18
Sturmhaven, an der südlichsten Spitze Raulikars, zwischen der S'aavara-See und dem Südozean gelegen, war die größte Hafenstadt der Kronstaaten und hatte in der Vergangenheit wohl am meisten unter der Piraterie S'aavaras und der Inselvölker zu leiden gehabt. S'aavara lag jenseits des Südozeans, aber doch so nah, daß man bei klarem Wetter von den Hügeln aus seine Küste als schmalen grauen Strich erkennen konnte. Sturmhaven war besser gegen feindliche Angriffe befestigt als die Kronstadt selber.
Gegen Abend ritt ich durch das nördliche Tor und lenkte mein Pferd etwas ratlos durch die nach Salzwasser und Fisch riechenden Gassen. Ich wollte mir zunächst eine Herberge suchen und morgen dann planmäßig damit beginnen, die Stadt zu durchkämmen. Wenn ich doch nur den Schimmer einer Ahnung gehabt hätte, wo ich mit meiner Suche beginnen sollte! Mir schwante, daß der Zeitraum von zehn Tagen dafür zu knapp gewählt war.
Ich durchquerte ein wenig vertrauenerweckend wirkendes Viertel und gelangte an einen kleinen runden Platz mit einem Brunnen in der Mitte. Dort saß ich erst einmal ab und tränkte mein Pferd, bevor ich mich auf eine steinerne Bank setzte und ermattet die seltsame Brunnenfigur betrachtete: einen riesigen Fisch, der auf seinem wasserspeienden Maul einen Raben balancierte. Das ungewisse Dämmerlicht des grauen Winterabends gaukelte mir sogar vor, daß der Vogel seine Flügel leicht bewegte.
»Und wie wäre es nun mit einer Begrüßung, wenn du mich lange genug angestarrt hast?« fragte Julians Stimme. Ich zuckte heftig zusammen. Magramanir flog von der Steinfigur auf und setzte sich auf mein Knie. Sie legte den Kopf schief und lachte.
»Na, du siehst ja toll aus, wolltest du es mal mit meiner Haarfarbe probieren?« spottete Julian. »Ich bin gerührt, Neffe.«
»O J-Julian, bitte. Ich b-bin nicht zum Scherzen aufgelegt«, rief ich ungehalten. »Ich bin hier, um Nikal zu f-finden.«
»Ja, sicher«, erwiderte der Zauberer ungeduldig. »Was glaubst du, was ich hier mache, Fische fangen? Ich denke, ich habe seine Spur gefunden. Du bist schon im richtigen Teil der Stadt gelandet, und jetzt suchst du besser nach einer Frau namens Katarin. Sie müßte dir weiterhelfen können.«
»W-wo, bitte, finde ich sie?« fragte ich müde.
»Komm mit. Zuerst müssen wir deinen Gaul unterbringen. Willst du ihn verkaufen?« Ich verneinte. »Gut, dann in einem Mietstall. Komm schon, Elloran.« Magramanir flog auf, und ich beeilte mich, in den Sattel zu kommen.
Der Stall, zu dem Julian mich führte, schien ordentlich und einigermaßen sauber zu sein. Ich ließ mein kleines Pferd schweren Herzens dort zurück, nachdem ich den größten Teil meiner schmalen Barschaft für seine Unterbringung hatte auf den Tisch legen müssen. Bedenklich starrte ich auf die wenigen Münzen, die ich noch besaß, und rechnete mir im Kopf aus, wie lange sie reichen mochten. Schon sehr bald würde ich zusehen müssen, daß ich mir etwas verdiente.
Magramanir kreischte ungeduldig, und ich schulterte mein Bündel und machte mich auf die Füße. Wir liefen ungefähr eine halbe Stunde durch die nächtlichen Gassen von Sturmhaven, dann hieß Julian mich anhalten.
»Dort drüben«, Magramanirs Schnabelspitze wies auf ein etwas heller erleuchtetes Sträßchen. Offenstehende Türen, aus denen Licht, Essensgerüche, Musik und laute Stimmen drangen, ließen auf zahlreiche Schenken und Garküchen schließen. Wir waren in der Nähe des Hafens, wahrscheinlich war dies eines der Viertel, wo die Seeleute ihre Heuer ließen. Magramanir pickte mich abschiednehmend ins Ohr und folgte dem verlockenden Fischgeruch. Ich strengte meine Augen an, um herauszufinden, wen sie gemeint hatte. Dann sah ich sie: Eine rundliche junge Frau mit langen, dunklen Locken stand neben einem angetrunken wirkenden Mann, der die weiten, salzbefleckten Hosen eines Seemanns trug. Sie schien irgend etwas mit ihm auszuhandeln. Ihre Stimmen wurden lauter, und ich hörte sie aufgebracht sagen: »Hör zu, Gav! Das ist der Tarif, das weißt du so gut wie ich, und wenn du ihn nicht zahlen kannst, dann hast du eben Pech gehabt. Außerdem bist du besoffen, und ich gehe nicht mit Besoffenen. Schon gar nicht an meinem freien Tag und mit Sicherheit nicht, wenn sie nicht zahlen wollen. Also verpiß dich endlich!«
Der Matrose fluchte, aber er kehrte zurück in die Taverne, vor der die beiden standen. Die Frau drehte sich um und fragte scharf: »Und du? Was glotzt du so?«
»Ich suche eine F-Frau namens Katarin. W-weißt du zufällig, wo ich sie finde?«
Sie musterte mich vom Kopf bis zu den Füßen und fragte zurück: »Und wer, bitte, will das wissen?« Ihr hübsches, rundes Gesicht blickte mißtrauisch.
»M-mein Name ist Elloran. Ich komme aus Corynn. Ein Freund h-hat mir geraten, nach Katarin zu fragen, wenn ich hier ank-komme.«
Ihre braunen Augen wurden etwas freundlicher. »Ich bin Katarin. Du suchst Arbeit?« Ich nickte ergeben. Mein Geld würde nicht mehr lange reichen. Wenn diese Frau Arbeit für mich hatte, um so besser. Sie nickte und musterte mich wieder. »Du bist T'svera, richtig?« Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern griff nach meinem Arm und zog mich in die nächste Schenke. »Komm, wir trinken einen Schluck. Hast du schon ein Quartier?« Wir setzten uns an einen blankgescheuerten Tisch, und sie bestellte zwei Becher Wein. Ich fragte nach einem Gericht ohne Fleisch und bekam von der Wirtin einen amüsierten Blick und etwas Brot mit Käse serviert.
»Ich b-bin vor zwei Stunden erst hier angekommen«, sagte ich. »Ich habe noch k-keinen Schlafplatz.«
Katarin trank einen ordentlichen Schluck von dem ordinären Rotwein und leckte sich über die Lippen. »Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben«, sagte sie. »Ich habe ein freies Zimmer, das ich dir vermieten kann.« Sie sah mich prüfend an. »Du bist sicher noch nicht lange dabei«, sagte sie. »Wie alt bist du? Fünfzehn?«
»Sechzehn«, antwortete ich und fragte mich, was sie mit ›dabeisein‹ meinte. »Ich w-werde in zwei Wochen s-siebzehn.«
»Gut. Wir haben hier nicht viele von deiner Sorte. T'svera sind sehr gefragt. Daron und Tomas wird ein bißchen Konkurrenz ganz gut tun, sie werden langsam zu frech. Weißt du, wie die Tarife sind?« Ich schüttelte den Kopf. Ich wäre schon dankbar gewesen, wenn ich nur gewußt hätte, worüber sie überhaupt sprach!
»Ein Krontaler pro Stunde und ein halber Goldych für eine ganze Wache. Das mag dir ein wenig überzogen erscheinen, aber die Kunden hier sind daran gewöhnt. Haven ist eben ein teures Pflaster.« Sie grinste. Mir schwante etwas.
»Ich suche j-jemanden«, sagte ich hastig. »Einen Freund, s-sein Name ist Nikal.« Sie hob gleichgültig die Schultern und trank ihren Becher aus. »Groß, g-größer als ich. Anfang fünfzig, grauhaarig. Kräftig, b-breite Schultern. Bauch.« Sie schüttelte den Kopf. »Er h-hat eine auffällige Narbe unter einem Auge. Drei parallele Schnitte, etwa so l-lang«, ich deutete mit den Fingern unter mein linkes Auge. Sie dachte nach.
»Vielleicht kann dir Daron helfen. Er hat einen Kunden mit einer ähnlichen Narbe, wenn ich mich nicht irre. Komm, trink aus, ich möchte gehen.« Sie legte das warme Tuch wieder um ihre molligen Schultern und rief der Wirtin einen Gruß zu.
Ich trabte hinter ihr her durch die Gasse. Wir kamen an einem flachsblonden, schmalhüftigen Jüngling vorbei, der verfroren an der Ecke stand. Katarin winkte ihm zu und rief: »Wie läuft das Geschäft, Daron?«
Er grinste gequält. »Grauenhaft, Kat. Ich mach gleich Feierabend, hab keine Lust, mir eine Lungenentzündung zu holen.«
»Hier ist ein Neuer; Elloran. Elloran, das ist Daron. Er ist auch T'svera.«
Der junge Mann trat heran und drückte meine Hand. Seine veilchenblauen Augen in dem unschuldigen Gesicht musterten mich eingehend. Dann grinste er und klopfte mir auf die Schulter. »Freut mich, dich kennenzulernen, Elloran. Kat versucht schon seit einigen Neunwochen, Tomas und mir Konkurrenz auf den Hals zu laden – sie hätte es schlechter treffen können.« Er blinzelte. »Keine Angst. Das Geschäft läuft meist ganz gut. Es gibt hier genügend Kundschaft für drei von unserer Sorte. Willkommen im Blauen Viertel.« Ich bedankte mich, und wir gingen weiter, den frierenden Daron hinter uns lassend. Als ich mich noch einmal zu ihm umdrehte, sah ich, wie er mit einem älteren, bürgerlich gekleideten Mann in den Hauseingang trat. Ich prustete unterdrückt. Da hatte Julian mir ja was Feines eingebrockt! Mir war völlig klar, daß er das mit Absicht getan hatte. Sein mehr als eigenartiger Sinn für Humor war mir jetzt schon lange genug bekannt, und trotzdem rannte ich immer wieder in die Fallen hinein, die er mir stellte.
»Da sind wir«, sagte Kat und öffnete eine Tür. Sie bewohnte ein winziges Häuschen, gerade mal drei kleine Zimmer und ein handtuchgroßer Hinterhof. Ich sah mich um und merkte mit einem Mal, wie müde ich war. Katarin zeigte mir mein Zimmer, und ich ließ mein Bündel auf den einzigen Stuhl fallen. Sie lehnte im Türrahmen und sah zu, wie ich meinen Umhang und meine Stiefel auszog.
»Magst du morgen mit mir zusammen frühstücken?« fragte sie. »Dabei kann ich dir noch ein bißchen was erklären. Oder willst du lieber in eine Garküche gehen?«
Ich schüttelte den Kopf und erklärte, daß mir ein gemeinsames Frühstück sehr recht sei. Ich hatte immer noch die Hoffnung, sie könnte mir helfen, Nikal ausfindig zu machen. Auf jeden Fall konnte ich jede Kleinigkeit brauchen, die sie mir mitteilen konnte. Sie wünschte mir eine gute Nacht und ging hinaus. Ich legte mich auf das schmale Bett und fühlte, wie ich heftig zu zittern begann. Ich setzte mich wieder auf und kramte eilig ein Stäbchen Glückskraut aus meinem Bündel. An die Wand gelehnt, inhalierte ich mit geschlossenen Augen den kühlen Rauch. Ich mußte meinen Vorrat unbedingt in den nächsten Tagen ergänzen; noch ein Grund, dringend Geld zu verdienen. Wahrscheinlich blieb mir wirklich nicht viel anderes übrig, als für Katarin zu arbeiten. Ich entzündete das zweite Blatt, rauchte es gemächlich zu Ende und rollte mich auf dem Bett zusammen. Der Schlaf kam endlich auf leisen Füßen und küßte mich sanft auf die schweren Augenlider.
»Aufstehen, das Frühstück ist fertig«, weckte mich Katarins fröhliche Stimme. Ich schaufelte mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht und trat in das Nebenzimmer mit dem gemütlich vor sich hinbullernden Herd. Katarin, in einen bequemen Morgenrock gehüllt, stellte gerade eine Kanne auf den Tisch und rückte sich dann den Stuhl zurecht.
»Guten Morgen«, wünschte ich und ließ mich auf den anderen Stuhl sinken. Sie lächelte und schenkte Tee ein. Ihre gelockten Haare hingen genauso ungekämmt vor ihrem Gesicht wie meine eigenen. Ich zuckte immer noch zusammen, wenn eine dieser pechschwarzen Strähnen in meinem Blickfeld auftauchte. Es würde sicher noch einige Zeit brauchen, bis ich mich daran gewöhnt hatte.
Sie legte die Hände um ihren Becher und ließ den Dampf in ihr Gesicht steigen. »AI«, sagte sie wohlig und dehnte die Schultern in dem warmen Schlafrock. Ich nahm mir ein Stück Käse und etwas Brot und blickte begehrlich auf den geräucherten Speck, der vor mir auf dem Tisch lag.
»Nimm dir ruhig«, sagte sie, als sie meinen Blick sah. Ich schüttelte den Kopf und lehnte seufzend ab. Sie schnitt sich ein ordentliches Stück davon herunter und sah mich kauend an.
»Wir gehen gleich los, und ich zeige dir deinen Platz.« Sie griff nach der Teekanne. »Dann werfen wir Daron aus dem Bett und machen einen Ausflug ins Badehaus. Ich will dir ohnehin das Viertel zeigen, da ist das Badehaus bei dem ekligen Wetter ein guter Anfang. Dort kannst du im übrigen auch ganz gut Kundschaft finden.«
Sie schenkte mir nach, ich dankte ihr und fragte: »Du meintest g-gestern, Daron könnte Nikal kennen? D-den Mann, den ich suche?«
»Gut möglich. Daron kennt jeden. Was für Vorlieben hat dieser Nikal? Mag er nur T'svera oder steht er auch noch auf was anderes?« Ich errötete, und sie sah mich fragend an. »Was ist? Ist er kein Kunde von dir? Ein Freund?«
»Ein Freund«, wiederholte ich erstickt. »Ein guter, alter F-Freund. Nichts weiter.« Sie grinste ungläubig und nahm noch ein Stück von dem Speck. »Katarin, w-wo kann ich hier Glück kaufen?«
Sie runzelte die Stirn. »Rauchst du etwa dieses Mistzeug? Für einen Nebelkopf hätte ich dich eigentlich nicht gehalten. Na gut, geht mich ja nichts an. Tomas kann dir sicher was verkaufen, sie hat immer einen Vorrat davon. Laß dir von ihr aber nicht mehr als einen Krontaler für das Päckchen abknöpfen, hörst du?«
›Mein Platz‹ war in der Gasse, wo ich Katarin gestern kennengelernt hatte; am entgegengesetzten Ende von Darons Ecke. Katarin sah sich sehr zufrieden um und sagte: »Das ist ein guter Platz, Elloran. Du wirst sehen, ich bescheiße dich nicht. Neben dir steht Jannin, ihr werdet euch gut verstehen. Wenn du irgendwelche Fragen hast, wende dich ruhig an sie. Sie ist fast so lange hier wie ich – und so etwas wie meine Hand.« Sie kicherte und zog mich weiter.
Daron öffnete auf ihr Klopfen und winkte uns gähnend hinein. Sein Zimmer wirkte dunkel und kalt, er selbst schien gerade erst aus dem zerwühlten Bett aufgestanden zu sein. »Setzt euch irgendwo hin, ich komme sofort.« Er ging durch die Hintertür hinaus in den Hof. Ich sah mich etwas hilflos in der spärlich möblierten, unordentlichen Kammer um und hockte mich dann neben Katarin aufs Bett. Sie legte sich zurück und rief: »Daron, wir wollten ins Badehaus. Kommst du mit?«
»Ha?« erschallte es aus dem Hof.
»Badehaus«, brüllte sie. »Mitkommen?«
»Jaha!« Sein Kopf mit den kurzen, blonden Locken blickte um den Türrahmen. »Dann kann ich mir ja die Tortur unter der Pumpe sparen. Ich zieh mir nur eben was an.« Das erschien mir nicht unklug. Im Augenblick trug er jedenfalls nur eine bläuliche Gänsehaut am Leib.
Wenig später hockten wir zu dritt in einem Zuber mit kochendheißem Wasser und schwitzten uns die Winterkälte aus den Knochen. Daron war rot wie ein gekochter Krebs, und ich schielte ängstlich auf meine Haare, die im Wasser schwammen. Aber die Farbe schien zu halten. Katarin starrte mich schon die ganze Zeit merkwürdig an.
»Du hast mir gar nicht gesagt, daß das dein Gebiet ist«, sagte sie ein wenig verschnupft und strich über eine Narbe auf meiner Brust.
Daron linste zu mir hinüber und lachte. »Er sieht schlimmer aus als Rolan, nicht? Dabei ist der sicher zehn Jahre älter. Wir müssen die beiden mal bekannt machen. Rolan ärgert sich bestimmt schwarz, wenn er Konkurrenz kriegt.« Er klang schadenfroh.
Katarin musterte mich noch immer. »Elloran, dafür bist du eigentlich noch ein bißchen jung. Wann hast du angefangen, mit zwölf, dreizehn? Und dann gleich auf die harte Tour?« Ich schwieg. Sie sah mich mitleidig an. »War es dein erster Kunde? Und du hast gedacht, es müßte so sein? Das passiert oft, Junge. Aber immerhin«, sie lachte, »dafür kannst du locker das Doppelte kassieren, nicht, Daron?« Er gluckste und tauchte unter. Katarin begann, sich mit einem rauhen Schwamm abzunibbeln, und ich beschloß, das Thema zu wechseln.
»Daron, kann ich d-dich etwas fragen?« Er nickte und schüttelte sich dabei das Wasser aus den Ohren. Ein Bademädchen kam und goß heißes Wasser nach. »Ich suche einen M-Mann, einen ehemaligen Söldner namens Nikal.« Ich wiederholte meine Beschreibung und fügte noch eine Einzelheit hinzu: »Er hat einen b-böse vernarbten Rücken.«
Katarin und Daron wechselten einen schnellen Blick. »Oje«, sagte Daron. »Sag bloß, das ist der Mensch, der dich so zugerichtet hat.«
Ich schüttelte hastig den Kopf. »Er ist ein alter Freund von m-mir. Ich suche ihn, w-weil ich ihm eine Nachricht bringen soll.«
»Ich denke, daß ich ihn kenne«, sagte Daron vorsichtig. »Er ist allerdings etwas seltsam. Gelinde gesagt. Wenn er der Mann ist, den du suchst, heißt das. Die Beschreibung trifft nicht ganz zu – aber diese Narbe unter dem Auge und der vernarbte Rücken, das paßt auf den Kunden, den ich meine.«
Katarin musterte ihre vom Wasser verschrumpelten Finger und sagte: »Kommt, Kinder, wir gehen noch eine Runde ins Dampfbad, mir kann es heute gar nicht warm genug werden!«
»Was meintest du eben mit ›etwas s-seltsam‹?« fragte ich Daron, als wir nebeneinander in den heißen Nebelschwaden des Dampfraums hockten. Er antwortete nicht, sondern tauschte Blicke mit einem vierschrötigen jungen Mann mit schütterem Haar, der uns gegenüber saß.
»Ich sehe euch dann später«, murmelte er und ging zu dem Mann hinüber. Beide flüsterten miteinander, der Mann legte seinen Arm um Darons Hüften, und sie verließen das Dampfbad.
Katarin hatte sich wollüstig ausgestreckt und die Augen geschlossen. Schweiß perlte in großen Tropfen auf ihrer hellen Haut. Ich saß neben ihr und kaute auf meinem Daumennagel. Sie kitzelte mich mit ihrem großen Zeh an den Rippen.
»He, was ist?« fragte sie und leckte den Schweiß von ihrer Oberlippe. »Denkst du immer noch über diesen Nikal nach? Ich kenne eine Schenke, in der er verkehren könnte. Da kannst du dich nach ihm erkundigen. Moll, die Wirtin, ist sehr hilfsbereit.« Sie setzte sich auf und strich ihr feuchtes Haar zurück. Dann legte sie einen Arm um meine Schulter und fuhr sacht mit der Hand über meinen Bauch.
»Ich mag es, wenn ein Junge ein bißchen Fleisch auf den Knochen hat«, sagte sie nüchtern. »An dir holt man sich wenigstens keine blauen Flecken.« Sie lächelte mich an und tätschelte meinen Hintern.
»Keine Angst, Elloran. Ich rück dir schon nicht auf die Pelle. Obwohl ...«, sie grinste über meinen Gesichtsausdruck. »Na, in Ordnung. Aber wenn du es dir noch mal anders überlegen solltest – du weißt, wo ich wohne.« Sie stand auf und goß noch einen Schöpflöffel Wasser auf die heißen Steine. Es zischte, und dichte Schwaden stiegen auf.
»W-weißt du, was Daron gemeint hat?« fragte ich nach einer peinlichen Pause. Ich sah schemenhaft, wie sie die Schultern hob.
»Wenn das der Kunde von ihm ist, den ich meine, dann hat er mehr als nur einen kleinen Schaden«, sagte sie trocken. »Wie verrückt ist der Mensch, hinter dem du her bist?« Ich schluckte. »Er ist Söldner, hm?«
»Ja«, krächzte ich. Sie kicherte.
»Daron schwört Stein und Bein, daß er ein Mörder ist, oder noch etwas Schlimmeres. Wobei ich nicht genau weiß, was Daron unter ›noch etwas Schlimmeres‹ versteht. Er sagt, der Mann habe einmal versucht, ihn umzubringen. Er wäre wie ein Rasender auf ihn losgegangen, und er habe sich nur retten können, indem er splitternackt aus dem Fenster gesprungen sei.« Sie lachte. »Daron hat zwar eine blühende Phantasie, aber das geht über seine üblichen Geschichten schon ein bißchen hinaus. Irgendwas Wahres wird wohl dran sein.« Sie schüttelte sich und zog mich von der Bank. Wir traten hinaus in den Hof des Badehauses und schütteten uns gegenseitig das eisige Brunnenwasser über die dampfenden Körper.
»So, an die Arbeit, Katarin«, sagte sie vergnügt, als wir wieder auf der Straße standen. »Willst du auch schon loslegen, oder brauchst du eine Pause? Ich bin nach dem Badehaus immer munter wie ein Fohlen, aber ich weiß, daß die meisten sich danach lieber eine Runde aufs Ohr legen.« Ich räusperte mich verlegen.
»K-kannst du mir den Weg zu dieser Schenke beschreiben? Die mit der Wirtin n-namens Moll?« Sie seufzte.
»Junge, das scheint aber dringend zu sein. Na gut. Molls Schenke ist das Gelbe Segel in der Nebelgasse.« Sie beschrieb mir den Weg und trennte sich dann mit einem Winken von mir. Ich sah ihr nach, wie sie mit schnellen Schritten davonstapfte, wobei die weiten Röcke unternehmungslustig um ihre kräftigen Beine schwangen.
Das Gelbe Segel gehörte anscheinend zu denjenigen Schenken, die rund um die Uhr geöffnet waren. Ich setzte mich in die Nähe der Theke, hinter der eine mütterlich wirkende kleine Frau herumwerkte. Die Schankmaid fragte mich nach meinen Wünschen, und ich bestellte ein Mittagessen – ohne Fleisch – und einen Becher Tee. Meine Bestellung kam, und ich kaute lustlos auf Brot und Käse herum. Jemaina konnte sich kaum vorstellen, was sie mir mit ihrem Diätplan angetan hatte. Ich schob das leere Holzbrett fort, gesättigt, aber nicht befriedigt, und ging zur Theke hinüber. Die Wirtin sah mich aus hellen Augen freundlich an und fragte: »Ja? Kann ich etwas für dich tun?«
Ich erklärte, daß Katarin mich schickte und sah, wie ihre Augenbrauen hochschossen.
»Bist du der Neue?« fragte sie neugierig. Ich nickte unbehaglich. Sie reichte mir eine rotgescheuerte Hand über den Tresen, und ich drückte sie herzlich. »Moll ist mein Name«, stellte sie sich vor. Ich murmelte meinen Namen. »Was kann ich für dich tun, Elloran? Komm, setzen wir uns da drüben hin. Hana, bring uns was zu trinken! Was möchtest du, ein Bier?« Ich lehnte dankend ab und bat um einen Becher Wasser. Sie lachte und gab die Bestellung an die Schankmaid weiter. Wir setzten uns an einen Tisch in der Ecke. Hana brachte mein Wasser und einen Krug Bier für Moll. Ich erklärte ihr, wen ich suchte, und sie starrte mich eine Zeitlang wortlos an. »Was willst du von dem?« fragte sie schließlich fast unfreundlich. Ich erklärte zum x-ten Mal an diesem Tag, daß Nikal ein alter Freund sei, und daß ich ihm eine Nachricht überbringen wolle. Sie nickte und kratzte sich am Kopf.
»Das ist einer meiner Gäste. Er kommt ziemlich regelmäßig hierher. Er macht mir eine Gänsehaut, Junge. Nicht, daß er randalieren würde, damit werde ich fertig. Aber er hat so was an sich ...« Sie schauderte. »Versuch es mal abends, ab dem dritten Wachwechsel. Vorher läßt er sich selten sehen.« Sie stand auf und blickte mich prüfend an. »Ein alter Freund, sagst du?« Sie zuckte mit den Achseln. »Komische Freunde hast du, mein Junge.«
Ich stand frierend an Leib und Seele auf der Straße vor dem Gelben Segel. Vielleicht wäre es gut, jetzt ›meinen Platz‹ aufzusuchen und etwas Geld zu verdienen. Ich fand die Stelle problemlos und wurde von einer schlanken, dunkelblonden Frau – vielleicht zehn Jahre älter als ich – gegrüßt. »Hallo, du bist der Neue, oder? Ich bin Jannin.« Wir reichten uns die Hände. »Viel Erfolg«, wünschte sie mir, und ich dankte mit einem Nicken. Sie schlenderte ein paar Schritte weiter und warf zwei verschüchtert aussehenden jungen Matrosen einen auffordernden Blick zu. Die beiden grinsten verlegen und winkten ab. Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter. Dann bog sie um die Ecke. Ich stand da und kam mir ziemlich blöd vor. Meine Füße wurden kalt, und ich stampfte ein paar Schritte die Straße hoch und wieder hinunter.
»Und, wie läuft's?« fragte sie. Ich verdrehte die Augen. Das hatte mir gerade noch gefehlt!
»Ich dachte, du redest nicht mehr mit mir«, erwiderte ich patzig.
Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und sah mich unbehaglich an. »Leonie hat mir ordentlich den Kopf gewaschen«, gab sie zu. »Aber ich nehme nichts zurück!« setzte sie eilig hinzu. »Du bist eine Pestbeule, Elloran, dabei bleibe ich!«
»Danke, gleichfalls«, schnappte ich. Sie lachte und zog an meinen Haaren.
»Bis bald«, flüsterte sie und huschte um die Ecke. Ich band ergrimmt mein Haar neu und drehte mich um. Einige Schritte entfernt stand ein großer, schlanker Mann in raulikarischer Uniform und betrachtete mich mit unverhohlenem Interesse. Ich gab mir einen Ruck und trat auf ihn zu. Wir wurden schnell handelseinig, und ich zeigte ihm den Weg zu dem kleinen Gästehaus, das Katarin mir für diesen Fall genannt hatte. »Laß dir das Geld immer im voraus geben«, hatte sie mir eingeschärft. »Sag, du mußt das Zimmer davon bezahlen. Du kriegst einen Teil der Zimmermiete hinterher von dem Portier zurück, der Laden gehört mir. Aber sieh zu, daß du deine Kunden dazu bringst, was zu trinken zu bestellen.«
Mit weichen Knien ging ich vor dem Soldaten die Treppe hinauf und öffnete die Zimmertür. Er sah sich um, brummte: »Sauber hier«, und fing an, sich zu entkleiden. Die nächste Stunde wurde unangenehm, aber dennoch weniger schlimm, als ich erwartet hatte. Ich würde mich schon irgendwie daran gewöhnen, so mein Geld zu verdienen. Als er fort war, wusch ich mich gründlicher als sonst, und ging dann hinunter, um meinen Teil der Zimmermiete wieder abzuholen. Der Portier, ein krummer, alter Mann, grinste mich zahnlückig an und schob mir die Pennychs über den Tresen. »Du bist Katarins Neuer, hä?« krächzte er. Ich nickte. Wenn mir heute noch einer diese Frage stellte, würde ich schreien.
Ich ging nicht zurück zu meiner Ecke, für den Anfang hatte ich die Nase voll. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und rauchte, bis ich den Kopf voller warmer Luft hatte, schlief bis zum dritten Wachwechsel und machte mich dann auf den Weg zum Gelben Segel.
Die Schenke war brechend voll, und ich eroberte nur mit Mühe einen Platz in der Nähe der Theke. Moll sah mich und kam an meinen Tisch.
»Er ist noch nicht hier«, sagte sie und wischte die roten Hände an ihrer Schürze ab. »Was darf ich dir bringen? Das Übliche?« Sie lachte, und ich grinste zurück. Die Schankmaid lachte auch. Es schien im Gelben Segel nicht häufig vorzukommen, daß jemand Wasser bestellte. Ich lehnte mich zurück und sah mich um. Ein recht buntgemischtes Völkchen verkehrte in dieser Schenke. Hier gab es offenbar nicht ausschließlich Hafenarbeiter und Matrosen, wie ich zuerst vermutet hatte. Die drei beleibten Männer dort in der Ecke zum Beispiel, die so überaus eifrig dem deftigen Essen zusprachen, waren sicherlich Kaufleute. Bei der bunten, lauten Truppe, die gerade so lautstark mit der Schankmaid Hana scherzte, mußte es sich um Gaukler oder Spielleute handeln. Tom hätte dort blendend hingepaßt. Nur Nikal ließ sich nicht sehen – wenn der Mann, den ich erwartete, überhaupt Nikal war. Vielleicht war Darons Kunde ja jemand völlig anderes, und ich mußte an einem anderen Ort nach meinem Freund suchen.
Ich leerte meinen Becher und stand auf, um mich an die Theke zu lehnen. Moll lächelte und schob mir einen neuen Becher hin. »Aber betrink dich nicht!« mahnte sie augenzwinkernd. Ich kicherte und schlürfte den würzigen Tee. Sie sah an mir vorbei und klopfte sacht auf meine Hand. »Sieh dich mal um. Ist er das?« Ich drehte mich um und suchte, wen sie gemeint haben könnte. Ein kleiner, dürrer Mann in den unauffälligen Kleidern eines Schreibers oder Kaufmannsgehilfen stand neben der Tür an einem Tisch und schien sich mit einem Kollegen zu streiten. In seiner Nähe stand ein hünenhafter, fettbäuchiger Hafenarbeiter mit fast kahlgeschorenem Kopf, feistem Stiernacken und muskelbepackten Armen und kniff die empört aufkreischende Schankmaid Hana in den Po. Ich sah ihn mir genauer an, aber er hatte sein Gesicht von mir abgewandt, so daß ich es nicht genau erkennen konnte. Von der Größe her hätte er es sein können, aber ich war mir nicht sicher.
Aufseufzend drehte ich mich wieder zur Theke und blickte in Nikals Gesicht. Ich erkannte ihn so deutlich, wie ich mich selbst erkannt haben würde. Er stand ein Stück von mir entfernt, in schäbiger, dunkler Kleidung, und hielt einen Krug in der Hand. Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Sein Haar war inzwischen vollständig weiß, und er hatte sich einen kurzgeschorenen grauen Bart stehen lassen. Seine Schultern wirkten etwas gebeugt, und er war schlank, fast hager. Sein Gesicht war zerfurcht und erschien verbittert, aber es war Nikals Gesicht, so sicher, wie der Tee in meinem Becher Tee war und kein Wein. Ich warf Moll einen aufgeregten Blick zu und nickte heftig.
Sie schob ihren Mund an mein Ohr und flüsterte: »Sprich ihn besser nicht an, Junge. Er ist in einer ganz gefährlichen Stimmung heute abend!«
Ich blieb wie festgenagelt an meinem Platz stehen und beobachtete Nikal, wie er stetig und konzentriert einen Krug nach dem anderen leerte. Endlich warf er wortlos einige Münzen auf die Theke und schob sich zum Ausgang, augenscheinlich nicht betrunkener als zuvor. Ich warf Moll einige Pennychs zu und beeilte mich, ihm zu folgen. »He, du mußt doch nicht ...«, hörte ich sie noch rufen, dann hatte ich mir meinen Weg gebahnt und stand auf der Straße, mich wild umblickend. Eine große, schlanke Gestalt bog gerade um die nächste Ecke. So leise und unauffällig wie möglich eilte ich hinterher. Vielleicht führte er mich zu seinem Quartier, wo ich ihn dann morgen aufsuchen konnte, wenn er wieder nüchtern war. Durch endlose dunkle Gassen und Straßen folgte ich ihm zu einem Viertel, das ich noch nicht kannte. Wieder bog er vor mir um eine Ecke. Ich folgte ihm und entdeckte, daß er verschwunden war. Die Gasse lag leer und dunkel vor mir, nichts bewegte sich, keine Schritte waren zu hören – Nikal hatte sich in Luft aufgelöst!
Ich fluchte unterdrückt und wandte mich um. In dem Augenblick schlang sich ein eisenharter Arm um meine Kehle, und ein Messer drückte sich schmerzhaft in meine Seite.
»Wer schickt dich«, flüsterte eine heisere Stimme an meinem Ohr. Schnapsgeschwängerter Atem strich über mein Gesicht. »Ruud?« Ich krächzte angsterfüllt. Er wechselte seinen Griff und drehte mich herum. Das Messer bedrohte jetzt meine Kehle. Kalte, helle Augen bohrten sich in meine.
»Nik«, ächzte ich. »Ich b-bin es. Elloran.« Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen in dem zerfurchten, wettergegerbten Gesicht. Er griff unsanft nach meinem Kinn und drehte meinen Kopf in das schwache Mondlicht der Großen Schwester. Sein Gesicht war unbarmherzig und böse.
»Was soll das!« zischte er. »Wer hat dir aufgetragen, das zu sagen?« Sichernd sah er sich um. »Komm mit.« Er drehte mir brutal den Arm auf den Rücken, daß ich vor Schmerzen aufschrie, und zerrte mich durch einen Hausflur in ein kahles Zimmer. Es erinnerte mich lebhaft und unangenehm an die Zelle in der Kronenburg, in der ich so lange gesteckt hatte. Er stieß mich zu Boden, bellte: »Rühr dich nicht vom Fleck!« und entzündete eine Öllampe. Ich rieb mir den Ellbogen, den ich mir schmerzhaft geprellt hatte und tat lieber, was er sagte.
Er zerrte mich unsanft hoch und drehte mich ins Licht. Ich stand zitternd da und wartete. Seine Augen wanderten über mein Gesicht, meine Haare, meinen Körper. Mir wurde bewußt, daß ich mich in den letzten beiden Jahren wahrscheinlich noch stärker verändert hatte als er. Er hatte ein dürres, rothaariges Kind auf Burg Salvok zurückgelassen und sah jetzt einen rundlichen jungen Menschen mit langen, rabenschwarzen Haaren vor sich. Kein Wunder, daß er mir nicht glaubte!
»Nik«, versuchte ich es noch einmal. »Ich bin es w-wirklich. Du mußt mir glauben! Ich habe n-nach dir gesucht.«
Er ließ die Hand mit dem gezückten Messer sinken und schüttelte ungläubig den Kopf. »Verdammt, die Augen sind es, und die Stimme auch«, flüsterte er. »Was ist das für ein Spiel?«
»K-kein Spiel, Nik. Ich bin Elloran, glaube m-mir doch bitte!« sagte ich flehend. Er ließ das Messer verschwinden – die Bewegung war so schnell, daß ich nicht einmal verfolgen konnte, wohin er es gesteckt hatte – und trat ganz nah zu mir. Seine Finger gruben sich wieder in mein Kinn, und er schob seinen Kopf ganz nah an mein Gesicht.
»Was ist mit deinen Haaren?« fragte er kalt.
»Gefärbt«, sagte ich schnell. »Ich werde v-verfolgt.« Er betrachtete mich noch einige Atemzüge lang aus der Nähe, dann nickte er und ließ mich los.
»Deine Wimpern haben die richtige Farbe«, sagte er. »Also gut, soweit glaube ich dir. Was willst du von mir?« Er setzte sich auf sein schmales Bett und zog seine Stiefel aus.
Ich schnappte nach Luft. So hatte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt.
»W-wir, ich, d-das heißt, doch eigentlich wir ...«, stammelte ich.
»Hör doch um der Götter willen auf zu stottern«, fauchte er. »Das macht einen ja ganz irre.«
»Ich k-kann nicht«, sagte ich verzweifelt. »Ich hatte einen Unfall, w-weißt du?« Neues Mißtrauen erwachte in seinem Gesicht. »Ich soll dich zu Quinn und G-Galen und den anderen b-bringen«, fuhr ich hastig fort. »Sie suchen dich schon seit Jahren, s-sagen sie.«
»Zu wem?« fragte er lauernd. »Ich weiß nicht, von wem du sprichst. Was soll das sein, eine Falle? Schickt dich nicht vielleicht doch Ruud?« Seine Hand glitt zum Gürtel. Meine Gedanken rasten.
»D-deine Narbe«, entfuhr mir. »Da, unter deinem Auge. Woher hast du d-die?« Ich hielt die Luft an. Das hat er mir nie vergeben, hatte Tom gesagt. Nikal zögerte und dachte nach. Die Falten in seinem zerquälten Gesicht vertieften sich noch mehr.
»Das – das war ein – eine Katze«, sagte er zögernd, fast fragend. Ich stieß die Luft aus.
»Ja, r-richtig«, sagte ich eindringlich. »Der Kater. Tom. S'TomCroQ'nan.« Ich zerbrach mir fast die Zunge an dem Namen. »Er gehört zu Omellis L-Leuten, zur Allianz!« Ich wartete atemlos.
Nikals Atem ging schwer und keuchend. »Der Kater«, stieß er hervor. »Die Schlangenfrau. Der verrückte Arzt.« Ich sah, wie seine Knöchel weiß hervortraten. »Die Frau mit einem Arm und zwei Köpfen. Der – der Wechsler ...« Er verstummte, und ich hörte nur noch sein Atmen. Mir schwindelte. Das waren die grotesken Figuren auf Leonies Spielbrett! Er hatte die Figuren beschrieben, aber woher kannte er sie?
Er ließ die Hände sinken und starrte mich an. »Was bist du?« fragte er heiser. »Ein Dämon aus der WeltUnten, der mich quälen soll?«
Ich spürte, daß mir die Tränen kamen. »Nik«, sagte ich aufschluchzend. »Nik, tu mir das nicht an!« Ich schlug die Hände vors Gesicht. Er stand auf, und etwas klirrte zu Boden. Seine Arme umfingen meine Schultern, und ich fand mich an seiner Brust wieder.
»Mein Kleiner«, sagte er verwundert, und zum ersten Mal an diesem Abend vernahm ich Nikals alte Stimme. »Mein Elloran.« Er drückte mich fest an sich, und ich schaute ihm ganz überrascht ins Gesicht. Es war, als hätte jemand ihn ausgetauscht. Der fremde, böse Ausdruck war aus seinen Augen verschwunden, sein Gesicht erschien jünger und etwas hilflos. Er sah mich an und strich erstaunt über meinen Kopf.
»Du mußt mir unbedingt erzählen, was mit deinen Haaren passiert ist«, sagte er. »Und warum, zum Henker, bist du so dick geworden? Paßt deine Mutter nicht mehr auf dich auf?« Ich schloß die Augen und begann zu zittern. Nicht jetzt, bei allen Geistern, nicht ausgerechnet jetzt! Ich kämpfte mich von ihm los und grub hektisch in meiner Tasche. Ein zerdrücktes Stäbchen fiel mir entgegen, und ich entzündete es hastig. Er sah mich fassungslos an, die Hände noch immer auf meinen Schultern.
»Ein Nebelkopf«, sagte er angewidert. »O ihr Götter, ein Nebelkopf!« Er spuckte aus.
»Immer noch b-besser als ein Säufer«, sagte ich bissig und wünschte mir sofort, ich hätte mein dummes Maul gehalten. Sein Gesicht verhärtete sich wieder. Er ließ mich los.
»Du solltest jetzt gehen«, knurrte er. »Ich habe einen harten Tag hinter mir und will ins Bett.« Wie zur Bekräftigung seiner Worte begann er, sein Lederwams aufzuschnüren. Ich rauchte mit unsicheren Fingern mein Glückskraut zu Ende. Er schälte sich aus dem Wams und zog das dicke Unterhemd über den Kopf. Sein gräßlich vernarbter Rücken erinnerte mich an einen kalten Frühlingstag in Salvok vor fast zwei Jahren.
»Wie b-bist du eigentlich aus der Stadt rausgekommen?« fragte ich, um mich davon abzulenken. Er drehte sich zu mir um, nacktes Unverständnis im Gesicht.
»Was für eine Stadt?«
»Die Z-Zaubererstadt«, erklärte ich geduldig. »Wo Julian dich h-hingebracht hat.«
»Ich weiß von keiner solchen Stadt«, erwiderte er stur.
»Wo warst du d-denn in den letzten beiden Jahren?«
»Hier. Wo sonst? Ich warte hier auf ... Hier ist der Treffpunkt von ...« Er stierte verwirrt auf seine Hände. Ich gab es auf. Katarin hatte recht, Nikal hatte mehr als nur einen kleinen Schaden. Er war verrückt wie ein olyssischer Igelvogel, und ich hatte die undankbare Aufgabe am Hals, ihn irgendwie aus dieser Stadt raus und zu unserem Treffpunkt zu schaffen. Ich stand auf und sagte zu dem Mann, der reglos vor mir stand und Löcher in die kahle Wand starrte: »Sehen wir uns m-morgen, Nik? Wo kann ich dich treffen?«
Er fuhr zusammen, als hätte er mich vollständig vergessen und murmelte: »Morgen. Ja. Du mußt mir erzählen ...« Seine Stimme verklang.
»Nik«, sagte ich ungeduldig. »Wo kann ich dich m-morgen treffen? Hier? Im Gelben Segel? W-woanders? Du mußt es nur sagen.«
Er rieb sich durchs Gesicht und sagte mit erstaunlich klarer Stimme: »Wir können uns im Gelben Segel treffen. Nach dem dritten Wachwechsel. Geht das?« Ich nickte und griff nach dem Türknauf.
»Elloran?« fragte er. Ich drehte mich um. Er sah mich an. Anscheinend wußte er nicht, was er sagen sollte. »Morgen«, sagte er hilflos. Ich nickte. »Morgen, Nik.«
Draußen lehnte ich mich für eine Minute an die Hauswand und grub zittrig nach meinem Glückskraut. Ich wünschte es in Brand und sog heftig daran. Ihr Götter, wie sollte ich das nur anstellen! Es hatte keinen Sinn, jetzt zum Galgenhügel zurückzukehren, die anderen waren auf dem Weg nach Osten. Ich mußte es in den nächsten Tagen irgendwie schaffen, Nikal so weit klar zu kriegen, daß er mir folgte, aber nur die Göttin wußte, wie mir das gelingen sollte! Entmutigt marschierte ich durch die feuchte Kälte in das Blaue Viertel zurück.
Katarin war auf den Beinen, anscheinend war sie auch gerade erst nach Hause gekommen. Sie sah nicht viel besser aus, als ich mich fühlte. »Auch noch einen Tee vor dem Schlafengehen?« fragte sie. Wir hockten am Tisch und schlürften das heiße Gebräu. »Wie war das Geschäft?« Ich holte stumm meinen Gewinn aus der Tasche und schob ihn ihr rüber. Sie starrte die Münzen an und sagte müde: »Ganz gut für das beschissene Wetter.« Sie schob das Geld zurück.
»Nimm dir d-deinen Teil«, forderte ich sie auf.
Sie riß die schweren Lider auf und sah mich verwirrt an. »Was meinst du? Deine Miete hast du doch gestern schon bezahlt.«
Jetzt war ich an der Reihe, verwirrt zu blicken. »Aber ich d-dachte, du bekommst einen Anteil davon. Ich arbeite doch f-für dich.«
Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Ach du lieber Himmel! Ist das so in Corynn? Elloran, ich verdiene doch an dir! Du gehst mit deinen Kunden in mein Gästehaus, du bezahlst dort Zimmermiete – gut, etwas weniger, als wir die Kunden glauben machen – und du versuchst, ihnen irgendein Getränk aufzuschwatzen. Daran verdiene ich schon genug, danke dir. Ansonsten bin ich nicht anders gestellt als du oder Daron oder Jannin. Ich sorge nur im allgemeinen Interesse dafür, daß hier im Viertel ein wenig Ordnung herrscht, das ist alles. Das könnte auch jeder von euch tun.« Sie gähnte und stand auf. »Hast du deinen Freund aufgetrieben?« fragte sie und begann, sich auszuziehen. Ich zog eine Grimasse und nickte. »Na, prima«, sagte sie. »Dann schlaf gut.« Sie schloß die Tür ihrer Kammer, und ich folgte ihrem Beispiel.
Ich stand erst am späten Mittag auf. Katarin hatte wie ich einen Blick zum Fenster hinausgeworfen, den trübfeuchten Nebel draußen gesehen und sich gleichfalls entschieden, im Bett zu bleiben. Bei unserem späten Frühstück fragte ich Katarin, wo ich Tomas finden könnte. Jemainas Vorräte waren aufgebraucht, und ich mußte mich nun wirklich dringend um Nachschub kümmern.
»Tomas«, sagte sie und klopfte nachdenklich gegen ihren Becher. »Warte mal, um diese Tageszeit müßte sie im Singenden Kamel sein. Wenn sie keine Kunden hat, heißt das. Aber bei dem Wetter ...« Sie schauderte und goß sich heißen Tee nach.
Ich blickte hinaus. »Bei mir zu H-Hause liegt um diese Jahreszeit meist r-richtig hoher Schnee«, sagte ich leise. »Seltsam, Salvok liegt doch eigentlich nicht s-so viel weiter nördlich.«
Katarin rekelte sich und schwieg. Das Thema reizte sie anscheinend nicht besonders. »Wie war das Treffen mit deinem Freund?« fragte sie.
»Unangen-nehm.«
»Ist er Darons verrückter Kunde?«
»Ja.«
Sie sah mich aufmerksam an und fragte nicht weiter, meine knappen Antworten hatten ihr wohl klar gemacht, daß ich nicht über mein Zusammentreffen mit Nikal reden wollte. Ich griff nach meinem Umhang und verabschiedete mich von ihr, um das Singende Kamel aufzusuchen.
Die neblige Luft verschlug mir fast den Atem. Ich zog den Saum meines Umhangs vor den Mund und arbeitete mich durch die fast mit Händen zu greifende Feuchtigkeit. Außer mir war kaum jemand in den Straßen unterwegs. Katarin hatte recht, lieber zu Hause zu bleiben.
Das Singende Kamel war ein heruntergekommener Schuppen unmittelbar am Hafen. Ein dilettantisch gemaltes Schild von einem gelbbraunen, höckrigen Tier mit weit geöffnetem Maul wies mir den Eingang. Ich stieß die Tür auf und blickte in einen schummrig erleuchteten Raum. Der Nebel, der draußen die Sicht auf einige wenige Schritte begrenzte, schien durchsichtig wie Brunnenwasser gegen die Rauchschwaden, die hier drinnen in der Luft hingen. Durch dichtgedrängte, ungewaschen riechende Leiber kämpfte ich mich zur Theke vor und fragte den feisten, kahlköpfigen Wirt nach Tomas. Der hörte nicht auf, einen Becher mit einem schmierigen Lappen zu bearbeiten und wies stumm mit dem Kinn auf einen Tisch in der Nähe.
Ich arbeitete mich dorthin vor und schaute eine Weile gefesselt zu. Eine fragile junge Frau mit einer verschlungen aufgetürmten Frisur und einem für diese Jahreszeit viel zu dünnen Fähnchen am Leib spielte gegen einen grobknochigen Seemann eine Variante des Kugelspiels. Ihre schlanken Finger mit den langen, schimmernd grün lackierten Nägeln bewegten die kleinen runden Spielsteine mit einer solchen Geschwindigkeit über die ausgehöhlten Kuhlen des Spielbrettes, daß ich kaum folgen konnte. Sie schüttelte die Würfel, warf sie über den Tisch und griff nach der letzten Handvoll der Kugeln. Sie verteilte sie flink auf ihrer Seite des Spielbrettes, klatschte in die Hände, daß die unzähligen Armreifen an ihren Handgelenken klirrten und sah ihren Spielpartner mit klimpernden Wimpern aus bernsteinfarbenen Augen an.
»Ich habe wieder gewonnen, Gust. Du schuldest mir jetzt einen halben Goldych!« Der Seemann griff knurrend in seine Tasche und warf die Münze auf den Tisch.
»Wenn ich nicht wüßte, daß man bei diesem Spiel nicht betrügen kann ...«, brummte er und erhob sich. »Du hast mir einfach zu viel Glück, Tomas. Ich bin pleite.«
»Schade.« Die T'svera nahm die Münze vom Tisch und ließ sie verschwinden. Sie blickte auf und sah, daß ich sie anstarrte. Ein breites Lächeln ging über ihr zartes Antlitz, und sie winkte mir zu.
»Du mußt Elloran sein. Daron hat dich gut beschrieben. Komm, setz dich zu mir. Hättest du Lust, eine Runde mit mir zu spielen?« Ich überschlug im Geiste meine Barschaft und lehnte dann bedauernd ab. Im Gegensatz zu Gust war ich nämlich ganz und gar nicht der Meinung, daß man bei diesem Spiel nicht betrügen konnte. Wenn man flinke Finger besaß, war das durchaus möglich – und daß Tomas die hatte, war deutlich zu bewundern gewesen. Ein Spiel mit ihr hätte sicherlich Spaß gemacht, aber ich konnte es mir einfach nicht leisten.
»Dann trinken wir was zusammen.« Sie winkte dem Schankburschen. Ehe ich protestieren konnte, stand ein Becher Bier vor mir.
»Tomas«, sagte ich nach einem vorsichtigen Schluck, »ich b-brauche Glück. Katarin meinte, du könntest mir was v-verkaufen.« Sie streckte sich wie eine Katze und blinzelte mich verschlafen an.
»Jaaa«, machte sie gedehnt und leckte sich über die Lippen. »Ich habe gerade eine Lieferung aus Rhûn bekommen.«
Ich zuckte zusammen und spürte, wie der Schweiß auf meine Stirn trat. Ich räusperte mich und fragte heiser: »W-wieviel willst du dafür haben?«
Sie betrachtete ihre langen Fingernägel und leckte nachdenklich über einen Kratzer in dem grünen Lack. »Es ist sehr gut, stärker als das raulikanische Zeug. Hast du schon mal Glück von den Inseln geraucht?« Ich nickte ungeduldig. Cesco hatte einen größeren Vorrat davon in seinem Reisegepäck gehabt. Sie seufzte. »Drei Krontaler für das Päckchen. Weil du es bist, Kollege.« Ich lachte verächtlich und machte Anstalten, mich zu erheben. Sie sah mich groß und erstaunt an. »Was hast du? Das ist ein sehr guter Preis für Glück, vor allem für ein Blatt von der Qualität.« Sie beugte sich vor und hauchte: »Winterware!«
»Danke, n-nein. Ich zahle dir nicht mehr als zehn Pennychs für das Päckchen. So d-dringend ist es nicht!«
»Oh, ich denke, doch, wenn ich dich so ansehe.« Sie starrte anzüglich auf mein schweißbedecktes Gesicht. Dann legte sie eine wohlgeformte Hand auf meine bebenden Finger und murmelte: »Ich komme dir entgegen, als Einführung. Gib mir vier Krontaler für zwei Päckchen. Na? Das ist doch ein Angebot.« Ich hätte fast eingeschlagen, aber der lauernde Blick, der mich traf, hielt mich zurück.
»Zwei Krontaler für z-zwei Päckchen. Ich finde hier sicherlich noch einen anderen, d-der mir das Zeug gerne verkauft.«
Sie stöhnte laut und schlug erbost auf den Tisch. »Also meinetwegen. Weil du ein Freund bist. Aber«, sie beugte sich sehr nah zu mir, »kein Wort darüber zu irgend jemandem, sonst verdirbt mir das hier die Preise!« Ich nickte erschöpft, schob ihr das Geld über den Tisch und nahm die beiden Päckchen in Empfang. Es war mir gleich, was sie denken mußte, hastig riß ich eines davon auf und steckte mir ein Stäbchen zwischen die Lippen. Sie schob mir die Kerze hin und sah mich fast mitleidig an.
»Junge, dich hat es aber erwischt«, sagte sie nüchtern. »Das sieht man nicht oft. Wieviel davon rauchst du am Tag?«
Ich sog den grünen Rauch tief ein. Himmel, Tomas hatte recht, das war ein verflucht gutes Blatt! Ich wartete, bis mein Zittern sich gelegt hatte und zündete ein zweites Stäbchen an.
Tomas betrachtete mich mit beruflichem Interesse. »Ich könnte dir einen guten Preis machen, wenn du immer bei mir kaufst«, sagte sie. »Wenn ich dich so ansehe – ein halbes Päckchen am Tag schaffst du doch bestimmt. Oder sogar mehr?«
Ich nickte müde. Seit ich in Haven war, hatte ich sicher fast ein halbes Päckchen am Tag geraucht. Meine Anfälle kamen jetzt häufiger, und ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht hatte Jemaina mir doch nicht die ganze Wahrheit gesagt; vielleicht hatte ich nicht einmal mehr zwei oder drei Jahre vor mir.
Tomas grub in einem zierlichen kleinen Beutel, der an ihrer Stuhllehne hing. Sie schob mir vier weitere Päckchen hin und sagte flüsternd: »Hier. Das ist keine Insel-Ware, aber auch ganz anständig. Ich rauche das selber. Gib mir zwei Krontaler dafür.« Ich sah sie erstaunt an und blickte in ein Paar ehrlich mitfühlender Augen.
»Mein Bruder ist ähnlich arm dran wie du«, erklärte sie fast verlegen. »Bei manchen Menschen wirkt das Zeug eben so. Komm, jetzt nimm's schon! Ich kann's mir leisten!« Ich dankte ihr stammelnd und gab ihr die vierzig Pennychs. Sie klopfte auf meine Hand und erhob sich, den Beutel um ihre Schulter schlingend.
»Sei nicht böse, aber ich habe eine Verabredung«, verabschiedete sie sich. »Wir sehen uns sicher mal bei Katarin. Wenn du Nachschub brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.« Sie zwinkerte mir zu und ging hüftschwingend zur Tür hinaus.
Ich stopfte das Glückskraut in meine Tasche, ließ mein Bier stehen und verließ das Singende Kamel. Bis zu meinem Treffen mit Nikal blieb mir noch reichlich Zeit. Ziellos wanderte ich durch die nebligen Straßen des Hafenviertels und grübelte darüber nach, wie ich es bewerkstelligen sollte, meinen alten Freund dazu zu bringen, daß er mir aus der Stadt folgte. Verdammnis, wenn er keinen Wert darauf legte, warum ließ ich ihn nicht einfach, wo er war? Ich wußte noch immer nicht genau, was die Leute von der Allianz eigentlich von Nikal wollten. Ihn zu Omelli schaffen, hatte Quinn gesagt – das klang eigentlich nicht besonders freundschaftlich, wenn ich so darüber nachdachte. Ich fluchte und steckte mir ein Stäbchen an. Der Rauch beruhigte mich, und ich sah die ganze Sache schon weniger trüb. Ich würde Nikal einen Grund liefern müssen, warum wir Haven verließen. Wie könnte der aussehen? Erst mußte ich ein wenig mehr darüber erfahren, wie Nik die beiden Jahre hier verbracht hatte. Wenn es denn wirklich zwei Jahre gewesen waren. Laut Julians Auskunft dürfte Nik eigentlich erst im letzten Frühjahr hier in Sturmhaven angekommen sein.
Gegen Abend kehrte ich in eine Garküche ein, entschied, daß Fisch kein Fleisch sei und stopfte mich mit einer Riesenportion gegrilltem Seeferkel voll. Satt und überaus zufrieden machte ich mich auf den Weg zum Gelben Segel.
Moll sah mich eintreten und stellte mir unaufgefordert einen Becher hin. Ich dankte ihr, und sie neigte sich zu mir, flüsternd: »Hör mal, du brauchst doch nicht zu bezahlen, wenn du hier nur Wasser trinkst!« Sie schob mir unauffällig die Münzen wieder zu, die ich ihr gestern gegeben hatte. Ich murmelte einen Dank, und sie tippte mir auf die Hand. »Da kommt dein Freund«, sagte sie und ging beiseite.
Nikal ließ sich einen Becher Wein geben und winkte mich dann stumm zu einem winzigen Ecktisch. Er setzte sich so, daß er den ganzen Raum gut im Blick hatte, und trank schweigend. Ich nutzte die Zeit, um ihn mir anzusehen. Die Veränderung an ihm, die damals in Salvok ihren Anfang genommen hatte, erschreckte mich bis ins Mark. Ich konnte nicht mehr viel von meinem alten Freund und Lehrer in diesem hageren, bösartig wirkenden Fremden vor mir entdecken.
Er beendete die Inspektion des Gastraumes und heftete seinen fühllosen, frostigen Blick auf mich. »Also?« knarrte er. Ich zog ein wenig die Schultern hoch und atmete tief ein.
»W-wovon lebst du so?« fragte ich stockend. Er schnaubte und hob eine Hand, um die Schankmaid zu rufen. Die kam und brachte ihm einen neuen Becher Wein und mir mein Wasser.
»Ich nehme Aufträge an«, sagte er kurz. »Ich bin Söldner, hast du das vergessen?« Er trank und wischte sich den Mund. »Und du, warum treibst du dich hier rum, statt brav zu Hause im Warmen zu hocken und Schloßerbe zu spielen?« fragte er barsch. Er musterte wieder meinen gefärbten Zopf. »Bist in Schwierigkeiten, was?«
»Nik, würdest du mir h-helfen?« fragte ich mit Herzklopfen. »Ich habe ein paar Leute auf den Fersen, die v-versuchen, mich umzubringen.« So schrecklich gelogen war das ja nicht.
Er trank einen großen Schluck und blickte an mir vorbei. »Wie hängt das mit dem zusammen, was du mir gestern erzählt hast?« fragte er. »Diese Gruppe, zu der du mich bringen sollst?«
Er starrte mich an. Meine Gedanken rasten. Ich trank meinen Becher aus, um Zeit zu gewinnen und winkte Hana. Die kam mit dem nächsten Becher und stellte ihn mir grinsend hin. »Moll meint, du solltest vielleicht etwas langsamer trinken. Du hattest doch gestern schon so fürchterlich geladen!« Sie ging kichernd davon. Ich verschluckte mich fast an meinem Wasser. Nikals Blick ließ mich nicht los.
»Diese Leute sind es ja, die hinter mir her s-sind«, improvisierte ich darauflos. »Unter anderem. Ich habe auch noch die g-gesamte Garde der Krone am Hals. Nik, b-bitte, ich werde damit alleine nicht fertig!«
Seine Augen wanderten wieder durch den Raum. Er schien ständig auf dem Sprung, als würde er verfolgt und nicht ich. »Was wollen sie von dir?«
Gute Frage. Jetzt kam alles darauf an, daß ich ihn und sein Gewerbe richtig eingeschätzt hatte. »Ich h-habe jemanden getötet.« Cesco, verzeih mir! »Es w-war ein – ein Unfall. Aber ich h-habe etwas aus seinem Gepäck mitgenommen, das anscheinend wichtig oder wertvoll oder beides ist. Und s-seitdem habe ich diese Leute auf dem Hals.« Ich beugte mich näher zu ihm. »Ich dachte, ich könnte ihnen v-vertrauen, weil sie sagten, daß sie dich kennen. Aber ich bin unsicher geworden. Ich glaube, sie h-haben sogar einmal versucht, mich zu vergiften!«
Ob er diese phantastische Geschichte schlucken würde? Nikal, mein alter Nikal hätte es sicherlich nicht getan. Er blickte mich unbeweglich an. Seine Augen waren kalt und zynisch. Er schluckte es nicht, ihr Geister, er schluckte es nicht: Ich sah es ihm an!
Er faltete seine Fingerspitzen vor dem Mund und überlegte. Dann sagte er plötzlich: »Komm, laß uns gehen. Hier hören zu viele Ohren mit!« Er trank den Wein aus und warf ein paar Münzen auf den Tisch, sah mich fragend an.
Ich sagte errötend: »Ich z-zahle später. Ich bin etwas knapp bei Kasse, aber Moll gibt mir K-Kredit.« Er nickte und erhob sich. Ich kippte mein Wasser hinunter, winkte Moll noch einen kurzen Abschiedsgruß zu und beeilte mich, ihm zu folgen.
»Also gut«, sagte er, während er kräftig ausschritt. »Angenommen, ich helfe dir. Was ist das für ein Gegenstand, hinter dem sie alle her sind?«
Es sauste mir in den Ohren. Hatte er den Köder wirklich geschluckt? Ich stammelte: »Kein Gegenstand, Nik. B-Briefe.«
Er blieb sofort stehen. »Was für Briefe?«
»Schreiben an die Großherzogin von Rhûn und Rhan von dem maior T'jana von S'aavara«, log ich schnell. »Irgendwas über ein Geheimabkommen, ich habe es nicht so richtig b-begriffen. Aber der Prinz machte ein solches Getue um den Ordner, in d-dem sie waren, daß ich dachte, es müßte was Wertvolles sein. Also h-habe ich sie an mich genommen, ehe sie in die falschen Hände fallen k-konnten«, schloß ich tugendhaft.
Er lachte böse. »Schön gesagt, mein Kleiner. So viel Grips hätte ich dir gar nicht zugetraut. Der Prinz ... das ist der, den du umgebracht hast?« Ich murmelte protestierend. »Verzeihung, es war ja ein Unfall, ich vergaß. Und was, denkst du, kann ich dabei für dich tun? Ich kann dir schlecht die ganze Garde der Krone vom Halse schaffen.«
Ich schnaufte. »K-können wir uns bitte für einen Augenblick irgendwo hinsetzen? Ich kriege keine Luft m-mehr.« Er lachte kurz und verächtlich und wies auf ein niedriges Sims neben uns. Ich hockte mich erleichtert darauf und griff nach einem Stäbchen Glück. Er wandte den Kopf und suchte die Straße mit den Augen ab.
»Aus dir ist ja ein schönes Früchtchen geworden«, knurrte er. »Nebelst dir den Kopf ein, säufst Schnaps becherweise und bringst Leute wegen wertvoller Briefe um. Möchte wissen, von wem du das hast.« Seine Stimme klang merkwürdig. Ich atmete den Rauch ein und antwortete nicht. Es war sicher nicht besonders klug, mir gerade jetzt den ›Kopf einzunebeln‹, aber immer noch besser, als in Nikals Beisein völlig wegzutreten. Er wandte sich mir wieder zu. Seine Hand lag auf dem kurzen Schwert, das an seinem Gürtel hing, und seine Finger tippten unruhig darauf. Es machte mich nervös.
»K-kannst du mir die Gruppe vom Hals schaffen?« fragte ich ihn. »Mit der Garde werde ich schon fertig, die haben mich bis jetzt nicht erwischt. Ich denke, die wissen g-gar nicht genau, wo sie nach mir suchen sollen. M-mit Omellis Leuten ist das was anderes.«
Ich schielte in sein Gesicht. Er hatte die Brauen zusammengezogen. »Wie willst du mich eigentlich bezahlen? Da du doch knapp bei Kasse bist? Ich bin nicht gerade billig.« Ich schnappte nach Luft. Daran hatte ich nicht gedacht. Jetzt an unsere alte Freundschaft zu appellieren war wahrscheinlich wenig aussichtsreich.
»Ich ...«, krächzte ich und angelte hastig nach einem zweiten Stäbchen. »Ich d-dachte, daß ich diese B-Briefe verkaufen könnte. Damit läßt sich bestimmt ein Haufen Geld machen.« Hoffentlich kam er nicht auf die doch recht naheliegende Frage, weshalb der Prinz diese wahnsinnig wertvollen Briefe mit sich herumgeschleppt hatte. Darauf hätte ich ums Verrecken keine einleuchtende Antwort gewußt.
Er knurrte wieder. »Kennst du Ruud?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht?« bohrte er und starrte mich frostig an.
»G-ganz sicher. Ich habe nie von ihm gehört.«
Er nahm es zur Kenntnis. »Ich überlege mir die Sache«, sagte er. »Ich bin nicht besonders gewillt, aber wenn die Bezahlung stimmt ...« Er lächelte schmal und tödlich.
Ich fröstelte und warf die Reste meines Glückskrautes fort. »Wann sagst du mir B-Bescheid?«
»Morgen oder übermorgen. Wir sollten uns aber an einem anderen Ort treffen, das Gelbe Segel ist mir zu unsicher geworden.« Er überlegte.
»Was hältst du vom Badeh-haus?« schlug ich vor.
Er dachte kurz nach und lachte dann kühl auf. »Kein schlechter Gedanke. Morgen nachmittag, zwei Stunden nach dem zweiten Wachwechsel im Badehaus.« Er nickte knapp und verschmolz mit den Schatten. Ich hockte zitternd auf dem Sims und schloß die Augen. Bei allen Geistern, das wurde weitaus schwieriger, als ich mir je hatte vorstellen können.
»Katarin«, fragte ich anderntags beim Frühstück. »K-kennst du einen Mann namens Ruud?« Sie ließ fast ihren Becher fallen.
»Was hast du mit dem zu schaffen?« fragte sie scharf. Auf dem Tisch hatte sich eine kleine Pfütze Tee gebildet. »Laß die Finger davon, Elloran, was auch immer es ist!« So erregt hatte ich die mollige Frau noch nicht gesehen.
»W-warum?« fragte ich dümmlich. Ihre heftige Erwiderung auf meine harmlose Frage erschreckte mich.
Sie wischte fahrig über den verschütteten Tee und fauchte: »Frag nicht so blöd, glaub mir einfach. Laß die Finger davon, Elloran!« Sie stand auf und knallte den Becher auf den Tisch. Die Tür schlug hinter ihr zu, und ich saß da wie ein von seiner Mutter gescholtenes Kind, das sich überhaupt keiner Schuld bewußt war. Ich biß mir auf die Lippen und griff nach meinem Mantel.
Daron öffnete mir die Tür – immerhin schon im Morgenmantel – und schlurfte mir voran in seine Kammer. Während er sich anzog, setzte ich mich auf die Tischkante und stellte ihm die gleiche Frage wie vorhin Katarin. Er verzog das Gesicht und murmelte: »Nicht vor dem Frühstück, Ell.«
Wir gingen in eine kleine Schenke in der Nähe seiner Wohnung, in der anscheinend hauptsächlich Fuhrleute verkehrten, und ich sah Daron beim Frühstück zu.
»So«, sagte er etwas später und sehr viel munterer. »Was wolltest du wissen? Wer Ruud ist?« Ich nickte. Er schob einige Brotkrümel gedankenverloren zu einem Häufchen zusammen und kehrte sie in seine Handfläche.
»Was hast du mit ihm zu tun?« fragte er.
Ich verdrehte die Augen. »Gar nichts h-habe ich mit ihm zu t-tun, verdammt! Ich will einfach nur wissen, wer das ist!«
Er grinste mich schief an, eine flachsblonde Locke hing verwegen in seine Stirn. »Kein Mensch will ›einfach nur wissen‹, wer Ruud ist«, gluckste er. »Der letzte, der das ›einfach nur wissen‹ wollte, schwimmt wahrscheinlich mit einem Messer im Bauch im Südozean. Ruud ist der Herr von Haven. Wen kümmert schon die Krone, die ist weit weg. Ruud ist verdammt nah, und er hat einen Haufen Kerle, die darauf achten, daß das ja keiner vergißt.« Er streute die Krümel auf den Boden und klopfte sich die Hände ab. »Warum fragst du nach ihm?«
»Ach n-nur so. Nikal erwähnte s-seinen Namen.«
Daron riß die Augen auf. »Du hast ihn also aufgestöbert?« Ich nickte. Er sah sich vorsichtig um und hauchte mir dann ins Ohr: »Dein Freund war angeblich einer von seinen Killern. Aber er muß sich irgendwas geleistet haben, was ihn auf die falsche Seite von Ruuds Aufmerksamkeit gebracht hat. Tomas glaubt, daß Ruuds Leute jetzt hinter ihm her sind, um ihn umzulegen.«
Er lehnte sich zurück und sah mich beschwörend an. Ich schluckte heftig. »Woher w-weißt du das alles?« flüsterte ich.
Er grimassierte. »Ich hab dir doch gesagt, daß er einer von meinen Kunden war. Er kam mir reichlich merkwürdig vor, und da habe ich mich sicherheitshalber etwas umgehört. Ich habe keine Lust, ein Messer in den Rücken zu kriegen, bloß weil ich mit dem falschen Kerl im Bett liege. Du solltest da auch lieber etwas vorsichtiger sein.«
Das mußte ich erst einmal verdauen. »Wie l-lange kennst du Nikal schon?« fragte ich schwach.
Er rechnete nach. »Anderthalb Jahre, schätze ich«, antwortete er schließlich. »Warum?« Ich sagte nichts. Dann hatte Julian die ganze Zeit gelogen, als er mir erzählte, Nikal sei in seiner Obhut. Warum nur?
Mit sehr gemischten Gefühlen machte ich mich auf den Weg zum Badehaus. Ich zahlte die Gebühr, gab einem Badejungen meine Sachen in Verwahrung und nahm mein Handtuch und ein kleines Stück Seife in Empfang. Auf den ersten Blick konnte ich Nikal nicht entdecken, aber ich war auch zu früh. Ich wusch mich gründlich unter der Pumpe und band meine Haare hoch, um mich dann langsam in das Becken mit dem heißen Wasser sinken zu lassen. Mit wohlig geschlossenen Augen dämmerte ich ein wenig ein. Jemand ließ sich neben mir ins Wasser gleiten, und ich rückte ein Stückchen beiseite. Etwas Spitzes, Kaltes bohrte sich in meine Seite.
»Wenn ich einer deiner Verfolger wäre, wärst du jetzt tot«, raunte eine Stimme in mein Ohr. Ich riß entsetzt die Augen auf und blickte in Nikals hageres, bärtiges Gesicht. Er ließ mich den schmalen Dolch in seiner Hand kurz sehen und verbarg ihn dann mit einer blitzschnellen Bewegung in seinem am Beckenrand liegenden Badetuch.
»Nur, weil die Leute hier nackt sind, heißt das noch lange nicht, daß sie keine Waffen haben«, sagte er kalt. »An deiner Stelle würde ich meine Augen immer schön offen halten, Söhnchen. Ich glaube übrigens, daß wir gerade beobachtet werden.«
Er saß scheinbar entspannt da, die Augen geschlossen. Nur, wer ganz genau hinsah, konnte erkennen, daß er sie einen Spalt geöffnet hielt und seine Umgebung aufmerksam im Blick hatte. Ich war jetzt hellwach, das hatte er geschafft. Mühsam rief ich mir ins Gedächtnis, daß ich meine mörderischen Verfolger ja nur für ihn erfunden hatte. Aber er brachte mich irgendwie dazu, genauso ständig auf dem Sprung zu sein wie er, selbst hier im wohlig heißen Bad.
»Ich weiß nicht, ob sie dir oder mir gefolgt sind. Laß dir etwas einfallen, was sie ablenkt«, hauchte er, fast ohne die Lippen zu bewegen.
Ich ächzte. Dann grinste ich. »K-kein Problem.« Ich beugte mich über ihn, strich liebkosend über seine Brust und drückte meinen Mund auf seine Lippen.
Er riß entsetzt die Augen auf und murmelte in meinen Kuß hinein: »Sag mal, bist du jetzt vollständig übergeschnappt?«
»Im Gegenteil«, lächelte ich ihn für etwaige Beobachter verführerisch an. »Wenn sie mich verfolgen, w-wissen sie, womit ich mein Geld verdiene und halten dich für einen Kunden. Und wenn sie dir gefolgt sind, w-werden sie denken, daß wir nur deshalb hier verabredet waren.« Zwischen meinen Worten fuhr ich fort, ihn zu küssen und zu streicheln. Er erstarrte unter meinen Händen förmlich zu Eis.
»Ich n-nehme einen Krontaler pro Stunde«, wisperte ich ihm zärtlich ins Ohr. »Alles, was Narben hinterläßt, k-kostet den doppelten Tarif.«
Er ächzte und machte sich unsanft frei, mit einem Gesicht, als müsse er sich übergeben. »Es reicht«, zischte er leise und giftig. »Ich wußte nicht, daß du ... Gleichgültig. Ich habe mich entschieden, dir zu helfen. Ich verlange allerdings einen Teil der Bezahlung im voraus.«
»Wieviel?« fragte ich besorgt.
»Fünfzig vorher, Hundert nach Abschluß.«
»G-Goldychs?« stammelte ich.
»Was dachtest du, Fischaugen? Natürlich Goldychs! Soviel müßtest du für deine wichtigen Papiere doch leicht bekommen können.«
Ich schluckte trocken. Wo sollte ich fünfzig Goldychs hernehmen? Er beobachtete mich lauernd. »G-gut, abgemacht«, sagte ich mühsam. Meine Ohren summten. Ich winkte hastig einem Bademädchen und ließ mir von ihr meine Rauchstäbchen bringen. Nikal sah angewidert zu, wie sie mir eines davon zwischen die Lippen steckte.
»Erst muß ich einen Käufer für die Briefe f-finden«, sagte ich nach einigen tiefen Zügen. »Das dürfte einige Zeit in Anspruch n-nehmen, fürchte ich. Ich kenne hier noch nicht die richtigen Leute.«
»Vielleicht kann ich dir dabei helfen«, sagte er beiläufig. »Ruud hat bestimmt Interesse an den Briefen.«
Hinter meiner Stirn jagten sich die Gedanken. Was für ein Spiel spielte Nikal? Ich sah zu ihm hinüber, er saß ganz entspannt da, aber seine Hand rührte gedankenverloren in dem erkaltenden Wasser herum. Ob er womöglich annahm, ich sei ein Lockvogel von Ruud, der ihn in eine Falle locken sollte?
»W-wer ist eigentlich dieser Ruud?« fragte ich, genauso um Beiläufigkeit bemüht. Er antwortete nicht sofort. Das Bademädchen kam und schüttete heißes Wasser nach.
»Ein Bekannter von mir«, antwortete er schließlich. »Ein – sehr bemerkenswerter Mann. Ihr solltet euch wirklich kennenlernen.«
Er stand auf. Ich beobachtete, wie er das Badetuch um seine sehnigen Hüften schlang, aber es gelang mir nicht, herauszufinden, was er dabei mit seinem Dolch anstellte. Er lächelte auf mich hinunter, wobei seine Augen so unbewegt blieben wie zwei helle Kiesel. Eine Sekunde lang stellte ich ihn mir im Gespräch mit Galen vor und fror trotz des heißen Wassers, in dem ich lag.
Er hockte sich neben mich, griff in meine Haare und sagte: »Na los doch, meine süße kleine Bettwanze. Du hast das Spiel angefangen, jetzt müssen wir es auch zu Ende bringen. Wo gehst du für gewöhnlich mit deiner Kundschaft hin?«
Ich stieg aus dem Becken und wies ihm den Weg zu den Ruheräumen, meinen vorlauten Scherz von eben ernsthaft bereuend. Nikal öffnete die Tür zu einem als leerstehend bezeichneten Zimmer und blickte wachsam hinein, ehe er es betrat. Herrisch wies er auf das niedrige Bett, das das einzige Möbelstück im Raum war, verriegelte die Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. Ich hockte mich unbehaglich zwischen die Kissen und nestelte an meinen hochgebundenen Haaren herum. Nikal grinste auf mich herunter.
»Nur ein Krontaler für ein Schäferstündchen mit dem Erben von Salvok, dem Enkel der Herrin von Kerel Nor?« spottete er. »Meinst du nicht, daß das ein wenig billig ist, Elloran?« Ich wurde blutrot. Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. »Ich werde dich also mit Ruud bekanntmachen«, sagte er. »Du verkaufst ihm deine Briefe, gibst mir einen Teil des Geldes und die abgemachte Anzahlung, und ich schaffe dir diese Leute vom Hals.« Er hielt nachdenklich inne. »Es verlangt mich brennend, sie kennenzulernen. Möchte wissen, woher sie meinen, mich zu kennen.«
»Der Kater sagte, er hätte ein Huhn mit d-dir zu rupfen«, sagte ich unbedacht. Seine Augen verengten sich.
»Da ist er sicher nicht der einzige«, murmelte er. Er starrte mich wieder sehr merkwürdig an.
»Nikal«, fragte ich, »erinnerst du d-dich eigentlich an Salvok?«
Er schnaubte amüsiert, antwortete aber nicht. »Wie hat Julian dich eigentlich gefunden, n-nachdem du aus dem Verlies entkommen bist?« fragte ich hartnäckig weiter. Irgendwie mußte es mir doch gelingen, den alten Nikal noch einmal zu wecken!
»Julian?« Er runzelte ungeduldig die Stirn. »Wer, bei allen Dämonen, ist Julian?« Mit einer geschmeidigen Bewegung stieß er sich von der Tür ab und trat auf das Bett zu. »Sollten wir nicht langsam etwas tun, damit man uns unser zärtliches Beisammensein hier auch glaubt? Ein wenig die Kissen zerwühlen?« Sein Atem strich über meine bloßen Schultern. Ich schloß ergeben die Augen und hörte sein humorloses Lachen.
»Steh schon auf, du kleine Ratte! Glaubst du wirklich, ich würde ausgerechnet mit dir ...« Er spuckte angeekelt aus und zerrte mich hoch. Dann erklärte er, während er gezielt das Bettzeug in Unordnung brachte: »Ich muß mit Ruud zuerst in Verbindung kommen, das ist nicht ganz einfach. In den nächsten Tagen gebe ich dir Bescheid, wo und wann wir uns treffen, und bringe dich dann zu ihm.«
Er öffnete die Tür und schob mich ohne Umstände hinaus. Einigermaßen verwirrt und mit einem mehr als mulmigen Gefühl im Bauch stand ich im Gang. Ich mußte mit irgend jemandem über die ganze Sache reden, sie begann mir ernsthaft über den Kopf zu wachsen.
In einer winzigen schmuddeligen Schenke, die gerade mal zwei Tischen Platz bot, nahm ich einen Imbiß und lief dann ziellos durch den Hafen. Ich hockte eine Zeitlang auf einer Kaimauer und sah zu, wie die Fracht eines S'aavaranischer Handelsschoners gelöscht wurde. Müßig fragte ich mich, wo sich mein Großvater, der Kapitän, um diese Jahreszeit wohl mit seinem Schiff war. Ich hing dem Gedanken eine Zeitlang nach, bis mir mit Schaudern bewußt wurde, daß ich ja gar keinen seefahrenden Großvater besaß. Mein Großvater hockte in der Kronenburg, wie eine fette Spinne in ihrem Netz, und warf alle seine Fäden aus, um mich wieder in die Hände zu bekommen.
Ich stand auf und ging weiter. Der Gedanke an Karas und Veelora hatte mich beinahe noch mehr erschüttert als meine verfahrene Lage das ohnehin schon tat. Ich sah keine Möglichkeit mehr, Nikal mit mir zu nehmen. Mit meinen Lügen über die angeblich so wertvollen Papiere hatte ich mich in eine Ecke manövriert, aus der ich nun nicht mehr herauskam. Am besten sah ich zu, daß ich Sturmhaven verließ, ehe ich auch noch den hiesigen Kopf der Unterwelt am Halse hatte. Darons Warnung vor einem Messer im Rücken klang mir sehr deutlich in den Ohren.
Über mir und um mich herum flatterten und kreischten Möwen, die sich lautstark um die Abfälle auf einem Fischerboot stritten. Ich ließ mich wieder auf der Kaimauer nieder und sah den atemberaubenden Flugkünsten der nebelfarbenen Vögel gefesselt zu, beobachtete ihre halsbrecherischen Sturzflüge und lachte über die Frechheit, mit der sie ihren Artgenossen die Beute unter dem Schnabel wegstahlen. In dem wirbelnden, kreischenden Schwarm blitzte es hin und wieder schwarz auf, und ich strengte meine Augen an, um herauszufinden, was für eine seltsame Möwe das war. Flatternd und mit den anderen um die Wette krächzend stritt sich Magramanir mitten im Gewühl um die besten Bissen. Ich winkte und rief lachend: »H-hallo Mag! Julian!«
Der kleine Rabe ließ sich nicht stören. Erst, als wirklich nur noch einige blitzende Fischschuppen auf dem feuchten Deck übrig waren, flog sie mit trägem Flügelschlag zu mir und setzte sich auf mein Knie.
»Du stinkst n-nach Fisch«, beschwerte ich mich und schubste sie von meinem Bein auf die Mauer. Sie krächzte beleidigt, hieb mit dem Schnabel nach meiner Hand, die ich schnell zurückzog, und hob die Flügel.
»Bleib, wo du bist«, befahl Julian ihr eilig. »Wie steht es, Elloran? Hast du Nikal aufgetrieben?«
Ich kratzte mich an der Nase. »Julian, du hast doch g-gesagt, du hättest ihn zur Stadt gebracht. Warum hast du mich angelogen?«
Er antwortete nicht gleich. Ich sah Magramanir unverwandt an, aber ihre schwarzen Augen verrieten mir wie immer nichts über Julians Gedankengänge. »Das kann ich dir schlecht erklären«, antwortete er schließlich. »Es war aus verschiedenen Gründen unmöglich, und ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich habe ihn hierher begleitet, weil er unbedingt nach Haven wollte. Er sprach immer von einem Treffpunkt.«
Ich nahm diese Erklärung, die keine war, schweigend hin. Julian würde nur wütend werden, wenn ich jetzt anfing zu bohren, und mir erst recht nicht mehr dazu sagen. Lieber fragte ich ihn um Rat wegen meiner mißlichen Lage. Er hörte sich die Geschichte an, ohne mich zu unterbrechen, und Magramanir saß während der ganzen Zeit lammfromm und ohne Fluchtversuche neben mir auf der Hafenmauer.
»Was würde dir mehr helfen«, fragte er endlich. »Wenn ich dir das Geld für den Mordauftrag gäbe oder wenn du die Briefe hättest?«
Ich mußte erst einmal das Wort ›Mord‹ verdauen. »Ich befürchte, Nikal kommt es in Wirklichkeit gar nicht s-so sehr auf das Geld an«, entgegnete ich nachdenklich. »Da ist irgendwas im Busch mit diesem Ruud. Ich glaube, Nik will mich b-benutzen, um ihn irgendwie in die Pfanne zu h-hauen. Wenn ich jetzt mit dem Geld ankomme, wird er sicher mißtrauisch. Ich h-habe noch nie einen Menschen mit einem so ausgeprägten Verfolgungswahn erlebt, Julian!« Magramanir krächzte amüsiert.
»Also die Briefe«, resümierte Julian.
»Ja, wunderbar!« entfuhr es mir. »Julian, die B-Briefe gibt es doch g-gar nicht! Die habe ich erfunden!«
»Ja und? Nikal glaubt dran, und dieser Ruud wird auch daran glauben. Das ist doch ein Kinderspiel, Neffe.«
»Ja, wenn du meinst«, gab ich wenig überzeugt zurück.
»Ich meine«, entgegnete er hart. »Ich besorge dir etwas, das einer oberflächlichen Prüfung standhält. Mehr brauchst du nicht. Bis irgend jemand merkt, daß die Briefe nicht ganz so wertvoll sind, bist du mit Nikal längst über alle Berge.« Magramanir trat von einem Fuß auf den anderen.
»Ich brauche die Briefe aber b-bald«, rief ich schnell.
»War mir klar«, knurrte Julian. »Keine Sorge, Neffe, du bekommst sie rechtzeitig. Magramanir, du machst mich wahnsinnig!«
Mit diesen Worten flog der Vogel davon, und ich sah ihm noch eine Weile nach, wie er im Tiefflug über die grauen Wellen hinwegglitt.