fragte er und berührte sanft meine Hand.
Ich nickte schwach. »B-besser, glaube ich. Julian, wo sind Omellis L-Leute?«
Er hob die Schultern. »Ist das denn noch wichtig?« fragte er gleichgültig. »Ich habe in dem Gehölz niemanden mehr gefunden, keine Leiche, keine anderen Menschen, nur deine beiden Pferde. Außerdem war ich in den letzten Wochen hauptsächlich damit beschäftigt, dich am Leben zu halten. Es war recht knapp, mein Lieber.«
Wochen? Was wollte er damit sagen? Ich richtete mich auf, und er half mir, mich aufzusetzen. Durch das Fenster fiel heller, freundlicher Sonnenschein.
»Wie l-lange?« fragte ich beklommen. Er hörte auf, mir Kissen in den Rücken zu stopfen und sagte: »Über vier Wochen, Neffe. Wir haben inzwischen die Winter-Letztwoche. Deinen Geburtstag müssen wir wohl nachfeiern.«
In tiefstes Elend versunken, hörte ich kaum, was er sagte. Er knuffte mich leicht. »He, Ell, was ist los mit dir? Du hast es überstanden, du kannst bald wieder aufstehen, und dann wirst du schon sehen, wie schnell du wieder bei Kräften bist.«
Ich lachte bitter. »Julian, m-mach mir doch nichts vor. Ich sterbe, das weißt du genausogut w-wie ich!« Meine Stimme klang schrill.
Er schüttelte sacht den Kopf, seine kühlen Augen blickten amüsiert. »Wer spricht vom Sterben? Du mußt noch lange nicht übers Sterben nachdenken, mein Guter, das kann ich nämlich verhindern. Vorausgesetzt ...« Er hielt inne und kniff die Lippen zusammen.
»Vorausgesetzt?« fragte ich atemlos.
Er studierte seine Handflächen, als stünde die Antwort auf alle Fragen der Welt in ihnen geschrieben, und ließ mich zappeln. »Ich bin ein wenig auf deine Unterstützung in einer unangenehmen kleinen Angelegenheit angewiesen«, bemerkte er schließlich leichthin. Sein harter Blick strafte den unbekümmerten Ton seiner Stimme allerdings Lügen. »Wenn du versprichst, mir dabei unter die Arme zu greifen, sorge ich dafür, daß das Gift aus deinem Körper verschwindet, samt aller Schäden, die es bereits angerichtet hat. Außerdem denke ich, daß ich weiß, wer dich vergiftet hat.«
Ich packte ihn erregt an der Schulter. »Julian, du m-mußt es mir sagen! Bitte, du mußt!«
Er machte sich frei und stand auf. Er schien mit sich zu ringen.
»Du solltest erst wieder zu Kräften kommen«, sagte er schließlich. »Wenn du brav bist und tust, was ich sage, dann ist das bald der Fall. Und dann werde ich dir alles sagen, was ich weiß.«
Ich bettelte und flehte, aber er blieb unnachgiebig. Also schickte ich mich drein und tat zähneknirschend, was er verlangte. Ich schlief und aß, schluckte ekelhaft aussehende und schmeckende Arzneien, machte brav die Übungen, die er mir verschrieb, um meine Muskulatur wieder zu kräftigen und übte mich ansonsten in Geduld. Die Träume verließen mich nach und nach – nur mein Dämon tauchte unermüdlich immer wieder neben meinem Lager auf und fragte: »Weißt du es, Elloran? Hast du die Antwort?«
Ich weigerte mich, sie zur Kenntnis zu nehmen, und sie verschwand jedesmal mit enttäuschter Miene, um in der nächsten Nacht mit derselben Frage wiederzukehren.
Nach zwei Wochen gestattete Julian mir, mein Bett zu verlassen und mich im Haus und dem kleinen, verwilderten Garten dahinter umzusehen. Es war bereits erstaunlich mild und warm, die Bäume hatten fast alle schon kleine Blättchen, und es roch wunderbar nach frischem Grün. Ich saß dort häufig auf einer winzigen Steinbank und ließ mich von der warmen südlichen Frühlingssonne bescheinen.
Julian kümmerte sich rührend um mich, obwohl er augenscheinlich Sorgen hatte. Er wirkte nervös und geistesabwesend, und wenn ich ihn fragte, was ihn bedrückte, winkte er nur ab. »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, Ell. Ich habe Ärger mit einigen Geschäftspartnern, und zu allem Überfluß ist auch noch die Garde deiner Großmutter aufgetaucht und sucht nach dir. Sie verbreiten eine schreckliche Unruhe in meiner Stadt. Aber keine Sorge, Neffe, sie werden dich hier bei mir nicht finden. Solange du nur das Haus nicht verläßt!«
Ich würde mich hüten, das zu tun. Meine Haare hatten längst ihre übliche Farbe wieder, und ich fühlte mich so auffällig wie ein Norrländer in einem olyssischen Dorf. Ich streifte lieber durch den Garten und verbrachte nach dem Mittagessen lange Stunden in Julians Bibliothek, die unmittelbar an sein Arbeitszimmer grenzte. Dort konnte ich auch manches Gespräch mithören, das er mit seinen Hauptleuten führte. Die Straffheit und Wirksamkeit, mit der er seine Geschäfte führte, beeindruckte mich. Das Talent schien er von seinem Vater geerbt zu haben. Nicht nur dieses Talent, fiel mir plötzlich ein. Ich erinnerte mich an das beiläufige Fingerschnippen, mit dem Karas damals den Stock in seine Finger hatte hüpfen lassen. Natürlich, von wem sonst sollte ich meine magischen Fähigkeiten geerbt haben?
An einem dieser Nachmittage konnte ich mitanhören, wie Julian seinen engsten Mitarbeiter Erman anfuhr. Das war insofern bemerkenswert, als Julian selten seine Stimme zu mehr als einem ärgerlichen Knurren erhob. Aber dieses Mal wurde er sogar recht laut.
»Es darf doch nicht wahr sein, daß du sie nicht in den Griff bekommst, Erman!« brüllte er. »Schaff dieses Weib um aller Götter willen hierher, ehe sie mir das ganze Blaue Viertel aufwiegelt.« Erman murmelte etwas, und Julian erwiderte heftig: »Das ist mir völlig gleichgültig! Meinetwegen gefesselt und geknebelt, aber ich will sie noch heute abend hier auf diesem Stuhl sitzen sehen!«
Wenig später klappte eine Tür, und weiche Schritte näherten sich der Bibliothek. Julian schlug den Vorhang beiseite und sah finster durch mich hindurch. Ich räusperte mich verlegen und sprach ihn leise an; fragte ihn, ob er lieber allein sein wollte. Er zuckte leicht zusammen und rieb sich über die Stirn.
»Entschuldige, Elloran. Ich habe mich in letzter Zeit nicht sehr gut um dich gekümmert, richtig?« Er ließ sich mir gegenüber in einen der weichen Polsterstühle fallen und faltete die Hände über dem Bauch. Diese Geste erinnerte mich seltsam an Karas, obwohl der betreffende Körperteil bei Julian im Gegensatz zu dem seines Vaters alles andere als ausladend geformt war.
»Ich v-vermisse nichts, Julian. Allerdings hattest du versprochen, mir zu verraten, wer mich vergiftet hat. Und d-du wolltest meine Hilfe bei etwas ...« Ich sprach nicht weiter, erwähnte nicht seine großspurigen Worte, er sei in der Lage, mich zu heilen.
Julian schloß für eine Weile die Augen. Sein knochiges Gesicht war erschöpft, er wirkte noch melancholischer als sonst. »Ja«, sagte er leise. »Das ist eine böse Geschichte.« Er sah mich besorgt an. »Bist du sicher, daß du es wirklich hören willst, Elloran? Es wird dir weh tun.«
Ich biß ergrimmt die Zähne zusammen. »W-weh tun? Jemand haßt mich so sehr, daß er mich töten will. Das tut w-weh!« Er nickte und schloß wieder die Augen. Hinter seinem Stuhl schimmerte weiß und rot die Gestalt meines Dämons auf. Sie blieb verschwommen, wie ein Bild, das man durch dickes Glas betrachtet.
»Denk einmal selbst nach«, begann Julian. »Wer kann Interesse daran haben, dich zu beseitigen?« Ich hob ratlos die Schultern. Darüber zerbrach ich mir nun schon lange genug ergebnislos den Kopf.
»Du bist der Thronerbe, Elloran. Das muß der Grund für den Anschlag gewesen sein, richtig?« Ich stimmte ihm zu. »Gut, dann wissen wir doch schon mehr. Wer wußte überhaupt davon, daß du die künftige Krone bist?«
Ich öffnete den Mund und schloß ihn erschüttert wieder. Er hatte die Augen einen Spalt weit geöffnet und beobachtete mich scharf. »Richtig«, sagte er mild. »Deine Großeltern und die Oberste Maga. Niemand sonst. Niemand, Elloran!«
Ich schüttelte in heftiger Abwehr meinen Kopf. Was er da unterstellte, war monströs. Er seufzte geduldig. »Das Gift wurde dir von dem angeblichen Prinzen der Inseln verabreicht. Hast du dich nie gefragt, warum deine Großeltern nicht erkannten, daß der junge Mann, der da als Sohn des Edlen Gioanî an den Hof kam, ein Betrüger war? Weder Karas, der seit Jahren mit dem Botschafter der Inseln befreundet ist, noch Veelora, die doch den echten Prinzen noch kurz zuvor am Hofe von Rhûn gesehen hatte? Wie erklärst du dir das?«
Ich saß wie versteinert da. Seine Worte trafen mich mit der Wucht eines Steinschlags. Ich hatte das, was er so kristallklar ausführte, bisher nicht erkennen wollen, aber ich konnte nun nicht länger die Augen davor verschließen.
»Und L-Leonie?« krächzte ich heiser. Er lachte verhalten und böse.
»Leonie hat auf ihre Art versucht, dich unter ihre Kontrolle zu bekommen. Du warst ein schwieriger Spielpartner für sie, mein kluger Neffe. Sie hat sich das Ganze anders vorgestellt, das darfst du mir glauben. Deshalb hat sie auch nichts dagegen unternommen, als deine Großeltern entschieden, dich zu beseitigen.«
Ich schluckte heftig. Die undeutliche Gestalt hinter Julian schien drohend die Hände zu heben. »D-da ist sie wieder«, entfuhr es mir. Er sah mich erstaunt an. »M-meine Schwester aus dem Traum, oder w-was immer sie in Wirklichkeit sein mag«, erklärte ich und deutete auf den schimmernden Schemen. Sie verschwand.
Julian zuckte herum und starrte in den Schatten hinter seinem Stuhl. »Du hast keine Schwester«, sagte er verwirrt. »Das muß eine Erscheinung sein, ein Dämon oder ein Alp.« Er wandte sich um und griff nach meinen Händen. »Wahrscheinlich ist es eine von Leonies Kreaturen. Verfolgt sie dich?« Ich nickte schaudernd.
»Ich lasse mir etwas einfallen. Möglicherweise kann ich dich von ihr befreien, oder dir helfen, es selbst zu tun. Aber zuerst«, er lächelte mich an, »zuerst sollten wir etwas gegen das Gift tun. Du bist jetzt wieder kräftig genug, die Prozedur zu überstehen.« Ich hielt die Luft an.
»Du hattest eine B-Bedingung dafür, Julian«, erinnerte ich ihn ängstlich. Er nickte und suchte nach Worten.
»Ich brauche deine Hilfe, Elloran. Du weißt, wonach ich strebe ...«
Draußen in Julians Arbeitszimmer erklang ein Poltern, und eine wütende Frauenstimme schrie: »Laß mich sofort los, du Grobian! Was soll das, warum schleifst du mich hierher?«
Julian stand eilig auf und verließ den Raum. Ich folgte ihm leise, weil mich die Neugier gepackt hatte. Die Stimme gehörte einer Frau, die ich kannte, und ich wollte wissen, was Julian mit ihr zu besprechen hatte. Der Magier bemerkte nicht, daß ich hinter ihm in den Raum trat, aber Katarin, die sich in Ermans Griff wand, sah mich sofort. Ihr Gesicht verzog sich verächtlich, und sie hörte auf, sich zu wehren.
»Setz dich hin«, sagte Julian scharf. Er bemerkte ihren angewiderten Blick und drehte sich gestört zu mir um. »Ell, geh bitte hinaus«, bat er sanft.
Katarin lachte böse auf. »Er soll dableiben, der Kriecher. Er kann ruhig hören, was du mir zu sagen hast, oder, Ruud?«
Julian machte eine ungeduldige Handbewegung, und ich setzte mich schnell in eine Ecke. »Katarin«, begann er leise, »du sorgst seit geraumer Zeit für erhebliche Unruhe im Blauen Viertel. Du versuchst, die Leute gegen mich aufzuhetzen. Warum?«
»Warum? Weil du ein gemeiner Mörder und Verbrecher bist, und weil ich dafür sorgen will, daß dir endlich das Handwerk gelegt wird. Wir haben uns viel zu lange von dir und deinen Schlägern terrorisieren lassen, das ist jetzt endgültig vorbei!«
Sie sprühte förmlich vor Haß. Julian überraschte mich damit, daß er zu lachen begann. »Das ist aber wirklich originell, Katarin. Du kontrollierst ja schon das Blaue Viertel. Was willst du noch, ein größeres Stück vom Kuchen? Darüber könnten wir reden.« Sie spuckte aus. Er hörte auf zu lachen und sah sie stirnrunzelnd an. »Mach keinen Fehler, Katarin. Ich bin ein geduldiger Mensch, aber auch ich habe meine Grenzen. Ich biete dir an, für mich zu arbeiten, das wäre sicher für uns beide eine lohnende Sache. Wenn du aber lieber die Heldin spielen willst: bitte. In dem Fall kann ich dir allerdings nicht garantieren, daß du und deine Freunde noch viel Freude an diesem Frühling haben werdet. Ein Unfall ist schnell geschehen. Denke ruhig darüber nach, aber warte nicht zu lange mit deiner Antwort.«
Seine Stimme war sanft und freundlich geblieben, doch die unverhüllte Drohung darin machte mir angst. Katarin sah ihn starr an. Dann stand sie hoheitsvoll auf und wandte sich zur Tür. Erman machte Anstalten, sie festzuhalten, doch Julian hielt ihn zurück.
Katarin zögerte in der Tür und warf mir einen Blick zu. »Behandelt er dich nicht gut, Elloran? Du siehst schrecklich aus.«
Ich war erstaunt über den weichen Klang ihrer Stimme. »Es g-geht mir gut, Kat. Er ist nicht ...«
»Genug geplaudert«, fuhr Julian wie eine Peitsche dazwischen.
Katarin sah mich immer noch unverwandt an. Ohne die Augen von mir zu wenden, sagte sie langsam und deutlich: »Fahr zur Hölle, Ruud!« Sie wandte sich ab und ging. Julian wechselte einen schnellen Blick mit Erman, der nickte und hinter ihr herlief. Ich fror. »Komm, Ell. Denk nicht darüber nach«, sagte er müde. »Wir waren bei einem wichtigeren Thema.«
»Was g-geschieht jetzt mit ihr?« fragte ich.
»Kümmere dich bitte um deine eigenen Angelegenheiten«, fauchte er. Ich zuckte zusammen und schwieg. »Du wolltest wissen, wofür ich deine Hilfe brauche«, sagte er nach einer unbehaglichen Weile. »Ich glaube, es ist an der Zeit, daß einige alte Leute ihren Platz räumen.« Er verschränkte die Arme und ging unruhig auf und ab. Dann blieb er stehen und deutete auf mich. »Du bist der rechtmäßige Thronerbe, Ell. Dein Großvater ist ein todkranker Mann. Er kann jeden Augenblick sterben, und dann? Die Kronstaaten stünden ohne Kopf da. Die T'jana warten doch nur darauf.« Er schüttelte erbittert den Kopf. »Jetzt wäre noch Zeit, einen Machtwechsel durchzuführen und einen neuen Herrscher aufzubauen. Wenn wir warten, bis Karas tot ist, ist es womöglich zu spät. Elloran, ich kann das nicht alleine schaffen. Ich brauche dich dafür: dich, den Erben der Krone!«
Mir war schwindelig. »Was versprichst d-du dir davon?« fragte ich schließlich hilflos.
»Ich werde deine Hand sein«, sagte er knapp. »Und natürlich das Oberhaupt der Magier. Elloran, das ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung! Wir schulden es den Kronstaaten. Wir dürfen uns nicht davor scheuen, deshalb Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Oder willst du etwa mit schuld daran sein, daß die S'aavara deine Heimat versklaven?«
Ich verneinte unsicher. Er kam zu mir und legte mir seine Hand auf die Schulter. »Grübele jetzt nicht darüber nach, Elloran, du bist noch zu geschwächt. Warte, bis ich das Gift aus deinem Körper entfernt habe, dann reden wir weiter. Laß mich jetzt alleine, ich muß noch einiges dafür vorbereiten. Die Prozedur ist nicht ganz ungefährlich, auch für mich nicht, aber du wirst dich danach sehr viel besser fühlen. Ich rufe dich, wenn ich soweit bin.«
Trotz Julians mitfühlendem Rat, nicht nachzugrübeln, saß ich noch lange da und starrte ins Kaminfeuer. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen; zu ungeheuerlich war die Vorstellung, daß meine Großeltern kaltblütig meinen Tod geplant haben sollten. Ich rief mir meine Zeit auf der Kronenburg in Erinnerung, und wie liebevoll sich Karas damals meiner angenommen hatte. Doch meine Gedanken waren verschwommen und unklar, und immer wieder schoben sich andere Bilder davor: Karas, der mich kalt und erbarmungslos in Arrest schickte, und Veeloras vor Haß und Abscheu bebende Stimme, als sie ausrief: »Ich verfluche den Tag, an dem deine Mutter dich in die Welt gesetzt hat!«
Meine Schläfen pochten, und meine Hände zitterten wie im Fieber. Ich zündete mir hastig ein Stäbchen an. Inzwischen kam ich keine einzige Stunde mehr ohne das Rauschgift aus, es bescherte mir eine ständige sanfte Benommenheit, die nicht unangenehm war, nur etwas hinderlich, wenn ich wie jetzt eine Schwierigkeit genauer durchdenken wollte. Vielleicht würde ich nach Julians Behandlung wieder bei klarerem Verstand sein. Ich rauchte und starrte blicklos und mit leerem Kopf in das Feuer.
Leise Schritte näherten sich, und ein Stuhl kratzte über den Boden. Träge drehte ich den Kopf und sah Julian, der sich nun neben mir auf den Stuhl fallen ließ. Er sah erschreckend aus, noch bleicher als sonst, mit tief in ihre Höhlen gesunkenen, umschatteten Augen und erschöpften Kerben um den Mund.
»Laß mich einen Augenblick ausruhen, dann können wir anfangen«, murmelte er.
»W-wollen wir nicht lieber bis morgen warten? Du s-siehst aus, als würdest du gleich aus d-den Schuhen kippen.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, das ist leider unmöglich. Es sind einige flüchtige Substanzen im Spiel, die ich sofort verwenden muß. Morgen müßte ich mit den Vorbereitungen von vorne beginnen.«
Ich reichte ihm einen Becher Würzwein, den er dankbar annahm und mit langsamen, kleinen Schlucken austrank. Er schloß die Augen und bewegte seine dünnen Finger in einer fremden, verworrenen Beschwörung. Sein Gesicht bekam wieder Farbe, und er sah ein wenig erholter aus. Eine halbe Stunde saßen wir so in Gedanken versunken nebeneinander. Dann streckte er sich, gähnte herzhaft und murmelte: »Auf, ans Werk, mein Freund. Ich möchte es hinter mich bringen.«
Mit klopfendem Herzen folgte ich ihm in den düsteren Gewölbekeller unter dem Haus. Diesen Teil des Gebäudes hatte ich bisher erst einmal zu einem kurzen Besuch betreten. Julian verwahrte hier etliche nicht ganz ungefährliche Stoffe, die er für einige der schwierigeren magischen Beschwörungen verwendete. Für Experimente mit diesen Ingredienzen suchte er, seit ihm einmal ein schlecht abgeschirmter Feuerwurm fast das gesamte Arbeitszimmer verwüstet hatte, lieber den Keller auf.
Ich sah ihm fröstelnd zu, wie er einige Öllampen entzündete und mir einen Stuhl hinschob. Auf dem riesigen Holztisch, der von unzähligen Versuchen versengt, verkratzt und verätzt mitten im Raum stand, türmten sich geheimnisvolle Gerätschaften, deren Zweck ich nicht einmal erahnen konnte; vielerlei Gefäße mit seltsamen, exotischen Substanzen standen überall herum und Haufen von Schriftstücken und Büchern in allen möglichen Sprachen bedeckten jede noch freie Fläche des großen Gewölbes.
Beklommen setzte ich mich auf die Stuhlkante und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Bedauerlicherweise hatte ich meine Rauchstäbchen neben dem Kamin liegen lassen, ein oder zwei davon hätten mich jetzt sicher beruhigt. Julian fuhrwerkte mit einem Brenner auf dem Tisch herum, fluchte unterdrückt und blies sich auf die verbrannten Finger. Eine widerlich aussehende grauviolette Flüssigkeit in einem seltsam geformten Glasgefäß begann leise vor sich hinzublubbern und dicke Blasen aufzuwerfen. Gelblicher Rauch stieg auf, es roch scharf nach faulen Eiern und Fisch. Julian lehnte sich an die Tischkante und blätterte in einem kleinen Büchlein. Dann schrieb er etwas auf ein dünnes Pergament, flüsterte eine Beschwörung und stäubte grünes Pulver aus einem dünnen Röhrchen darüber. Er verbrannte das Blatt über der Flamme, die dem Brenner entsprang. Es gab einen leisen Knall und eine grüne Stichflamme. Der Magier murmelte etwas in einer Sprache, die ich nicht kannte und klopfte sich die Hände ab.
»So, es kann losgehen«, rief er munter. Ich fuhr zusammen, so gespannt hatte ich auf sein Tun geachtet. Er griff nach einer Zange und hob den Glaskolben mit der brodelnden Flüssigkeit vom Feuer. Vorsichtig schüttete er den Inhalt in eine flache Porzellanschale und blies sachte darüber. Die Oberfläche der Flüssigkeit, die im Erkalten eine stahlgraue Färbung annahm, kräuselte sich sanft unter seinem Atem. Er steckte seinen kleinen Finger hinein und roch mißtrauisch daran. Dann verzog er das Gesicht und sagte: »Tut mir leid, Ell. Das wird ganz scheußlich schmecken, aber ich kann jetzt nichts mehr daran ändern. Halte dir die Nase zu und kippe es schnell runter.« Er drückte mir die Schale in die Hand und sah mich erwartungsvoll an.
Ich blickte angeekelt auf die graue, dicke Flüssigkeit und dann auf Julian. »Alles?« fragte ich kläglich.
»Alles. Und möglichst, ohne abzusetzen.«
Ich holte tief Luft, schloß die Augen und setzte die Schale an. Beim ersten Schluck würgte ich schon, so widerlich schmeckte das Zeug. Es fühlte sich schleimig und auf schreckliche Weise lebendig an, als es meine Kehle hinunterglitt. Ich konnte spüren, wie es in meinen Magen kroch und ihn bis in den letzten Winkel auszufüllen begann. Mannhaft schluckte ich alles bis auf den letzten Tropfen hinunter und ließ die Schale sinken. Ein übermächtiger Brechreiz krampfte mir die Eingeweide zusammen, und ich mußte heftig schlucken, um die eklige Substanz im Magen zu behalten.
Julian reichte mir einen Becher mit Wein und bedeutete mir, ihn auszutrinken. Ich lehnte mich in den Stuhl zurück und atmete tief und gleichmäßig, um den Brechreiz zu bekämpfen. Der Schweiß trat mir aus allen Poren. Grünlicher Nebel wallte vor meinen Augen. In meinen Ohren brauste und rauschte es wie von Meeresbrandung. Ich umklammerte die Lehnen meines Stuhles und fühlte, wie ein taubes Gefühl an meinen Beinen emporkroch, sich über meinen Unterleib zog, die Brust erreichte und dann mein Gesicht lähmte. Ich konnte meine Glieder nicht mehr spüren, ich war nicht mehr fähig, zu sprechen oder mich zu bewegen, und offenbar schlug auch mein Herz nicht mehr.
Unnennbare Zeit schwebte ich in diesem toten Zustand und war zu nichts anderem in der Lage, als panische Angst zu empfinden. Die Schleier vor meinen Augen formten seltsame Gestalten, die mir zu winken schienen. In den Geräuschen, die meine Ohren füllten, erklangen Stimmen und Wortfetzen, die ich nicht deuten konnte. Ich wollte schreien, aber in meinen Lungen war keine Luft, und meine tauben Lippen, wenn es sie denn überhaupt noch gab, gehorchten mir nicht.
»Elloran«, sagte eine geduldige Stimme. »Hörst du mich? Komm zurück. Elloran.« Ich zuckte schwächlich mit den Fingern. Große Göttin, ich konnte meine Hände wieder spüren!
»Elloran. Kannst du mich hören? Elloran – ah, das ist gut!« Kräftige Finger massierten meine erstarrten Hände. Meine Lider flatterten, und ich begann schemenhaft, meine Umgebung wahrzunehmen. Zotteliges schwarzes Haar kam in mein Blickfeld. Als meine Augen langsam wieder klar wurden, erkannte ich Julian, der vor mir kniete und meine Finger und Unterarme rieb. Er sah mich mit großer Besorgnis an. Ich hustete und versuchte mich aufzurichten.
»Bleib, wo du bist«, befahl er und legte mir seine Hand auf die Schulter. »Das war knapp, Neffe. Ich dachte, ich hätte dich verloren.« Er preßte die Lippen zusammen. »Das Gift hatte schon einen großen Teil deiner Eingeweide angegriffen und begonnen, sie zu zersetzen. Es ist wirklich erstaunlich, daß du das überlebt hast!«
Er wandte sich ab und füllte einen Becher mit Wasser, den er mir an die Lippen hielt. Ich trank hastig wie ein Verdurstender, und das kühle Wasser rann wie ein Feuerstrom durch meinen Körper.
Julian hantierte zwischen kleinen Behältern und Päckchen auf einem schmalen Bord herum. Dann faltete er sich wieder neben mir zusammen und zeigte mir eine geöffnete Dose, die mit winzigen schwarzen Perlchen gefüllt war, die aussahen wie getrocknete Meerdornfrüchte.
»Hier, das mußt du noch eine Zeitlang einnehmen. Vor allem dein Magen ist durch das Gift sehr stark geschädigt worden, aber diese Medizin wird den Trank bei der Heilung unterstützen. Keine Angst, sie schmecken nach gar nichts«, lächelte er, als er mein Gesicht sah. Feine Linien der Erschöpfung durchzogen sein Gesicht, und die Schatten unter seinen Augen hatten sich vertieft. In der düsteren Beleuchtung sah er aus wie ein alter Mann. Der Magier ließ mich noch eine Weile ausruhen, dann half er mir aus dem Stuhl und schleppte mich nach oben in mein Zimmer.
Ich schlief wie ein Stein und erwachte erst gegen Mittag in einer seltsamen Hochstimmung. Mir war, als wäre eine steinschwere Last von meinem Herzen genommen worden. Ich kleidete mich an und tappte auf wackligen Beinen in Julians Arbeitszimmer. Er saß am Schreibtisch und las einen Brief. Seine Brauen waren finster gerunzelt, und sein Kinn zeigte eine unerbittlich harte Linie. Ich räusperte mich und klopfte sacht an den Türrahmen. Er blickte auf. Ich erschrak vor der fernen Kälte in seinen Augen. Er schien sternenweit fort zu sein.
»Elloran«, sagte er schließlich. »Warum liegst du nicht in deinem Bett?« Seine grimmige Miene glättete sich, aber die Spannung blieb in seinen Zügen und verlieh ihnen etwas Verkniffenes. Ich stotterte eine Entschuldigung und drückte mich wieder aus dem Raum. Seine strenge Stimme hielt mich zurück: »Hast du deine Medizin genommen, Neffe?« Ich verneinte verlegen, und er sah mich mißmutig an. »Dann aber bitte sofort! Falls du Hunger hast: In der Küche ist etwas für dich gerichtet.« Ich nickte und machte, daß ich hinauskam.
In der großen, steingefliesten Küche stand ein zugedecktes Tablett mit liebevoll belegten Broten und kaltem Braten. Ich nahm es mir, und dazu einen Krug Apfelwein und ging damit hinaus in den Garten. Unter dem Fliederbusch, der die ersten zarten Ansätze von Blütenknospen zeigte, verputzte ich mein Essen und schluckte dann wie verordnet mit Todesverachtung und einem tüchtigen Schluck Apfelwein drei von den winzigen Kügelchen. Julian hatte nicht gelogen, sie schmeckten wirklich nach nichts. Ich seufzte satt und voller Behagen und rauchte Glück, bis Julian mich hereinrief.
»Hast du über unser Gespräch nachdenken können?« fragte er ohne Einleitung. Ich wunderte mich über seinen harschen Ton. Er saß hinter dem Schreibtisch, in seinen dunklen Samtmantel eingehüllt, als sei tiefster Winter und sah grüblerisch auf seine langen, weißen Hände hinunter, die ineinander verschränkt auf der Tischplatte lagen. Ich zögerte und sortierte meine Gedanken. Julian wartete nicht auf meine Antwort, sondern fuhr nach einem Augenblick fort: »Wir werden zur Kronenburg reisen, sobald du dich kräftig genug für den Ritt fühlst. Ich habe Nachrichten aus S'aavara, die eine Beschleunigung unserer Tätigkeiten erfordern.« Ich folgte mühsam seinen Worten.
»Du m-meinst ...«, begann ich schwerfällig. Er ließ mich nicht ausreden.
»Wir werden dich tarnen, damit du nicht schon der ersten Patrouille in die Hände fällst. In die Burg hinein gelangst du mit meiner Hilfe. Was das weitere Vorgehen betrifft ...« Er sah mich scharf an. Seine grünen Augen strahlten in einem unirdischen Feuer. Ich starrte gebannt hinein.
»Vertraust du mir?« fragte er. Ich nickte heftig. »Würdest du tun, was ich von dir verlange, ohne Fragen zu stellen?« Er hob seine knochige Hand und gebot mir Schweigen. »Ich will jetzt keine Antwort von dir, Elloran. Ich werde dir diese Frage später noch einmal stellen. Du sollst nur wissen, daß alles, was ich unternehme, zu unser beider Wohl ist, auch wenn dir manches vielleicht unverständlich erscheinen mag. Ich brauche dein Vertrauen in dieser Angelegenheit, sonst werden wir kläglich scheitern!«
Die Dringlichkeit seiner Worte ging mir durch und durch. Wenn mein Kopf doch nur etwas klarer gewesen wäre! Beunruhigt leckte ich mir über die Lippen und flüsterte: »W-was immer du tust, Julian, ich folge dir. Wem sonst s-sollte ich vertrauen?«
Sein Blick erwärmte sich, und er lächelte ein schmales Lächeln. »Das ehrt mich, Neffe. Ich danke dir dafür. Jetzt sei so gut und werde schnell gesund, die Zeit drängt.«
Ich bemühte mich, so weit das in meiner Hand lag, zu tun, was er verlangt hatte. Seine Behandlung zeigte deutlich Wirkung, er hatte mir nicht zuviel versprochen. Mein Zustand besserte sich in den nächsten Tagen schnell, und ich bemerkte eigentlich jetzt erst, wie elend es mir seit Beginn des Winters gegangen war. Mein Körper kräftigte sich zusehends. Ich fühlte mich besser als seit etlichen Neunwochen. Einzig die leichte Benommenheit, die ich auf das Glückskraut zurückführte, wollte nicht weichen. Ich hatte meinen Verbrauch zwar inzwischen stark eingeschränkt, aber ganz davon lassen mochte ich auch nicht, lieber nahm ich in Kauf, etwas langsamer zu denken.
Meine Schwester suchte mich seit der Nacht in Julians Keller nicht mehr heim. Vielleicht hatte ich ihre Erscheinung auch nur dem Traumstaub zu verdanken gehabt. Trotzdem verfolgte mich manchmal noch ihre letzte Frage. Was konnte es für mich zu bedeuten haben, daß es sie nicht wirklich gab? Es war doch eigentlich nur ein Beweis für eine Heimsuchung, die anscheinend jetzt endlich beendet war. Auch meine anderen, ständig wiederkehrenden Alpträume waren fort. Ich schlief nun jede Nacht traumlos und tief und wachte jeden Morgen erholter auf.
An einem gewitterschwülen Tag in der Siebtwoche des Frühlings war Julian auffällig reizbarer Laune. Mittags hatte er eine Unterredung mit seinen Hauptleuten geführt, die sehr hitzig verlaufen war. Ich hielt mich im Garten auf und hörte erregte Stimmen aus Julians Arbeitszimmer dringen. Wenig später rief er mich zu sich. Ich setzte mich steif in den Lehnstuhl neben dem kalten Kamin und sah ihm zu, wie er im Arbeitszimmer auf- und ablief.
»Wie fühlst du dich?« fragte er ohne lange Einleitung. »Meinst du, wir können in zwei oder drei Tagen losreiten?« Ich schnappte nach Luft. Die Reise zur Kronenburg hatte die ganze Zeit wie eine düster dräuende Wolke über meinem Kopf gehangen, und ich hatte mir alle Mühe gegeben, nicht daran zu denken.
»Meinetwegen«, sagte ich mit belegter Stimme. Es klang wenig begeistert. Er blieb stehen und funkelte mich an. Dann nahm er seine Wanderung wieder auf.
»Vorher habe ich hier noch eine Sache zu erledigen«, führte er grimmig aus. »Das Blaue Viertel ist in Aufruhr. Meine Hauptleute schaffen es anscheinend nicht, die Sache alleine in den Griff zu bekommen.« Er hieb aufgebracht seine Faust in die Handfläche.
»Wenn man nicht alles selber macht ...«, fluchte er. Ich mußte lachen. Genau das hatte Karas auch immer gesagt, und in fast dem gleichen Ton.
Er kniff die Lippen zusammen und überlegte. »Du kommst mit«, murmelte er dann. »Das ist eine gute Gelegenheit, deine Tarnung zu überprüfen – es werden sicherlich genügend Leute dort sein, die dich kennen.« Ich sah ihn fragend an.
»W-wohin soll ich mitkommen?«
»Morgen abend ist eine Versammlung der rebellischen Elemente im Blauen Viertel. Ich habe eine ›Einladung‹ dazu bekommen.« Er lachte böse auf. »Ich werde mit Erman und Filip hingehen, und du kommst auch mit. Vorher müssen wir dich allerdings ein wenig herrichten.«
Er verriet mir nicht, was er damit meinte, das sollte ich erst am nächsten Tag erfahren. Julian rief mich in sein Arbeitszimmer, zog die Vorhänge zu und stellte einige Kerzen auf den Tisch. Dann nahm er meine Hände und sah mich durchdringend an.
»Du vertraust mir?« fragte er leise. Ich nickte nur stumm. Er lächelte kurz und legte mir eine Hand über die Augen. In meinen Ohren klingelte es, und leichter Schwindel ergriff mich. Meine Hände begannen zu kribbeln. Weiche Vogelschwingen strichen über mein Gesicht. Es kitzelte, und ich mußte mich beherrschen, um nicht zu lachen. Julian ließ seine Hand sinken und betrachtete mich kritisch.
»Nicht übel«, sagte er zufrieden. »Schau mal.« Er hielt mir einen kleinen Handspiegel vor, und ich starrte voller Erstaunen hinein. Ein grobes, bärtiges Gesicht mit einer Hakennase und engstehenden hellblauen Augen blickte mich entsetzt an. Ich griff mit den Händen an meinen Kopf und sah, wie mein Spiegelbild über den blonden Bart und die strähnigen, hellen Haare fuhr.
»Ach du m-meine Güte«, flüsterte ich erschreckt. Schmale Lippen formten dieselben Worte. Ich sah an mir herab und erblickte einen grobknochigen, derb gekleideten Körper, der einem nicht mehr ganz jungen Söldner oder Seemann zu gehören schien. Julian lachte über mein Entsetzen und bewegte seine Hände. Mit einem erleichterten Seufzer sah ich wieder mein gewohntes Spiegelbild vor mir erscheinen.
»Ich habe es dir nur gezeigt, damit du weißt, wie dich von nun an die anderen sehen«, erläuterte er. »Für jeden, außer mir und dir selbst, besitzt du nun das Äußere, das ich dir gerade im Spiegel gezeigt habe. Du brauchst auch noch einen Namen, laß sehen«, er überlegte kurz. »›Ellis‹ wäre nicht schlecht. Du mußt schließlich auch darauf reagieren. Gut, Ellis, gehen wir.«
Ich folgte ihm auf die Straße, wo Erman mit einem von Julians Leuten, Filip, bereits auf uns wartete. Julian stellte mich kurz als ›Ellis‹ vor, und ich erntete einen mißtrauischen Blick von Erman. Er schien mich wahrhaftig nicht zu erkennen. Filip, ein grobschlächtiger, beschränkt wirkender Klotz von Mann, nickte nur und brummte gleichmütig.
Wir gingen zu Fuß durch den nieselnden Regen zum Blauen Viertel. Unser Ziel war eine Schenke in der Nähe des Hafens, die ich einmal mit Daron besucht hatte. Die Straße vor der Schenke war menschenleer und dunkel. Julian gab Filip und mir ein Zeichen zu warten und machte in Ermans Begleitung einen kurzen Rundgang über den finsteren Hinterhof und die Seitenstraße, an die die Außenwand des Gebäudes grenzte. Kurz darauf kehrten sie zurück. Erman knurrte: »Ein Ausgang auf den Hof hinaus. Wahrscheinlich führt er zum Hinterzimmer. Sollten wir im Auge behalten.« Filip nickte. Julian machte eine befehlende Kopfbewegung, und wir traten ein. Der Schankraum war schwach besucht und düster. Julian ging zum Tresen, wechselte einige Worte mit dem gedrungenen Wirt und winkte uns dann, ihm in den hinteren Teil des Gebäudes zu folgen.
Das Hinterzimmer war dunkel und schmuddelig und führte, wie Erman vermutet hatte, zu dem engen Hinterhof hinaus. Julian wies uns stumm an, uns neben der Hoftür zu postieren und blickte dann in die Runde. Die Gruppe von Menschen, die sich hier um einen großen Tisch versammelt hatte, war bei unserem Eintreten verstummt und starrte uns feindselig an. Ich erkannte einige meiner früheren Kollegen, darunter den grimmig dreinschauenden Daron und Katarins Freundin Jannin. Katarin selbst war nicht anwesend, was mich zugleich erleichterte und beunruhigte. Ich sah Daron geradewegs ins Gesicht, weil er der Tür genau gegenübersaß, und er musterte mich gleichgültig und ein wenig verächtlich. Er erkannte mich wirklich nicht.
Julian hatte am Tisch Platz genommen und faltete gelassen seine Hände. Die Gesichter der Versammelten wandten sich ihm zu, und ich las nichts Gutes in ihren Augen. Es herrschte unheilvolles Schweigen, das der Magier schließlich brach.
»Nun, ihr habt mich hierhergebeten, um mit mir etwas zu besprechen? Ich höre.«
Jannin räusperte sich und kam gleich zur Sache. »Ruud, das Blaue Viertel ist nicht länger gewillt, Abgaben an dich zu entrichten. Zudem sind wir der Meinung, daß der Krone über dein verbrecherisches Tun berichtet werden muß. Ein Bote mit unserem Bericht ist bereits zur Kronstadt unterwegs. Du kannst es dir also sparen, uns weiter zu bedrohen oder einzuschüchtern. Dein Spiel ist vorbei.«
Die anderen tuschelten beifällig und sahen Julian haßerfüllt an. Der lächelte verhalten und hob in einer fragenden Geste die Hände. »Das ist ja recht interessant«, sagte er mild. »Aber warum erzählt ihr mir das überhaupt, statt in aller Ruhe abzuwarten, bis die Garde der Krone kommt und mich verhaftet?«
Jetzt ergriff Daron mit zornbebender Stimme das Wort: »Um dir zu zeigen, daß es keinen Sinn mehr hat, wenn du uns weiter deine Mörder auf den Hals schickst! Und um dir eine Chance zu geben, wenigstens eine deiner Untaten wiedergutzumachen. Wo ist Katarin, was hast du mit ihr getan?«
Julian zog die Brauen hoch und zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich wissen, wo sich euresgleichen so herumtreibt?« fragte er spöttisch. »Ich halte sie nicht bei mir zu Hause versteckt, wenn ihr das meint. Die kleine Hure ist ganz und gar nicht mein Typ. Vielleicht war sie unvorsichtig und ist ins Hafenbecken gefallen.« Daron sprang wutentbrannt auf und verfluchte Julian mit überschnappender Stimme. Seine Freunde riefen erregt durcheinander.
Julian saß in dem Trubel und wirkte völlig gelassen. Ich bemerkte, daß Erman neben mir seine Haltung änderte. Er stand plötzlich sprungbereit da, mit wachsamem Blick auf den Tisch und halb zur Tür gewandt. Was dann geschah, passierte so schnell, daß weder Erman noch Filip rechtzeitig eingreifen konnten. Ein Messer blitzte auf und nagelte Julians rechte Hand auf den Tisch. Er schrie heiser und überrascht und richtete sich auf, um sich zu befreien. Im selben Augenblick hatte schon ein anderer Angreifer zu seiner Waffe gegriffen und zugestoßen. Julian riß seine blutüberströmte Hand vom Tisch los und tastete hilflos nach dem Dolch, der bis zum Heft in seinem Rücken steckte. Ich sah noch seinen brechenden Blick und den blutigen Schaum auf seinen Lippen, als er über dem Tisch zusammenbrach, bevor eine kräftige Hand mich beim Kragen packte und zur Hintertür hinausschleuderte. Ich sträubte mich gegen Ermans brutalen Griff, aber er trieb mich unbarmherzig vor sich her über den regennassen Hof.
»Nun beweg dich schon«, fluchte er, »oder legst du Wert auf ein paar Zentimeter Stahl zwischen den Rippen?« Er blieb stehen und sah sich um. Filip hatte hinter uns die Tür verrammelt und rollte ein schweres Faß davor. Aus dem Hinterzimmer drang lautes Geschrei.
»Ihr Götter, w-was ist mit Julian!« jammerte ich entsetzt.
»Halt den Mund«, zischte Erman. Er hatte sich hoch aufgerichtet und hob die Hände. Filip nahm die Beine in die Hand und rannte auf uns zu. Erman zischte gebieterisch einige zungenbrechende Silben. Ich sah hinter der schmutzstarrenden Fensterscheibe einen weißblauen Lichtblitz aufzucken. Ein ohrenbetäubender Knall dröhnte aus dem Hinterzimmer, Stimmen kreischten in höchster Todesangst und verstummten plötzlich.
»Weg hier!« herrschte Erman. Filip rannte schon wie ein Hase durch die Pfützen. Ich stand wie versteinert und starrte geblendet auf den seltsam blau und grün gefärbten Feuerschein, der aus dem Gebäude drang.
»Aber Julian ...« Er packte mich und zerrte mich mit sich.
»Kein Streit«, keuchte er. »Gleich haben wir die gesamte Stadtgarde auf dem Hals.« Wir bogen um ein paar Ecken und hetzten durch das verwinkelte Gebiet zwischen dem Hafen und dem ältesten Teil Havens. Filip war nirgends mehr zu sehen.
Einige Minuten später hielten wir an und lauschten. Keine Stimmen, keine Rufe, keine Laufgeräusche, die auf Verfolger deuteten. Erman wischte sich keuchend mit dem Ärmel über das Gesicht und beugte sich vor, um wieder zu Atem zu kommen. Ich ging in die Hocke und legte mein Gesicht in die Hände. Das Nachbild des magischen Blitzschlags zitterte noch immer vor meinen Augen. Ich wagte nicht, mir auszumalen, was mit den Menschen in diesem Raum geschehen war. Und Julian – ich schluchzte heftig auf.
»Fehlt dir etwas, Ell?« fragte Julian. Ich hob mit einem Schrei meinen Kopf und starrte ihn fassungslos an. Er stand da, wo eben noch Erman um Luft gerungen hatte, und lächelte spöttisch.
»Julian?« Ich rappelte mich auf und faßte mit aller Vorsicht nach seinem Arm, fast sicher, ich würde durch ihn hindurchgreifen. Aber meine Hand landete sicher auf dem feuchten dunklen Stoff seines Ärmels, und darunter befanden sich unzweifelhaft warmes Fleisch und ein klopfender Puls. Wie konnte Julian nur vor mir stehen? Ich fand keine Erklärung dafür. Er hatte am Tisch gesessen und war vor meinen Augen getötet worden, und Erman, der die ganze Zeit über neben mir gestanden hatte, war mit mir auf den Hof geflüchtet. Dann hatte der magische Blitz das Hinterzimmer getroffen und sicherlich alle vernichtet, die sich in ihm aufgehalten hatten. Wie also hatte Julian sich retten können, und wo war sein Hauptmann geblieben?
»Wenn du mich genug angestarrt hast, gehen wir ganz gemütlich nach Hause, zwei unbescholtene Bürger, die einen kleinen Abendspaziergang gemacht haben«, unterbrach Julian meine fruchtlose Grübelei. Ich stand schreckensstarr da. Er griff beruhigend nach meiner Schulter. »Zieh nicht so ein Gesicht, Ell. Ich bin nicht tot – was man von dem armen Erman und einigen anderen nicht behaupten kann. Ich erkläre dir alles, wenn wir zu Hause sind, einverstanden?«
Unser schweigender Weg durch die dunklen Gassen von Sturmhaven schmeckte nach meinen Alpträumen. Ich sah immer wieder unsicher zu dem Magier hin, der mit zusammengepreßten Lippen neben mir herschritt, den Mantel eng um seine schlanke Figur geschlungen. Halb und halb war ich darauf gefaßt, daß er sich entweder jeden Augenblick in Luft auflösen oder in irgend etwas unsagbar Grauenhaftes verwandeln würde. Wenn sich jetzt vor uns der Boden aufgetan und Dämonen uns in die WeltUnten gezogen hätten, hätte es mich nicht weiter verwundert.
Statt dessen gelangten wir unbehelligt nach Hause. Julian entzündete mit einer beiläufigen Bewegung das Feuer im Kamin des vorderen Zimmers und verschwand mit dem gemurmelten Hinweis, er sei gleich wieder da, in seinen Gemächern. Ich kauerte mich vor das Feuer und rauchte, um meine flatternden Nerven zu beruhigen. Julian kehrte zurück, in seinen Hausmantel gehüllt und setzte sich mit einem Krug Wein in der Hand zu mir.
Ich legte meine Hände um den Becher, den er mir reichte, und blickte ihn furchtsam an. Er erwiderte meinen Blick mit einem aufmunternden Lächeln und prostete mir zu.
»W-wie hast du das gemacht?« faßte ich mir ein Herz.
Er streckte aufseufzend die Beine aus und rutschte tiefer in seinen Sessel. »Ich habe mit Erman getauscht. Das ist nichts anderes als die Gestaltwandlung, die ich an dir vollzogen habe«, erklärte er müde.
»Tut mir leid, wenn ich dich damit erschreckt haben sollte. Ich hatte ein ungutes Gefühl bei diesem Treffen und wollte auf Nummer Sicher gehen.« Er trank und unterdrückte ein Gähnen.
Ich saß da und war sprachlos. »Und Erman?« fragte ich mühsam. Er hob die Schultern. »Die anderen in d-dem Zimmer?« bohrte ich weiter. »Daron und Jannin und alle die anderen?« Er schwieg. »Oh, b-bei allen Geistern«, hauchte ich, von Entsetzen geschüttelt. »Ist dir das denn völlig gleichgültig, Julian?«
Sein abgewandtes Gesicht war versteinert, und seine Hände krampften sich um den Becher, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Sie haben versucht, mich zu töten. Es tut mir leid, daß es so gekommen ist, aber ich mußte mich schützen. Erman – das gehört zum Berufsrisiko. Er wußte, daß es für ihn gefährlich werden konnte.« Die Gefühllosigkeit in seiner Stimme erschreckte mich zu Tode. Er wandte mir sein Gesicht zu und starrte mir in die Augen. Das grüne Feuer in ihnen lähmte mich und schmolz meinen plötzlichen Widerwillen gegen den Magier. Seine steinerne Miene erweichte. Er streckte mir seine Hand entgegen. Zögernd ergriff ich sie und erwiderte ihren Druck.
»Ich hatte keine Wahl, Elloran.« Jetzt hörte ich die Qual, die in seiner gelassenen Stimme mitschwang. »Wir haben eine große Aufgabe, für die auch schmerzliche Opfer gebracht werden müssen. Das verstehst du doch?« Ich nickte betäubt. Er lächelte erleichtert. »Du vertraust mir noch, Neffe?« Ich nickte wieder, diesmal etwas lebhafter. Der Druck seiner Hand verstärkte sich leicht, dann ließ er mich los. Er schenkte mir meinen Becher voll und fragte voller Besorgnis, ob ich auch meine Medizin genommen hätte. Ich griff eilig nach der kleinen Dose und warf drei der Perlen in meinen Mund. Er sah mich wohlwollend an und streckte wieder seine langen Beine zum Feuer. Wir saßen noch eine Weile in friedlichem Schweigen da und tranken unseren Wein.
»Wann glaubst du, kannst du abreisen?« unterbrach er meine ziellos schweifenden Gedanken. Ich schrak zusammen und blickte ihn fragend an. Er trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne und schien nachzudenken.
»W-warum? Wollten wir nicht gemeinsam reiten?« stammelte ich.
Er schüttelte bedächtig den Kopf und sah nicht zu mir hin. Seine Finger trommelten einen schwierigen Rhythmus. »Ich kann hier jetzt nicht weg, nicht nach dem, was heute abend geschehen ist. Es wird sicherlich einige Unruhe entstehen, und ich muß mich in der Stadt sehen lassen, falls es Gerüchte über mein Ableben geben sollte. Der Wirt könnte uns große Unannehmlichkeiten bereiten. Er sah uns schließlich in das Hinterzimmer gehen, hat aber nicht bemerkt, daß wir es verlassen haben.« Er runzelte mißvergnügt die Stirn. »Außerdem muß ich einen Ersatz für Erman finden und ihn einweisen. Ich habe da eine, die schon halbwegs darauf vorbereitet ist, aber sie ist nicht in alle Einzelheiten eingeweiht ...« Er verstummte. »Verdammnis, das paßt mir wirklich nicht in den Kram«, murmelte er erbittert. »Gerade jetzt, da wichtigere Dinge anstehen! Ell, du mußt vorausreiten. Ich habe eine schnellere Möglichkeit, zu reisen, bei der ich aber leider keine Passagiere mitnehmen kann. Ich hole dich sicher ein, bis du die Kronstadt erreicht hast.«
Er sah mich beschwörend an. Ich schluckte und gab mein Einverständnis, und er wirkte sichtbar erleichtert. »Morgen dann?«
»M-morgen!«