21
In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Es war mir nicht einmal unangenehm; auf seltsame Weise fühlte ich mich gleichzeitig hellwach und dennoch von einer tiefen, fast tranceartigen Ruhe erfüllt. Irgendwann mitten in der Nacht, der Kleine Bruder schien strahlend hell auf mein Bett, stand ich auf und verließ mein Zimmer. Ich ging in das vordere Gemach und entzündete den Kamin. Der Weinkrug, der noch von unserem abendlichen Beisammensein auf dem Boden stand, war gut halbvoll. Rauchend und mit einem Becher in der Hand blickte ich träumerisch in die Flammen und ließ meine Gedanken auf diese schmetterlingshaft leichte Weise wandern, die ihnen neuerdings immer häufiger innewohnte. Ich hatte begonnen, mich daran zu gewöhnen und es in gewisser Weise sogar zu schätzen gelernt. Meinem Geist fehlte jede Schwere, alles war leicht und schwebend, ohne Schmerzen oder Angst. Das Gefühl, daß mich nichts mehr berühren oder gar verletzen konnte, wog tausendmal den Nachteil auf, daß es mir inzwischen ausnehmend schwer fiel, mich mit einem Gedanken zu beschäftigen. Es war doch alles so einfach; warum sollte ich mir Kopfschmerzen über Dinge machen, die mich im Grunde gar nichts angingen? Julian wußte, was zu tun war, und ich war bereit, seinen Ratschlägen in allem zu folgen.
Als die Morgensonne durch das Fenster fiel, saß ich immer noch so da. Ich hatte keine Sekunde geschlafen – und dennoch fühlte ich mich frisch und ausgeruht. Der Weinkrug war leer, und ich tappte in die Küche, um mir mein Frühstück zu bereiten. Dort fand mich wenig später Julian.
»Hast du gut geschlafen?« fragte er sanft.
»Ich habe überhaupt n-nicht geschlafen, Julian. Aber es geht mir gut, ich fühle m-mich großartig.«
»Das ist eine Auswirkung der Medizin, die du nimmst. Es ist durchaus möglich, daß du noch einige Zeit nicht wirst schlafen können. Sorge dich deswegen nicht, solange du dir immer mal wieder etwas Ruhe gönnst, wird es dir nicht schaden. Ich habe ein paar Dinge für dich vorbereitet. Komm doch bitte in mein Arbeitszimmer, wenn du soweit bist.«
Mit dem Reisesack über der Schulter trat ich wenig später in Julians Zimmer. Er blickte auf und lächelte mich an. »Setz dich her, Ell. Ich muß noch den Zauber erneuern, der dein Aussehen verändert.« Er trat wie am vorherigen Tag auf mich zu und legte mir seine kühle Hand auf die Augen. Der Vorgang dauerte wieder nur einige Atemzüge, dann trat er zurück und begutachtete seinen Zauber. Mit befriedigtem Nicken ließ er sich wieder in seinen Stuhl sinken und schob mir ein versiegeltes Schreiben hin, das ich zögernd und mit fragendem Blick aufnahm.
»Steck das gut weg«, erklärte er. »Falls ich es nicht schaffe, dir rechtzeitig zu folgen, gelangst du damit in die Kronenburg. Aber das ist nur für den Notfall gedacht, ich denke, du wirst es nicht brauchen. Hast du noch den kleinen Spiegel, den ich dir zu deinem letzten Geburtstag geschenkt habe?« Ich nickte. Das Spiegelchen begleitete mich ständig. Er verzog spöttisch den schmalen Mund. »Gut, damit kannst du gegebenenfalls Verbindung zu mir aufnehmen. Was brauchst du noch – Geld, natürlich!«
Er schloß eine Lade auf und entnahm ihr einen schweren Beutel. »Hier, damit dürftest du auskommen, bis wir uns wiedersehen. Spare an nichts, übernachte in guten Herbergen und iß anständig. Du bist noch immer nicht vollständig genesen, Ell.« Er legte mir den Beutel auf meinen Reisesack. Ich sah ihn voller Zuneigung an. Seine Besorgnis bewegte mich tief.
Nun zog er noch ein schmales Päckchen aus der Tasche seines samtenen Gewandes und schob es mir hin. »Damit du nicht denkst, ich hätte es vergessen. Das ist eine kleine Geburtstagsgabe, Ell.«
Gerührt wickelte ich das Päckchen aus und starrte das Geschenk dann sprachlos an: einen kostbar verzierten, schmalen Dolch, dessen Griff ein herrlich geschliffener, fast schwarzer Blutstein krönte. Mit Tränen in den Augen sah ich meinen Onkel an und stammelte einen überwältigten Dank, den er fast ungeduldig abwehrte. »Hast du eine Scheide für den Dolch? Du mußt aufpassen, er ist sehr scharf.« Ich zog mein Messer aus seiner Scheide und steckte zur Probe den Dolch hinein. Er paßte.
»Sehr schön«, meinte Julian. »Das ist ein S'aavaranischer Dolch, eine Arbeit des Ersten Waffenschmiedes am Hofe des maior T'jana. Du bist jetzt siebzehn und hast dir schon längst eine anständige Waffe verdient.« Er erhob sich und ließ eine Hand auf meiner Schulter ruhen, als wir zur Tür gingen. »Ich komme nach, sobald es möglich ist. Ach ja, ich habe dir ein anderes Pferd besorgt, das erschien mir besser.« Er umarmte mich und legte kurz und wie zum Segen seine Hand auf meinen Kopf. »Mache deine Sache gut, Elloran. Ich verlasse mich auf dich!«
Das Pferd, das auf mich wartete, war eine zuverlässig wirkende, grobknochige graue Stute; das glaubwürdige Reittier des Söldners Ellis, den ich in den nächsten Wochen verkörpern würde. Ich ritt durch das Blaue Viertel, ohne mich umzusehen. Ein dumpfer Druck im Magen erinnerte mich an das grausige Ende der Versammlung am gestrigen Abend, aber ich verdrängte den Gedanken eilig. Es hatte ohnehin keinen Zweck mehr, darüber noch Tränen zu vergießen. Was geschehen war, war geschehen.
Es war ein schöner, sonniger Tag mit einer ersten Andeutung von sommerlicher Hitze. Ich schälte mich aus meiner warmen Jacke und krempelte die Ärmel meines Hemdes hoch. Den ersten Teil meiner Wegstrecke kannte ich zur Genüge, allerdings machte ich einen großen Bogen um den Galgenhügel. Nicht noch mehr ungute Erinnerungen wecken! Lieber ritt ich an der steilen Küste entlang und genoß den frischen Wind und den Ausblick auf die tief unter mir liegende, glitzernd blaue und grüne Wasserfläche. Möwen kreisten in der Luft und umschwärmten schreiend die vielen kleinen Fischerboote auf dem Meer.
Gegen Abend näherte ich mich einem kleinen Ort. Der freundliche Wirt des Gasthauses, in dem ich abstieg, servierte mir eine schmackhafte und reichhaltige Fischsuppe und gab mir auf meinen Wunsch noch einen Krug mit einem kräftigen, hellen Rotwein mit auf mein Zimmer. Julians magische Tarnung schien fehlerlos zu wirken. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, daß man mir anders begegnete als dem jungen Burschen, der ich ja eigentlich war. Der barfüßige Stalljunge, gewiß ein Sprößling des Wirtes, hatte mich ehrfürchtig angestarrt, als ich ihm meine Stute übergab, und auch das kurze Gespräch mit dem Wirt war bei aller Gastfreundlichkeit von einer gewissen Vorsicht einem durchreisenden Söldner gegenüber geprägt. In dieser Gegend hatten die Bewohner zu viele schlechte Erfahrungen mit Söldnertruppen gemacht, um nicht ein gesundes Mißtrauen gegen Vertreter dieses Standes an den Tag zu legen.
Wie Julian vorhergesagt hatte, schlief ich auch in dieser Nacht nicht. Ich lag angezogen auf dem Bett in der kleinen Gastkammer und trank mir einen milden Rausch an. Aus einem der Nebenzimmer drangen die ganze Nacht hindurch leise murmelnde Stimmen, und ich fragte mich träge verwundert, ob da Leute von ähnlicher Schlaflosigkeit geplagt waren wie ich. Kurz nach Sonnenaufgang machte ich mich wieder auf den Weg. Ich zahlte meine Zeche und die Übernachtung und ließ eine beiläufige Bemerkung über meine schwatzhaften Zimmernachbarn fallen, die der Wirt mit einem unangenehm berührten Blick beantwortete. Er räusperte sich unbehaglich und murmelte, ich sei sein einziger Gast in dieser Nacht gewesen. Die beiden Zimmer neben meinem seien schon seit Tagen unbenutzt. Ich bemerkte seine Verlegenheit und beeilte mich, ihm zu versichern, ich habe nur gescherzt, und es sei wunderbar friedlich in seinem Haus gewesen. Er lächelte und wünschte mir eine gute Weiterreise. Ich konnte seinem Gesicht deutlich ansehen, was er von mir hielt.
Meine Stute erwies sich als so kräftig und zuverlässig, wie ich sie eingeschätzt hatte, und so kam ich gut voran. Fast vier Tage ritt ich an der Küste entlang, bevor ich mich nördlich ins Landesinnere wandte. Verwunderlicherweise beeinträchtigte mich meine anhaltende Schlaflosigkeit nicht, ich fühlte mich ausgeruht und kräftig. Das einzige, was mich mit der Zeit beunruhigte, war das ständig zischelnde Geflüster und Raunen, das ich in der ersten Nacht für Gespräche im Nebenzimmer gehalten hatte, und das doch anscheinend etwas zu sein schien, das in meinem eigenen Kopf stattfand. Tagsüber gelang es mir meist, es zu vergessen, aber in den langen durchwachten Nächten war das vollkommen unmöglich.
Ich ertappte mich dabei, daß ich sogar den Atem anhielt, um vielleicht doch den einen oder anderen Fetzen dieser endlosen Unterhaltung zu verstehen. Die Stimmen schienen mir seltsam vertraut. Fast meinte ich das Gespräch zu verstehen, aber es blieb immer dicht unterhalb dieser Schwelle. Es zerrte an meinen Nerven. Ich versuchte, mir auszumalen, worüber gesprochen wurde, wer da redete, was das alles mit mir zu tun haben mochte – denn daß es hierbei um mich gehen mußte, war mir völlig klar. Warum sollte es sonst in meinen Ohren, in meinem Kopf stattfinden?
Schließlich ging ich dazu über, mich in jeder Nacht zu betrinken, bis ich die Stimmen nicht mehr hörte, oder bis sie mich zumindest nicht mehr so sehr bedrängten. Tagsüber, wenn ihr Zischeln, Murmeln und Raunen durch die alltäglichen Geräusche, das Klappern der Hufe, Vogelzwitschern, das Pfeifen des Windes, rauschende Blätter und dergleichen mehr übertönt wurde, begann mich in der zweiten Woche meiner Reise etwas anderes zu belästigen: In meinen Augenwinkeln, immer gerade am Rande meines Blickfeldes, bewegte sich etwas. Eine menschliche Gestalt, wie ich annahm, die mir zuzuwinken schien. Wenn ich mich nach ihr umdrehte und versuchte, sie in den Blick zu fassen, mußte ich jedesmal feststellen, daß dort nichts war. Ich sah vom Winde bewegte Zweige, ein davonhoppelndes Kaninchen, auffliegende Vögel ... aber das war nicht das, was ich eigentlich erwartet hatte.
Zusammen mit den unermüdlich wispernden Stimmen zermürbte diese Erscheinung mich langsam. Ich wurde schreckhaft und gereizt und fühlte mich auf unerklärliche Weise bedroht und verfolgt. Das Glückskraut half mir zwar anfangs ein wenig, meine zerrütteten Nerven zu beruhigen, aber schließlich wendete ich in meiner Verzweiflung mein Heilmittel der Nächte auch tagsüber an. Solange ich mich in einem Zustand leichter Trunkenheit befand, peinigten mich meine Heimsuchungen nicht gar so heftig.
Von Julian hörte und sah ich nichts. Ich wollte ihn nicht mit meinem Problem belästigen, da er mit Sicherheit mit seinen eigenen Angelegenheiten zu beschäftigt war, um sich in Ruhe damit auseinandersetzen zu können. Zudem war ich inzwischen keine Woche mehr von der Kronenburg entfernt, wo wir uns ohnehin wiedersehen würden.
Drei Tagesreisen vor der Kronstadt machte ich gegen Abend Rast in einer kleinen Herberge, die von einer verhutzelten alten L'xhan geführt wurde. Als ich in den winzigen Schankraum trat, um mein Abendessen einzunehmen, durchfuhr mich ein heftiger, eiskalter Schreck. An einem Tisch saßen in vertrautem Gespräch Tom und Jemaina. Für einen Augenblick vergaß ich beinahe meine Tarnung und zuckte herum, um zur Tür hinauszustürmen. Jemaina streifte mich mit einem gleichgültigen Blick und wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu. Ich atmete tief durch, entspannte meine verkrampften Muskeln und ließ mich am Nebentisch nieder. Was taten die beiden hier? Unaufmerksam verzehrte ich, was die Schankmaid mir vorsetzte, und spitzte meine Ohren, um etwas von dem aufzuschnappen, was am Nebentisch gesprochen wurde.
»Sie hat alles gut vorbereitet«, bemerkte Jemaina gerade. Ihre Stimme klang ruhig. Tom nickte. Ich blickte mit Schaudern auf seine haarigen, kräftigen Hände, die entspannt auf dem Tisch ruhten. Nichts an ihnen deutete auf die mörderischen Klauen hin, die sie in Wirklichkeit waren.
»Was macht euch so sicher, daß er mitkommt?« fragte er.
»Er muß kommen. Er verliert sonst alles, worauf er in den letzten Jahren hingearbeitet hat, verstehst du?«
Tom neigte sich zu ihr und murmelte leise. Ich konnte ihre weitere Unterhaltung nicht mehr verstehen, weil das ekelhafte Flüstern in meinen Ohren aufdringlicher wurde. Ich unterdrückte ein Stöhnen und bestellte eilig Wein bei der Schankmaid. Wenn ich doch nur etwas klarer hätte denken können! Was war vorbereitet worden, wer wurde erwartet? Betraf diese Unterhaltung am Ende vielleicht Julian und mich?
» ... wird mit dem Jungen?« vernahm ich jetzt wieder Toms Stimme. Ich zuckte erschreckt zusammen.
Jemaina schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät«, antwortete sie nüchtern. Tom fuhr auf, aber sie legte beruhigend ihre dunkle Hand auf seinen Arm. »Bitte, Tom. Es hat keinen Zweck, wir können nichts mehr daran ändern«, sagte sie eindringlich. »Er hatte eine winzige Chance, aber er hat sie vertan. Wir alle müssen jetzt sehen, wie wir das Beste aus der verfahrenen Lage machen.«
Ich war zutiefst erschüttert über ihr fühlloses, kaltes Gebaren. Jemaina sprach über mich wie über einen Gegenstand, der seine Nützlichkeit verloren hatte. Wie bitter hatte Julian recht behalten: Ich konnte niemandem vertrauen, noch nicht einmal denen, die mir immer am nächsten gestanden hatten. Alle wünschten mir den Tod. Sie würden noch ein böses Wunder erleben, das schwor ich mir.
Die beiden erhoben sich und verließen den Schankraum. Ich blickte ihnen unschlüssig hinterher. Es hatte wenig Sinn, ihnen zu folgen. Am liebsten wäre ich sofort wieder aufgebrochen, aber meine brave Stute benötigte eine Pause. Also ließ ich mir schweren Herzens einen weiteren Krug für die Nachtwache bringen und zog mich damit auf mein Zimmer zurück.
In dieser Nacht waren die Stimmen lauter und aufdringlicher denn je. Ich war sogar in der Lage, die eine oder andere Silbe ihres Geflüsters zu verstehen, aber ich konnte sie immer noch nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. In den dunklen Ecken meines Zimmers wogten unheimliche Schattengebilde und schienen nach mir zu greifen. Ich entzündete schweißnaß vor Grauen die Öllampe, die auf dem Fensterbrett stand, doch das gelbliche Licht brachte keine Erleichterung. Mittlerweile war ich so betrunken, daß mir meine Glieder den Dienst versagten; aber nicht einmal die Trunkenheit half mir gegen die Dämonen, die mich quälten. Hände griffen nach mir und wollten mich erwürgen; die Stimmen murmelten bedrohlich und böse. Giftig und voller Häme zischelten sie in meinen Ohren, obwohl ich meine bebenden Hände davorschlug und den Kopf im Kissen vergrub. Die Nacht dehnte sich in endloser Finsternis, und erst der erste dünne Sonnenstrahl, der sich durch das Fenster verirrte, beendete die entsetzliche Heimsuchung.
Ich schwankte auf unsicheren Beinen in den Schankraum und bestellte mir einen besonders starken Tee. Während ich noch über meinem Becher brütete, trat die Herbergswirtin an meinen Tisch. »Darf ich dich etwas fragen, Herr?« Ich sah überrascht auf und bot ihr Platz an. Sie dankte und ließ sich mir gegenüber nieder. »Du bist sicherlich auf dem Weg zur Kronstadt?« Ich nickte ein wenig mißtrauisch. Diese Herberge lag an der Straße zur Hauptstadt, also war mein Ziel kein großes Geheimnis.
Sie strich einige weiße Haarsträhnen, die sich aus ihrem akkuraten Knoten gelöst hatten, zurück und fuhr fort: »Ich habe zwei Gäste, die ebenfalls dorthin unterwegs sind, und die sich dir gerne anschließen würden. Die Straße ist zur Zeit sehr unsicher, es gibt Banden, die harmlose Reisende ausrauben und manchmal sogar töten. Darum ist es sicherer, in größeren Gruppen zu reisen oder wenigstens einen schlagkräftigen Söldner als Begleiter zu haben. Sie würden dich gut dafür bezahlen.«
Ich knurrte und nickte dann mißmutig. Es gab keinen Grund für den Söldner Ellis, diese Bitte abzuschlagen, aber der Gedanke an zwei Mitreisende erfreute mich natürlich überhaupt nicht. Sie dankte mir und stand auf. »Ich sage den beiden Bescheid«, erklärte sie zufrieden.
Ich trank meinen Tee und starrte auf die Tischplatte. Das Geflüster in meinem Kopf wurde wieder lauter. Ich glaubte, meinen Namen vernommen zu haben und schloß die Augen, um besser zuhören zu können. Neben mir räusperte sich jemand, und ich fuhr erschreckt zusammen.
»Vergib mir, wenn ich dich in deinen Gedanken störe, bester Freund«, sagte Tom. »Die Wirtin hat mir von deiner freundlichen Einwilligung berichtet, uns bis zur Kronstadt dein wehrhaftes Geleit zu geben.« Ich unterdrückte ein Keuchen und erhob mich eilig. Tom sah mich freundlich verwirrt an, und ich murmelte hastig eine mürrische Bestätigung.
»Wir müssen nur über deinen Lohn sprechen«, sagte er. »Findet ein halber Goldych pro Reisetag deine Zustimmung?« Ich nickte stumm. »Wunderbar«, rief er erleichtert. »Meine Begleiterin kommt sofort, dann können wir aufbrechen, wenn es dir genehm ist. Ah, ich vergaß, mich vorzustellen: Mein Name ist Tom, ich bin fahrender Sänger. Und dort kommt die ehrenwerte Heilerin, die mit mir reist.«
Er wartete höflich. Ich knurrte: »Ellis.« Jemaina trat an Toms Seite und blickte mich mit merkwürdigem Interesse an. Ich schwitzte.
»Dieser ehrenwerte Herr ist Ellis; er hat sich bereiterklärt, uns zu begleiten und vor Überfällen zu beschützen«, erklärte Tom ihr. Sie reichte mir ihre Hand.
»Ich bin Jemaina. Vielen Dank für deine Hilfe, Ellis. Ich war doch etwas besorgt um unsere Sicherheit.«
Sie lächelte Tom an, der ein gespielt mißmutiges Gesicht schnitt. »Meine liebenswürdige Freundin traut mir nicht zu, daß ich in der Lage bin, uns hinreichend vor Raub und Mordgesindel zu beschirmen«, brummte er. »Sie sagte: ›Spiel du ruhig deine Harfe, Tom, und singe uns ein paar Lieder zur Unterhaltung auf unserem Weg, aber laß die Finger von Schwertern, du verletzt dich am Ende wahrscheinlich nur selbst!‹« Er schnaufte beleidigt, und Jemaina lachte herzlich. Ich starrte die beiden an und dachte mit Grausen an Toms Fähigkeiten, sich zu verteidigen. Ich bezweifelte sehr, daß er ein Schwert dafür überhaupt nötig hatte.
»Können wir l-los?« fragte ich barsch. Ohne ein weiteres Wort nahm ich meinen Reisepack und verließ unsicheren Schrittes den Schankraum. Die Rechnung hatte ich bereits bezahlt, und mein Pferd war gesattelt. Ich verschnürte das Gepäck und bestieg die Stute. Ohne mich umzusehen, ritt ich vom Hof und hörte, wie die Reittiere der beiden anderen mir folgten. Eine schemenhafte Gestalt winkte mir. Ich wandte erschreckt den Kopf. Die rote Katze starrte mich aus rätselhaften Augen an und sprang von der Mauer ins hohe Gras darunter. Ich ächzte und lockerte den Weinschlauch, der an meinem Sattel hing. Ein großer Schluck vertrieb die drohende Nüchternheit und ließ die Schatten in meinen Augenwinkeln zumindest etwas zurückweichen. Tom lenkte sein Biest an meine Seite, während Jemaina ein paar Schritte zurückblieb, und fing eine recht einseitige Unterhaltung an. Ich trank und brummte hin und wieder wortlos, was ihm als Gesprächsbeitrag völlig zu genügen schien. Sein seichtes Geschwätz übertönte die Stimmen in meinem Kopf nahezu vollständig. Ich ließ es voller Erleichterung an mir vorbeiplätschern, ohne auf seine Worte genauer zu achten. Jemaina ritt schweigend hinter uns her. Wir durchquerten die endlosen grünen Hügel L'xhans, und Tom redete und redete, sang zwischendurch ein oder zwei Lieder, um dann weiterzuschwätzen. Etwas Weißes zuckte und wand sich am Rand meines Blickfeldes. Ich fuhr heftig herum. Meine Stute scheute, und Tom verstummte erschreckt. Wir hielten an.
»Was ist?« fragte er. »Hast du etwas gesehen? Wegelagerer?« Ich musterte panisch das dichte Gebüsch am Feldrand und mühte mich, meinen beschleunigten Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Jemaina zog beunruhigt an unsere Seite.
»Was ist los?« fragte sie Tom. Er zuckte mit den Achseln und deutete auf mich. Ich leckte mir über die trocken gewordenen Lippen und nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinschlauch. Dann wischte ich mir zittrig über das Gesicht und ließ die Stute antraben.
»Alles in Ordnung«, rief ich zurück, vergebens um einen beiläufigen Ton bemüht. »Ich habe m-mich geirrt.« Jemaina und Tom wechselten einen beunruhigten Blick und folgten mir. Ich hörte sie tuscheln. Es war mir gleich, was sie denken mochten. Meinetwegen sollten sie mich für einen Säufer halten, der die Bäume tanzen und Zwerge auf dem Weg Purzelbäume schlagen sah. Vielleicht würde sie das sogar veranlassen, mich meine Reise alleine fortsetzen zu lassen, was mir wahrhaftig das liebste gewesen wäre.
Doch den Gefallen taten sie mir nicht. Wir ritten weiter, und Tom schwieg nun auch. Die Stimmen wurden immer unangenehmer. Ich wollte nicht riskieren, so betrunken zu werden, daß ich nicht mehr in der Lage war, mich im Sattel zu halten, aber ich bemühte mich redlich, in beruhigender Nähe zu diesem Zustand zu bleiben. Hin und wieder trafen mich die besorgten Blicke meiner Reisegefährten, doch sie hüteten sich, etwas zu bemerken. Offenbar war ihnen ein bezechter Söldner immer noch lieber als überhaupt kein Geleitschutz.
Der Tag verstrich langsam. Seit unserer Mittagsrast ritt Jemaina an meiner Seite, während Tom sich ein kurzes Stück vor uns hielt und unermüdlich sein Repertoire an unanständigen Liedern vor sich hinträllerte. Ich erkannte das eine oder andere Lied aus Senns Schatzkiste und mußte darüber lächeln. Jemaina nahm das anscheinend als Ermutigung und begann, mich auszufragen. Wo ich herkäme, bei welchem Herrn ich zuletzt in Dienst gestanden hätte, und was ich in der Kronstadt wollte. Ich antwortete ausweichend und unfreundlich, was sie aber nicht zu entmutigen schien. Endlich drehte ich den Spieß einfach um und befragte sie. Ihre Geschichte, warum sie mit Tom unterwegs war, war von vorne bis hinten erlogen. Sie sei auf der Rückreise von ihrer Familie in Raulikar, erzählte sie, wo eine Enkelin von ihr ihr erstes Kind bekommen und dafür den Beistand ihrer Großmutter gewünscht habe. Tom sei einer ihrer angeheirateten Neffen, der nun in der Kronenburg versuchen wolle, eine Anstellung als Spielmann und Sänger zu bekommen.
Ich lauschte der Geschichte mit steinerner Miene und fror innerlich. Wo ich hinblickte, herrschten Lüge und Betrug. Traue niemandem, diese Worte der Obersten Maga hallten in meinen Ohren. Traue niemandem. Traue niemandem!
Am dritten Tag unserer gemeinsamen Reise sah ich gegen Mittag zum ersten Mal wieder die Zinnen der Kronenburg am Horizont. Am frühen Abend passierten wir das westliche Stadttor und ritten schweigend durch die engen Gassen des äußeren Ringes. Ich hatte erwartet, daß meine beiden Begleiter sich nun von mir trennen würden, um zur Burg hinaufzureiten, und ich mich dann in einer Herberge einmieten und auf Julian warten würde. Doch Jemaina überraschte mich. Ich hatte ihr erzählt, daß ich nach Kronstadt reiste, um nach einem neuen Dienstherren zu suchen, nachdem meine alte Herrin in einem Kampf getötet worden war. Das nahm die Heilerin jetzt zum Anlaß, mich auf die Burg einzuladen: »Ich werde dich domna Veelora vorstellen. Sie kann dir sicher behilflich sein, eine Anstellung zu finden, vielleicht sogar bei der Kronengarde.«
Ich ließ mir meine Zweifel daran, daß meine Großmutter einen trunksüchtigen, abgewrackten Söldner in die Garde aufnähme, nicht anmerken und dankte Jemaina für ihr Angebot. Meine so schwer in den Griff zu bekommenden Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Warum sollte ich diese Gelegenheit nicht nutzen, in die Burg hineinzugelangen – ohne Julians Hilfe! Das sollte ihm beweisen, daß ich nicht in allem auf ihn angewiesen war. Auf ihn warten konnte ich dort so gut wie in irgendeiner Herberge.
Mit beklommenem Herzen ritt ich in den Inneren Hof. Wie gut hatte ich diesen Ort kennengelernt – und wie wenig hatte ich damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen! Zum allerersten Mal fühlte ich, daß hier meine Heimat war, nicht in Salvok und nicht in irgendeiner anderen Gegend dieser Welt. Das erschreckte mich zutiefst. Wenn Julians Pläne fehlschlugen, bedeutete das für mich ewiges Exil – falls ich ein Scheitern überhaupt überlebte. Schrilles Kichern klingelte in meinen Ohren, und Schatten waberten durch mein Blickfeld. Ich unterdrückte ein Schaudern und fragte Jemaina, wohin sie mich jetzt brächte.
»Zu den Gästequartieren«, antwortete sie. »Morgen kümmere ich mich darum, daß die Herrin von Kerel Nor dich empfängt.« Sie nickte Tom zu, der sich bei den Ställen von uns trennte, und führte mich dann zum Gästeflügel, der in einem Seitentrakt des neueren Gebäudes lag. Dort organisierte sie mir ein Quartier und wies mir den Weg zum Speiseraum. Ich bemerkte mit Erstaunen, wie sie sich hier in der Burg bewegte, als hätte sie nie irgendwo anders gelebt. Sie verabschiedete sich bis zum nächsten Tag von mir, und ich zog mich in mein Quartier zurück. Es erinnerte mich an die kleine Kammer, in der ich meine ersten Tage auf dieser Burg verbracht hatte.
Ich setzte mich in die Fensternische und zog meinen kleinen Spiegel hervor. Doch bei dem Versuch, Julians Gesicht zu betrachten, scheiterte ich kläglich. Nebel und seltsame, verzerrte Schemen glitten über die Spiegelfläche, aber sie ließen sich nicht zu den vertrauten Zügen meines Onkels verdichten. Viel zu sehr lenkten mich die flüsternden, bösen Stimmen in meinem Kopf ab, die über meine vergeblichen Bemühungen hämisch zu kichern schienen. Ich starrte hilflos in den Spiegel und wartete auf ein Wunder. Ein Schatten regte sich in meinem Augenwinkel. Ich schrak heftig auf. Ein harter Schnabel klopfte ungeduldig gegen die Fensterscheibe, und ich hörte mich erleichtert aufschluchzen, als ich für Magramanir das Fenster öffnete. Sie hüpfte auf mein Bett und sah mich mit schiefgelegtem Kopf verschmitzt an.
»Gratuliere, Neffe«, erklang fern und klein Julians Stimme. »Du hast es wahrhaftig geschafft, ohne mich hineinzukommen!« Ich hockte mich neben die kleine Rabin aufs Bett und strich sanft mit dem Finger über ihren glänzend schwarzen Kopf.
»J-Julian, es geht irgend etwas mit mir v-vor«, begann ich verzweifelt und erzählte ihm von meinen quälenden Erscheinungen. Er hörte stumm und aufmerksam zu und schwieg noch eine ganze Weile, nachdem ich geendet hatte.
»Ich hatte es befürchtet«, sagte er schließlich bedrückt. »Aber ich wollte dich damit nicht belasten, es hätte durchaus sein können, daß ich mich irrte.« Er seufzte tief. Ich wandte meine brennenden Augen nicht von Magramanirs Schnabel, als spräche sie jeden Moment mein Todesurteil aus.
»Das ist Leonies Werk«, sagte Julian zögernd. Es schien ihm schwerzufallen, das auszusprechen. »Ich habe versucht, dich von ihrem Dämon zu erlösen, aber sie hat einen anderen Weg gefunden, dich zu peinigen. Es ist, wie ich vermutet habe: Ich kann dich nicht von ihr befreien, du mußt es selbst tun.«
Ich schloß betäubt meine Augen. »W-wie?« flüsterte ich voller dunkler Befürchtungen. Er antwortete nicht.
»Ich werde morgen bei dir sein«, sagte er schließlich mit tiefem Mitgefühl in der Stimme. »Dann werden wir besprechen, was zu tun ist. Hältst du es noch eine Nacht aus?«
»Solange ich nur genug zu trinken habe ...« Magramanir hüpfte auf meine Schulter und biß mich tröstend ins Ohr. Ich sah ihr nach, wie sie aus dem Fenster flog, und richtete mich auf die nächste schreckliche Nacht ein. Die dämonischen Erscheinungen erreichten eine neue Heftigkeit, jetzt, da ich ihrer Schöpferin so nahe war. Ich versuchte gar nicht erst, mich auf mein Bett zu legen, lieber blieb ich in der Fensternische sitzen und preßte meine gleichzeitig brennende und eiskalte Stirn gegen das Fensterglas. Es war eine mondlose, sternenklare Nacht. Jedes einzelne der Myriaden funkelnder Gestirne schien mich erbarmungslos anzustarren. Eine grausame Kälte ließ meine Glieder erstarren. Ich klammerte mich an meinen Weinschlauch und weinte eisige Tränen. Hände lagen auf meiner Schulter und brannten sich tief in mein Fleisch.
Die Stimmen in meinem Kopf vereinigten sich zu einer einzigen, und ich vernahm erstmals klar und deutlich ihre Worte: »Es gibt mich nicht, Elloran, und was bedeutet das für dich? Weißt du es jetzt, Elloran? Hast du die Antwort? Wie lautet sie, Elloran? Denk nach. Es gibt mich nicht: Was bedeutet das für dich? Elloran, weißt du es?«
Immer und immer wieder, lauter und immer lauter donnerten die immer gleichen Fragen wie eine Woge durch meinen gemarterten Geist, bis ich glaubte, sterben zu müssen. In dieser nicht endenwollenden Nacht wurde ich wahnsinnig und war mir dessen gleichzeitig in vollkommener, grausamer Klarheit bewußt.
Als der Morgen graute, erhob ich mich wie eine willenlose, schlecht geführte Gliederpuppe und ging hinaus. Ich wanderte durch die Gänge der Burg, die ich so gut kannte – und betrachtete sie wie ein Fremder. Niemand begegnete mir auf meinem Weg. Es schien, als wären alle anderen Menschen gestorben und ich alleine in einer verrückt gewordenen Welt zurückgeblieben, nur ich und die Stimme in meinem Kopf. Jemand ging an meiner Seite, dem ich gleichmütig meine Augen zuwandte. Ein großer, bleicher Mann in einem düsteren Gewand und mit rabenschwarzem Haar betrachtete mich aus glühenden grünen Augen. Auf seiner Schulter saß ein schwarzweißer Rabe und sah mich ebenfalls an. Ich blieb stehen und faßte nach seiner Hand, um zu sehen, ob er verschwinden würde, wenn ich ihn berührte. Doch er blieb neben mir und hielt mich fest. Ich ließ es teilnahmslos zu. Er legte seine schmale Hand über meine Augen und flüsterte etwas. Vogelschwingen strichen über mein Gesicht.
»Jetzt, Elloran«, sagte er bestimmt. »Es ist soweit. Du weißt, was du zu tun hast.« Ich entzog meine Hand seinem Griff und ging weiter. Er folgte mir wie ein Schatten, und ich wußte, daß niemand außer mir in der Lage war, ihn zu sehen.
Meine Füße fanden den Weg zu Karas' Gemächern wie im Traum. Wahrscheinlich schlief ich, schlief endlich einmal wieder und träumte diesen Traum. Ich blieb vor der Tür stehen und legte meinen Kopf an das dunkle Holz. »Geh hinein«, wisperte der Mann. »Er ist alleine.«
Ich drückte sacht die Klinke hinunter und schob behutsam die schwere Tür auf. Das vertraute vordere Zimmer war dunkel und leer, und die Tür zum Schlafraum stand einen Spalt offen. Ich öffnete sie ganz und stand vor Karas' Bett. Träumerisch griff ich an meinen Zopf und löste die Kordel, schüttelte mein Haar aus und spürte, wie es meine Hüften berührte. Ich trat an Karas' Bett und blickte auf ihn hinunter. Er sah ganz so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: Das schwere Gesicht war tief gefurcht und seine Brauen zusammengezogen, als verfolgten ihn auch im Schlaf noch Sorgen. Ich berührte sanft seine weiche Hand, die auf der Bettdecke ruhte und sah ihn erwachen. Er öffnete die Augen und blickte mir ins Gesicht. Verwirrung, Furcht und Freude malten sich auf seinen Zügen, und er setzte sich hastig auf, seine Arme nach mir ausgestreckt.
»Elloran«, sagte er heiser. »O mein liebes Kind, wie freue ich mich, dich zu sehen!«
Ich lächelte ihn liebevoll an und schlang die Kordel um seinen Hals. Sein Gesicht zeigte höchsten Unglauben, als ich ihn erwürgte. Endlich sanken seine Hände, die meine Handgelenke umklammerten, kraftlos hinunter. Der Blick seiner hervorquellenden Augen brach im Tod. Ich zog die seidene Kordel noch etwas fester und verknotete sie in der tiefen Furche, die sie in seinen fleischigen Nacken geschnitten hatte. Dann zog ich die Bettdecke hoch, um sie zu verdecken.
»Gut so«, hauchte der Mann neben mir. »Jetzt warte, es kann nicht mehr lange dauern.« Ich setzte mich auf die Bettkante und betrachtete ohne jedes Gefühl die Leiche meines Großvaters. Jetzt war ich die Krone, wurde mir auf einmal klar; aber selbst dieser Gedanke berührte mich seltsam fern. Die äußere Tür klappte, und schnelle Schritte näherten sich.
»Zeit zum Aufstehen, Liebster«, erklang eine fröhliche Stimme. Meine Großmutter stand in der offenen Tür zum Schlafgemach. Sie sah mich auf der Bettkante sitzen und öffnete in höchstem Erstaunen den Mund. »Elloran«, rief sie überrascht. »Wo kommst du her?« Ihr Blick streifte den Leichnam, und sie sah mich mißtrauisch an.
»Er scheint sich nicht wohlzufühlen«, sagte ich. »Sieh ihn dir d-doch bitte einmal an, Großmutter.« Sie trat heran und berührte Karas an der Schulter. Er regte sich nicht, und sie beugte sich tiefer über ihn, um die Decke zurückzuschlagen. Mit einem herzzerreißenden Schrei fuhr sie auf und zu mir herum. Ehe sie auch nur eine abwehrende Bewegung machen konnte, hatte ich den S'aavaranischen Stahl tief in ihre Brust gesenkt. Sie starb leichter als ihr Mann. Fast bedauernd zog ich den Dolch aus ihrem leblosen Körper. Der Blutstein an seinem Griff leuchtete in einem unheilvollen Feuer, als hätte ihr warmes Herzblut ihn zum Leben erweckt. Ich stand wie betäubt und gleichzeitig so hellwach wie noch nie in meinem Leben vor den beiden Toten.
»Weiter«, flüsterte der Dunkle. »Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen, ehe du dich ausruhen kannst. Gehe zu ihr, aber hüte dich, den Thronsaal zu betreten, ehe sie tot ist. Hörst du? Du darfst den Thronsaal nicht betreten!« Ich nickte ungeduldig. Hielt er mich für taub oder dumm? Ohne zurückzublicken, ging ich auf den Gang hinaus. Etwas zog mich wie ein Magnet hinunter, aus dem Gebäude und hinaus in den Rosengarten. Tau perlte auf den grünen Blättern und erste zarte Blütenknospen prangten an den unzähligen Sträuchern und Hecken. Ich ging wie ein Schlafwandler auf die Mitte des kleinen Labyrinths zu, das eine meiner Ahnen hier hatte pflanzen lassen, und dort wartete sie auf mich. Ihre hohe, schwarze Gestalt in den leuchtend weißen Gewändern und mit der Aureole weißen Haars stand schweigend und reglos da und sah mir entgegen, wie ich mich ihr mit dem blutigen Dolch in der erhobenen Hand näherte.
Sie ließ mich bis auf wenige Schritte an sich herankommen, dann hob sie gebieterisch den Arm. Ich prallte gegen eine unsichtbare Wand. Der Dunkle zischte wütend in mein Ohr. Sie senkte die Hand, und eine zweite Gestalt löste sich aus ihrem Schatten und trat an mich heran. Ein weißer Kapuzenmantel umhüllte sie vollständig. Wer auch immer es war, er sollte mich durchlassen, ich mußte mein Werk vollenden, damit ich endlich wieder schlafen konnte.
Jetzt stand sie vor mir und schlug die Kapuze ein Stück zurück. Ich sah in das erbarmungslose Gesicht meines Dämons.
»Töte sie!« zischte der Mann. »Du mußt sie töten, damit du dich endlich von ihr befreist, sonst wird sie dich dein Leben lang verfolgen und quälen. Vernichte sie, Elloran!«
Ihre Augen hielten mich gefangen. »Weißt du die Antwort, Elloran?« fragte sie flüsternd. Ich ächzte und richtete den Dolch gegen ihre Brust.
»Töte sie endlich, sonst vernichtet sie dich!« kreischte der Mann hinter mir. Sie hob eine schlanke Hand und strich sanft über meine Augen. Die Nebel hoben sich von meinen Augen, und die barmherzigen Schleier wichen von meinem Geist. Ich sah, was ich nicht hatte sehen wollen.
Ihr Gesicht verzerrte sich in mitfühlendem Schmerz, als ich mich vor Qual zusammenkrümmte, die blutige Hand immer noch um den Dolch gekrampft. Die schweigende Gestalt hinter ihr hatte die Arme ausgebreitet, als flehte sie alle Geister um Beistand an.
»Erkennst du es jetzt, Elloran?« fragte meine Schwester. Ich schluchzte vor Grauen. »Ich habe schon einmal versucht, es dir zu zeigen, erinnerst du dich?« fuhr sie fort. Ich flehte sie an, mich zu verschonen, aber sie zeigte kein Erbarmen. In ihren mitternachtsblauen Augen spiegelten sich all meine Taten, und ich mußte sie ansehen, konnte meinen schreckenstarren Blick nicht davon abwenden. Ich sah die noch jugendliche, aber schon von innen her verfaulende Fratze des verderbten Tyrannen, den sie mir einst als Warnung in meinen Fieberträumen vorgeführt hatte, und vor dem ich meine Augen verschlossen hatte.
Ich sah, wie ich, nur auf mein eigenes Wohl bedacht, gewissenlos jeden ausnützte, der mir seine Freundschaft anbot, ich sah den letzten Blick, den Katarin mir zuwarf und wie ich keinen Finger rührte, um sie zu retten, obwohl ich nur zu gut wußte, was mit ihr geschehen würde. Ich sah mich nicht eine Träne um meine getöteten Freunde aus dem Blauen Viertel vergießen. Ich sah, wie ich Cesco bestialisch mordete und Nikal an seine Feinde auslieferte. Ich sah Karas und Veelora von meiner eigenen Hand sterben.
»Bitte, laß mich gehen!« flehte ich, aber sie gab nicht nach.
»Du bist mir noch eine Antwort schuldig«, forderte sie hart. »Antworte, Elloran!« Ich wimmerte. Ihr Gesicht wurde weicher, und ihre Augen waren voller Liebe.
»Karas und Veelora leben«, flüsterte sie fast unhörbar. »Leonie hat dir ihre Trugbilder geschickt.«
Meine Knie gaben vor Erleichterung nach. Julian packte mich eisenhart bei der Schulter und keuchte: »Sie lügt, Elloran. Glaube ihr nicht; sie will dich nur einlullen, damit sie dich leichter beseitigen kann! Sie ist Leonies Geschöpf, sie wird dich vernichten!«
»Hör nicht auf ihn«, unterbrach ihn die ruhige Stimme meiner Traumschwester. »Er ist es, der dich belügt. Glaubst du wirklich, er hätte dich geheilt, Bruder? Dazu ist er überhaupt nicht in der Lage. Du stirbst, du stirbst noch immer!«
Ich stand wie versteinert. »Wer hat mich vergiftet?« fragte ich stockend und las die Antwort aus ihren kummervollen Augen.
»Sie lügt!« kreischte Julian. »Hör nicht auf sie, Neffe! Töte sie, solange du dazu noch in der Lage bist. Erinnere dich, wem du vertrauen kannst!«
Zögernd hob ich den Dolch gegen sie. Seine Spitze zitterte. Meine Schwester sah mich furchtlos an und wich keinen Zentimeter zurück. Rund um uns erbebten die Konturen des Rosengartens und wichen eckigen, harten Linien. Hohe schwarze Säulen erschienen, und unter meinen Füßen fühlte ich kalten Marmor. Julian schrie gellend auf.
Ich spürte, ohne den Blick von meiner Schwester zu wenden, wie rund um uns vertraute Gestalten auftauchten. Es war, als sollten die Menschen, die mein Leben begleitet hatten, nun auch das Ende sehen. Ich griff den Dolch fester und blickte in ihre tiefen, dunklen Augen.
»Die Antwort, Elloran?« drängte sie sanft. »Weißt du die Antwort?« Ich lächelte mit tauben Lippen. Die Antwort auf ihre Frage erschien flammend vor meinen Augen. Ich spürte, wie eine weiche, dunkle Ruhe mich überkam.
»Ja«, flüsterte ich, während ich den Dolch drehte, »es gibt mich nicht!«
Ein kurzes, letztes Zögern – und ich stieß ihn tief in meine Brust. Ich keuchte. Niemand hatte mich auf den ungeheuren, verzehrenden Schmerz vorbereitet, mit dem der Stahl in mein Fleisch drang, Haut und Muskeln wie mit Feuerzungen durchtrennte, glühend an einer Rippe vorbeischrammte – Göttin, dieser Schmerz!
Meine schwächer werdenden Hände glitten, glitschig von meinem eigenen Blut, vom Heft des Dolches ab. »Hilf mir«, flehte ich tonlos. Ihre ruhigen Finger umschlossen meine Hände und halfen mir, den Stahl weiter in das gemarterte Fleisch zu treiben, bis seine grausame Spitze mein angstvoll gegen die Rippen schlagendes Herz berührte und mit einer letzten Anstrengung unserer Hände tief hineindrang. Die Beine versagten mir den Dienst. Sie fing mich auf, ließ mich sanft zu Boden gleiten und bettete meinen Kopf in ihren Schoß. Ihre kühlen Hände strichen über mein schweißverklebtes Haar, und ihre Tränen fielen wie sanfter Regen auf mein emporgewandtes Gesicht.
Ich suchte ihren Blick durch die Schleier, die sich über meine Augen senkten. Wie in weiter Ferne hörte ich Schreie und Rufen, aber es berührte mich nicht mehr. Alles, was gut und wichtig war, konzentrierte sich in der Tiefe dieser nachtblauen Augen. Sie beugte sich über mich und küßte mich auf meine blutigen Lippen.
»Schlafe, Elloran«, flüsterte sie. »Es ist vorbei. Schlafe nun endlich, mein liebster Bruder.« Die Umrisse des Thronsaales verschwammen, die hohen Säulen versanken um mich, und ich lag sterbend alleine auf der endlosen grauen Ebene des Spieles. Unter mir glühte unheilvoll rot die Herzlinie, getränkt und gefärbt von meinem Blut.
»Das Spiel ist vorüber«, sagte die Spielerin. Erst jetzt, im Augenblick meines Todes, erkannte ich ihre Stimme. »Deine Figur ist geschlagen, du bist besiegt.«
»Nein!« antwortete Julians haßerfüllte Stimme. »Du irrst dich! Unser Spiel geht weiter. Ich fordere den Zweikampf!«
Ein Rabe krächzte voller Hohn, und als letztes Geräusch in diesem Leben hörte ich das leise Seufzen der Obersten Maga. Mein Herz hörte auf zu schlagen, Nebel löschten die Welt aus, und mein Geist machte sich auf den mühsamen Weg nach Hause. Mein Spiel war nun für alle Ewigkeit beendet.
Die Menschen im Thronsaal der Kronenburg standen wie versteinert. Tom hatte die Hände vor die Augen geschlagen, und seine Schultern bebten, während Akim ihn festhielt. Jenka klammerte sich weinend an Jemaina, die mit trockenen Augen und einem merkwürdig friedvollen Ausdruck auf dem Gesicht auf die kniende Gestalt in dem weißen Kapuzenmantel blickte, die den Toten in ihren Armen hielt. Veelora und Karas hielten sich wie verirrte Kinder bei den Händen, und die Oberste Maga senkte langsam die erhobenen Arme und öffnete ihre gelben Augen.
»Laß ihn los, Kind«, sagte sie, und der Widerhall ihrer leisen Stimme erklang gespenstisch zwischen den marmornen Wänden. »Es ist nur noch sein Körper.«
Wie mit den Augen eines Fremden sah ich zu, wie die weißgekleidete junge Frau den Leichnam behutsam zu Boden gleiten ließ und mit blutbefleckten Fingern seine starren Augen schloß. Sie zog den kostbaren Dolch aus seinem Herzen und schleuderte ihn fort.
Dann ließ ich den weißen Mantel von meinen Schultern gleiten und deckte ihn mit einem letzten Blick über den Toten.
»Es ist gut, Kleines«, sagte Leonie beruhigend. »Du hast deine Sache sehr gut gemacht.«
Jenka schrie in höchstem Entsetzen auf, als ich mich umdrehte und Leonies ausgestreckte Hand ergriff. Auch in den Gesichtern der anderen erblickte ich namenlose Angst und Verwirrung.
Tom stöhnte fassungslos. Ich sah flüchtig zu ihm hinüber, im Geiste immer noch bei dem, was mir gerade widerfahren war. Es war eine große, betäubte Leere in mir und gleichzeitig ein ungeheurer Ansturm von Bildern, Tönen, Gefühlen und Erinnerungen, denen ich mich kaum gewachsen fühlte. Ich wandte mich um und sah die Magierin hilfesuchend an. Sie verstand meine stumme Bitte. »Du mußt dich ausruhen«, erklärte sie und ergriff stützend meinen Arm, um mich hinauszuführen. »Deine Freunde können warten, Elloran.«