9

Unbestimmte Zeit lag ich da, ohne zu wissen, wer oder wo ich mich befand. Mein Lager bewegte sich, rüttelte und klapperte und schüttelte mich nicht schlecht durch. Soweit ich überhaupt etwas außerhalb meines beinahe zerspringenden Kopfes bemerkte, war es die liebevolle und lindernde Gegenwart eines Paars Hände, die mich pflegten und beruhigten, und die dazugehörige sanfte und freundliche Stimme. Sie sprach mit mir, obwohl ich nicht in der Lage war zu begreifen, was sie sagte. Aber schon allein ihre Gegenwart beruhigte mein verstörtes Gemüt und besänftigte den pochenden Schmerz.

Irgendwann, nach einer schieren Ewigkeit von Qualen und Übelkeit, öffnete ich meine verklebten Augen und sah in das Gesicht, das zu Händen und Stimme gehörte. Die langbewimperten, hellbraunen Augen blickten mich forschend an, und die Stimme sagte: »Das sieht doch schon besser aus. Wie fühlst du dich?«

Ich fuhr mir mit der Zunge über meine aufgesprungenen Lippen. Die Hände hoben ganz sacht meinen Kopf etwas an und flößten mir köstliches, kühles Wasser ein. Dankbar ließ ich meinen schmerzenden Kopf wieder zurücksinken. Ich lag auf einem notdürftigen Lager aus Decken und Fellen in einem kleinen, schaukelnden Zimmer mit dunklen Wänden und einer niedrigen Decke aus Holzplanken. Die Hände legten mir etwas Kühlendes auf die Stirn.

»Weißt du, wer ich bin?« fragte die Stimme. Ich versuchte mich zu erinnern, aber Stimme und Hände und Gesicht blieben mir trotz der Vertrautheit, die ich empfand, fremd und entzogen sich einer Benennung. Ich krächzte einen Laut des Bedauerns. Die Hände zogen das Laken um mich glatt und strichen mir sanft über die Schulter. »Quäl dich nicht, das kommt schon alles wieder. Schlaf, Elloran.«

Elloran. Das war – das war ... Das Abbild eines vertrauten Gesichtes erschien vor meinen Augen, aber das war – ja, das war meine Schwester. Wie hieß sie noch? Elloran. Ja, Elloran. Etwas, an das ich mich halten konnte. Erleichterung. Ich schlief ein und erwachte, schlief ein und erwachte, trank Wasser, und jemand – andere Hände, andere Stimme; Frau, nicht Mann, flößte mir etwas Warmes, Salziges ein. Suppe. Hände, Suppe, Elloran.

Als ich das nächste Mal erwachte, hatte sich etwas verändert. Mein Kopf schmerzte nicht mehr gar so stark. Die Stimme eines Mannes – die erste, freundliche – sprach wieder, aber nicht zu mir. Da war noch ein Jemand in dieser schwankenden, rüttelnden Kammer. Ich erinnerte mich, ihn schon vorher bemerkt zu haben, aber ich hatte ihn wieder vergessen.

»Anscheinend hat die Katze doch mehr als neun Leben. Wenn ich alleine nachzähle, wie oft ich dich in den letzten Jahren wieder zusammenflicken durfte ... Du hast ein verdammtes Glück gehabt. Er hat auf dein Herz gezielt, und er hat gut gezielt!« Zwei Stimmen lachten, eine davon schwach und heiser. »Dank es deiner verqueren Anatomie, aber er hat dir ›nur‹ den linken Lungenflügel durchbohrt. Das Loch habe ich einigermaßen wieder gestopft, aber so leicht kommst du mir dieses Mal nicht davon: das Aquarium wartet schon auf dich!«

»O Maddoc, bitte! Das kannst du mir nicht antun!« stöhnte der andere schwächlich.

Aber die erste Stimme blieb unbarmherzig: »Keine Widerrede! Das ist schon lange fällig, und diesmal lasse ich keine Ausrede mehr gelten. Du kannst nicht mit einem löchrigen Lungenflügel herumlaufen, den ich nur mit Spucke und Bindfäden zusammenhalte. Das Aquarium: und wenn ich dich mit vorgehaltener Waffe dazu zwingen muß!«

»Was, etwa mit deiner todbringenden Bratpfanne? Ich erzittere vor Angst, mein Teurer!« Schwach, aber unverkennbar spöttisch. Erinnerung regte sich.

»Tom?« krächzte ich.

Verblüfftes Schweigen. »Hast du das auch gehört?« fragte die Stimme des ersten. Rascheln und Geräusch von Bewegung. Das hübsche, dunkle Gesicht erschien wieder in meinem Blickfeld. Ich wandte mühsam den Kopf und blinzelte. Unweit von mir lag ein stämmiger Mann auf einem improvisierten Lager. Er stützte sich zittrig auf die Ellbogen, auf seinem haarigen dunklen Brustkorb leuchtete ein heller Verband. Er sah mich aus schmerzverschleierten Augen an, sein Gesicht war voller Schatten.

»Hast du etwas gesagt, Elloran?« fragte der Freundliche. Sein Gesicht schien besorgt. Ich konzentrierte meinen verschwimmenden Blick auf ihn, und eine Schublade meines Gedächtnisses öffnete sich und gab widerwillig, wie ein Köter seinen Knochen, einen kleinen Brocken Information frei.

»Akim.« Die Erinnerungsarbeit strengte mich an. Ich schloß die Augen und schlief schon halb wieder. Die Hände – Akims Hände – strichen über meine Stirn.

»Es kommt wieder«, hörte ich ihn murmeln. »Gott sei gedankt, es kommt wieder.«

Ab da ging es mir mit jedem kurzen Einschlafen und Aufwachen besser. Bei einem der nächsten Male wußte ich wieder, wo ich war. Ich drehte mich vorsichtig auf meinem Lager, um zu Tom hinüberzusehen. Er schien zu schlafen, und sein krankes, abgezehrtes Aussehen erschreckte mich zutiefst. Ich tastete nach ihm und fand seine Hand. Sie fühlte sich erschreckend kühl an, und ich hielt sie fest mit meinen Fingern umschlossen, während ich wieder wegdämmerte.

Ranan, einen Napf mit Suppe in der Hand, weckte mich durch ihr Eintreten. Der Wagen stand still, und es war dämmrig. Sie lächelte breit und kauerte sich neben mich auf den Boden.

»Ablösung«, flüsterte sie. »Akim hat eine Pause verdient, deshalb darf ich dich füttern.« Sie half mir, den Kopf weit genug zu heben und hielt den Napf an meine Lippen. Ich trank gehorsam von der heißen Brühe, aber mehr als ein paar Schlucke konnte ich nicht zu mir nehmen. Mir war schwindlig und immer noch leicht übel. Benommen sah ich zu der großen Frau auf, die meine Decken zurechtzog.

»Du siehst wohler aus. Akim ist recht zufrieden«, sagte sie leise.

»W-was ist mit T-Tom?« fragte ich. Sie hob die Schultern.

»Er ist zäh; du wirst sehen, er ist schneller wieder auf den Beinen, als Akim lieb ist. Freu dich schon mal auf den Streit, den es dann geben wird, ob er aufstehen darf. Tom gewinnt ihn immer.« Sie kicherte und faltete sich wieder zu fast ihrer vollen Länge auseinander. Hier im Wagen konnte sie nicht aufrecht stehen. »Schlaf jetzt, Elloran. Schlafen ist das Beste, was du tun kannst, sagt Akim.« Sie warf noch einen besorgten Blick auf Tom und verließ uns. Ich seufzte und schloß meine Finger wieder um die reglose Hand Toms. Er bemerkte es wahrscheinlich nicht einmal, aber mir war die Berührung tröstlich.

Ich schlief wieder, und dieses Mal war mein Schlaf tiefer und erholsamer als das unruhige, kurze Wegdämmern, das meine letzten Stunden – oder gar Tage? – begleitet hatte. Ich schlief traumlos und erwachte nur, weil mir ein fremdes Gewicht an meiner Schulter bewußt wurde. Mühsam lenkte ich meinen Blick dorthin und sah auf einen runden Kopf mit spärlichem Haarwuchs und spitzen Ohren, der an meiner Schulter ruhte. Toms Augen waren geschlossen, und sein Atem ging ruhig. Er roch ganz schwach nach saurer Milch und Zimt, aber sein Körper war wieder beruhigend warm. Ich legte, um es ihm etwas bequemer zu machen, vorsichtig meinen Arm um ihn und sank wieder in Schlaf.

»Nein, was für ein rührendes Bild«, spöttelte eine heisere Stimme. Ich öffnete die Augen und sah in der Tür die verkrüppelte Gestalt des Fremden stehen. Helles Sonnenlicht fiel durch die Tür und verlieh dem Schattenriß eine strahlende Aureole. Tom neben mir rührte sich und erwachte. »Guten Morgen, S'TomCroQ'nan«, sagte der Fremde förmlich.

»Guten Morgen, Quinn«, murmelte Tom schläfrig. Seine Stimme klang kräftiger. Er drückte kurz und fest meine Hand und ließ sie los. Vorsichtig setzte er sich. Quinn trat näher und hockte sich neben ihn, ohne mir auch nur einen Blick zu gönnen.

»Was meinst du, Tom, fühlst du dich kräftig genug? Ich würde gerne gleich mit dir reden.« Das war in verbindlichem Ton vorgebracht, doch der darunter liegende Befehl war kaum zu überhören.

Toms Gesicht glich einer abweisend geschlossenen Tür, aber er antwortete, ohne zu zögern: »Zu Befehl, Captain.«

Ich musterte den Fremden, der mir nun den Gefallen tat, sein Gesicht ins Licht zu wenden. Wie bei einem Vexierbild, das man lange betrachtet, verschoben sich seine Züge vor meinen Augen und setzten sich neu zusammen. Ich blinzelte verblüfft. Wie hatte ich Quinn nur für einen Mann halten können? Sie hatte Tom ihre Hand auf die Schulter gelegt und sah ihn schweigend an. Er wand sich unter diesem Blick, senkte aber die Augen nicht.

»Tom«, sagte Quinn leise tadelnd, »sei bitte nicht verstockt. Ich denke, ich habe ein gewisses Recht darauf, von dir zu erfahren, was hier vor sich geht. Oder etwa nicht, Commander?« Er antwortete nicht, und sie wandte sich ab. Ein flüchtiger kalter Blick traf mich, bevor sie ausstieg. »In einer halben Stunde«, sagte sie und schloß die Tür.

Tom hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Als ich ihn zaghaft an der Schulter berührte, blickte er auf. Ich war auf Verzweiflung oder Zorn gefaßt gewesen, doch nicht auf die fröhliche Ergebenheit, mit der er mich ansah.

»Das gibt ein Festessen, mein Herz«, sagte er heiter. »Sie wird mich häuten, ausnehmen, entbeinen, in kleine Stückchen schneiden und ein wunderbares Ragout bereitet haben, noch ehe einer von euch die Zwiebeln dazu geschält hat.« Ich hatte ihn noch nie in einer so seltsamen Stimmung erlebt. Seine Augen glitzerten; er zog mich hart an sich und gab mir einen Kuß, der eher einer Ohrfeige als einer Liebkosung glich. Dann kam er langsam auf die Beine und bewegte vorsichtig seine Schultern, reckte die Arme und bückte sich, um in einer der Kisten nach einem Hemd zu suchen. Er schwankte und hielt sich an der Kiste fest, zerrte ein dunkles weites Hemd heraus und zog es sich ächzend über den Kopf. Ermattet sank er in die Hocke und schloß die Augen. Sein Gesicht war kreidebleich, und die Schatten unter seinen Augen schienen sich zu vertiefen, während ich ihn ansah.

Die Tür schwang auf und knallte gegen die Außenwand. Akim stürmte herein und brüllte sofort los: »Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Wer hat dir erlaubt, aufzustehen? Du legst dich sofort wieder hin!« Ich verzog mich vorsichtshalber aus der Gefahrenzone.

Tom blinzelte den aufgebrachten Heiler mutwillig an und sagte matt: »Befehl von oben, Maddoc. Schrei doch zur Abwechslung ein bißchen mit Quinn herum.«

»Das werde ich«, versprach Akim ergrimmt. »O ja, das werde ich. Du legst dich auf deinen verdammten Rücken und hältst dein Maul! Das gleiche gilt für dich, Landplage!« fügte er in meine Richtung hinzu. Rumms! schmetterte die Tür wieder ins Schloß. Er schien uns immerhin für so weit genesen zu halten, daß wir das vertragen konnten.

Tom machte nicht den Eindruck, als wolle er dem Befehl des Heilers Folge leisten. Er fluchte leise und kam wieder auf die Beine. Etwas wackelig ging er zur Tür und öffnete sie. Er warf einen vorsichtigen Blick hinaus, wandte sich zu mir und legte einen Finger auf die Lippen.

»Bleib hier, schlaf noch etwas«, flüsterte er. Er zwinkerte mir zu und kletterte schwerfällig aus dem Wagen. Die Türe schloß sich sachte hinter ihm, und ich lag allein in der dämmrigen Stille des Wagens. Ich mußte wirklich wieder eingenickt sein, denn das nächste, was ich hörte, war Quinns schroffe Stimme, die von draußen zu mir hereinschallte.

»Ich glaube, Commander, Sie sind mir eine Erklärung schuldig. Bisher habe ich Ihre Eskapaden immer geduldet, aber das hier geht jetzt wirklich zu weit! Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, dieses Kind mitzuschleppen und damit unseren gesamten Auftrag zu gefährden?« Schweigen.

»Meine Güte, Tom! Was hat dich nur geritten?« brüllte Quinn. »Du verlauster Sohn einer Straßenkatze! Hör endlich auf, mit deinen Testikeln zu denken und benutze zur Abwechslung einmal deinen Kopf! Du weißt genau, daß es mir gleich ist, wo und mit wem du herumbumst, aber dieses Mal hast du alle Grenzen überschritten. Kannst du mir bitte sagen, wie ich das alles Omelli erklären soll?« Ich hielt es nicht mehr aus und kroch langsam aus dem Wagen – wie eine geisteskranke Schnecke aus ihrem Haus.

Quinn tigerte vor Tom auf und ab, der schweigend und totenbleich auf einer Kiste hockte. Akim und Ranan standen mit betroffenen Gesichtern hinter ihm und blickten wie hypnotisiert auf ihre schäumende Anführerin. Auf unsicheren Beinen tappte ich zu Tom hinüber und baute mich neben ihm auf. Quinn starrte mich an, und ich erfuhr am eigenen Leib, wie ein Kaninchen sich unter dem Blick eines Habichts fühlen mußte. Die kalten grauen Augen nahmen mich erbarmungslos auseinander und setzten mich nachlässig wieder zusammen. Ich merkte, daß ich am ganzen Leib bebte. Tom griff nach meiner Hand und umklammerte sie so fest, daß ich meinte, meine Knochen knirschen zu hören.

»Was zum ...«, murmelte Quinn. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck des Erstaunens. Sie trat an mich heran und faßte nach meinem Kinn. Sie drehte meinen Kopf zur Seite und zurück und musterte mich aus schmalen Augen unter zusammengezogenen Brauen. Dann ließ sie mich los und trat einige Schritte zurück. Ihre Miene war nachdenklich. Ich sah Tom fragend an, aber er schien über Quinns eigentümliches Verhalten genauso befremdet zu sein wie ich.

Sie holte tief Luft und drehte sich wieder zu uns. »Also gut. Ehe unser verehrter Doktor mir ins Gesicht springt: Tom, du legst dich wieder hin. Die Sache ist für mich noch nicht erledigt, aber ich verschiebe die Klärung auf einen späteren Zeitpunkt. Akim, Ranan, macht alles reisefertig. Ich will noch mit dem Jungen reden.« Mir rutschte das Herz in die Hose.

Tom stemmte sich hoch und sagte flehend: »Quinn ...« Sie sah ihn abweisend an, dann wurde ihr Gesicht um eine winzige Nuance weicher.

»Leg dich hin, Kater«, wiederholte sie. »Ich werde deinem Liebsten schon nicht die Nase abbeißen.« Tom senkte den Kopf und gehorchte. Ich spürte noch den Druck seiner Hand, dann war er fort. Von allen alleingelassen, stand ich vor dieser schreckenerregenden Frau und bemühte mich, meine Angst nicht so deutlich zu zeigen. Sie bedeutete mir, mich zu setzen und ging wieder auf und ab. Gedankenverloren rieb sie dabei über ihren Armstumpf.

»Du siehst mich an, als hieltest du mich für ein Ungeheuer«, sagte sie ruhig. Sie blieb dicht vor mir stehen und blickte mir ins Gesicht. »Nun?« meinte sie sanft, als ich schwieg.

Ich faßte mir ein Herz und öffnete den Mund. »Jjjj ...« Im zweiten Anlauf brachte ich endlich ein ›Ja‹ hervor und ließ es dabei bewenden.

Quinn verdrehte die Augen und murmelte: »Ihr Götter, was findet er nur an diesem Bauerntölpel!« Ich wurde blutrot. Sie hockte sich neben mich und nahm meine Hand. Ich ließ es widerwillig zu.

»Hör zu, Junge. Wir haben eine wichtige und sehr anstrengende Mission zu erfüllen. Ich kann es mir nicht leisten, daß meine Leute dabei abgelenkt werden. Ich kann nicht zulassen, daß sie verwundet oder getötet werden, weil sie jemanden am Rockzipfel hängen haben, der in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt! Verstehst du mich?« Ihre Stimme klang hart und entschieden. Ich senkte den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie recht. Dieser Überfall hatte mir gegolten, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, warum. Tom war dabei fast getötet worden, was somit auf mein Kerbholz ging. Ich nickte resigniert. Sie klopfte mir erleichtert auf die Schulter.

»Brav, mein Junge. Akim sagt, du hättest eine ordentliche Gehirnerschütterung, deren Heilung aber gut vorangeht. Ich setze dich jetzt nicht hier mitten im Wald aus, aber bei dem nächsten Gasthof, zu dem wir kommen, verläßt du uns. Ich gebe dir genügend Geld, daß du dir einen Schlafplatz mieten kannst, bis du wieder bei Kräften bist.«

Sie wartete mein Nicken ab und fuhr fort: »Und jetzt sag mir bitte: warum sind wir überfallen worden? Wer waren diese Leute?« Ich zuckte mit den Achseln. Das waren keine von Moraks Soldaten gewesen, und wer sollte mich sonst gefangennehmen wollen? Sie schüttelte den Kopf.

»Wir haben versucht, den einen zu vernehmen, den Akim mit der Pfanne verarztet hat. Die anderen waren ja nicht mehr allzu gesprächig, nachdem Ranan und Tom mit ihnen fertig waren. Aber er hat es vorgezogen zu sterben. Du weißt es wirklich nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Schade«, sagte sie. »Aber es ist schließlich nicht unser Problem.« Sie zögerte. »Akim sagte, du kennst Nikolai?« fragte sie. Da war etwas in ihrer Stimme, das mich neugierig machte. Ihr Gesicht wirkte undurchdringlich, aber ihre Stimme verriet sie.

»J-ja. Nik ist m-mein F-Freund.« Warum fiel mir nur das Sprechen so schwer?

»Du bist nicht mit ihm verwandt?« fragte sie barsch. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Sie nickte wieder und stand auf. »Wir fahren jetzt los. Du solltest dich auch wieder hinlegen, Kind. Maddoc macht mir sonst die Hölle heiß.«

Ich schleppte mich geschlagen in den Wagen zurück. Tom lag mit weit offenen Augen auf seinem Lager und starrte ins Leere. Ich sprach ihn an, aber er reagierte nicht. Ich rollte mich unter meiner Decke zusammen und verbiß mir die Tränen. Ich war kein Kind mehr, das losgreinte, wenn es seinen Willen nicht bekam. Diese Genugtuung sollte Quinn nicht haben; ich würde ihr nichts vorheulen, weil sie mich fortjagte. Ich wollte sie nicht über mich bestimmen lassen! Zwar konnte ich sie nicht dazu zwingen, mich weiter mitzunehmen, und sicher würde ich sie nicht darum bitten! Aber ich hatte vor, Zeitpunkt und Ort meines Abgangs selbst zu bestimmen. Ein trockenes Schluchzen entfuhr mir. Tom bewegte sich, seine Hand berührte meine Schulter. Ich blieb regungslos liegen, als schliefe ich. Er seufzte und blieb an meiner Seite. Seine Hand strich leise über meinen Arm und wieder zurück zur Schulter, eine seltsam trostlose, mechanische Geste.

»Chu-chula«, flüsterte er heiser und unglücklich. »Chu-chula

Der Tag ging vorüber, das Nachtlager wurde aufgeschlagen, Ranan brachte uns Suppe und Brot. Akim wechselte Toms Verbände und versorgte die Beule an meinem Hinterkopf, wieder so schweigsam und mürrisch, wie ich ihn kannte.

Tom und ich wechselten kein Wort miteinander. Er sah elend aus, das bleiche Gesicht verschlossen wie eine eiserne Maske. Es wurde früh ruhig im Lager, anscheinend waren alle zu erschöpft und nicht in der Stimmung, um noch am Feuer zu sitzen und zu schwatzen.

Ich wachte die ganze Nacht hindurch, die Arme um die Knie geschlungen. In der vergangenen Zeit hatte ich mehr als genug Schlaf bekommen; mir war, als würde ich in meinem ganzen Leben kein Auge mehr zutun können. Das Bündel mit meinen spärlichen Kleidungsstücken und dem aufgesparten Kanten Brot vom Abendessen lag griffbereit neben der Tür. Als draußen die ersten zaghaften Vogelrufe die nahende Morgendämmerung ankündigten, krabbelte ich leise die Treppe hinunter und zog mein Bündel vom Wagen. Lautlos umrundete ich die Schläfer neben dem Wagen und schlug mich in die Büsche. Der brave Schimmel tauchte wie ein bleiches Gespenst neben mir auf und schnaubte fragend. Ich legte meine Hand über seine Nüstern und strich über seine Stirn. »Leb wohl, Frost«, flüsterte ich wehmütig und gab ihm einen Klaps. Er schüttelte seine Mähne und graste still weiter.

Als die Sonne höher stieg, hatte ich mich schon ein gutes Stück vom Lager entfernt. Ich war mir nicht im Klaren, wie man auf meine Abwesenheit reagieren würde. Sie würden wohl kaum nach mir suchen. Dennoch hielt ich Ohren und Augen offen, während ich auf dem staubigen, ansteigenden Weg weiterging. Das Wäldchen lag hinter mir, jetzt begleiteten mich Weizenfelder. Wie weit mochte es wohl noch bis zur Kronenburg sein? Wenn ich wenigstens gewußt hätte, wie lange die Gehirnerschütterung mir mein Bewußtsein geraubt hatte und welche Strecke wir in dieser Zeit zurückgelegt hatten. Bei dem Gedanken an tagelange Märsche wurde ich weich in den Knien. Ich war beileibe noch nicht genesen, das merkte ich schon jetzt nach einigen wenigen Stunden Fußweg.

Hinter mir rollten Räder auf der Straße – und es erklang dumpfer Hufschlag. Ich ging sicherheitshalber am Feldrain in Deckung. Einige bange Minuten später kam der vertraute bunte Karren in Sicht. Akim saß wie immer auf dem Bock, Ranan ritt nebenher und wandte pausenlos ihren Kopf von rechts nach links. Quinn und ihre braune Stute waren nicht zu sehen. Doch, jetzt tauchten sie auch aus der Senke auf. Kerzengrade saß Quinn im Sattel, die Zügel in ihrer einzigen Hand. Sie überholte Ranan und den Wagen und trabte voraus, außer Sicht. Der Wagen rollte behäbig an mir vorbei, das Biest warf noch einen hinterhältigen Blick auf das Gebüsch, in dem ich mich verbarg, und fort waren sie. Ich vergaß alle meine Vorsätze, legte den Kopf auf die Arme und weinte mich in unruhigen Schlummer.

Die Glöckchen an meiner Kappe klingelten leise. In dunstiger Ferne sah ich einen himmelhohen, von Burgzinnen gekrönten Berg aufragen.

»Du bist ein besserer Spieler geworden, mein Freund.«

»Ich hatte eine gute Lehrerin.«

»Dein letzter Zug war sehr geschickt. Du willst deine Figur am Zentrum vorbeiführen, habe ich recht?«

Schweigen, die Ahnung eines Schmunzelns.

»Nun gut. Du bist über die Angriffslinie gekommen, also habe ich das Recht, meinen Zug verfallen zu lassen und ein Pfand zu verlangen. Keine Angst, ich nehme nichts wirklich Wichtiges. Gib mir nur, was ohnehin versehrt ist: Gib mir seine Sprache.«

»Aber ...«

»Weigerst du dich? Du kannst ihn auch ohne Stimme seines Weges führen. Wenn du allerdings meinst, daß er eine Zunge benötigt – nun, in der Burg bekommt er sie sicher zurück. Glaubst du nicht auch, daß die gute Leonie mit ihren beschränkten Fähigkeiten das schaffen könnte?«

Anerkennendes Lachen. »Du bist eine listige alte Spinne, Meisterin.« Würfel rollen. Nachdenkliches Schweigen.

»Wem von uns gehören nun die Fremden?«

»Keinem und beiden. Sie sind sehr schwer zu kontrollieren, alte Frau.«

»Gut, daß du einen von ihnen schon beseitigt hast, Schüler. Dein Zug?«

Ich konnte nicht lange geschlafen haben, denn die Sonne stand kaum eine Daumenbreite höher am Himmel, als ich erwachte. Ich rappelte mich schwerfällig wie ein alter Mann auf und schleppte mich weiter die Straße entlang. Gegen Mittag rastete ich im Schatten eines riesigen Blutahorns. Der harte Kanten Brot stillte nur sehr unzureichend meinen Hunger, und die zwei abgestandenen Schlucke Wasser, die sich noch in meinem Schlauch befanden, machten mich eher noch durstiger. Ich mußte mich dringend um Proviant kümmern, ehe ich weiterreiste. Ich stand auf und beschattete meine Augen mit der Hand. Hinter einem der Hügel meinte ich, den Rauch eines Herdfeuers sich kräuseln zu sehen. Ob es nun Täuschung war oder nicht, diese Richtung schien so aussichtsreich wie jede andere. Ich schulterte mein Bündel und stapfte los.

Der Weg erwies sich als noch steiler und beschwerlicher, als ich befürchtet hatte. Noch bevor ich den Hügel erklommen hatte, war ich in Schweiß gebadet und außer Atem. Aber die Aussicht von der Hügelkuppe entschädigte mich für alles. Unten in der Senke lag einladend ein schmuckes Gehöft mit strohgedecktem Dach und weißgekalkten Mauern. Gegen Abend stolperte ich am Ende meiner Kräfte durch das Hoftor, wild verbellt von einem riesigen grauen Köter. Zu erschöpft, um mich zu ängstigen, blieb ich stehen und erwartete den Bauern oder seine Frau.

Die grüngestrichene Tür öffnete sich, und eine rundliche Frau mit einem rosigen, freundlichen Gesicht trat heraus. Mißtrauisch musterte sie mich aus runden blauen Augen.

»Ruhig, Wolf. Platz!« befahl sie und stemmte die molligen Arme in die Seiten. Der struppige Hund gehorchte knurrend. Ich trat einen Schritt auf sie zu und öffnete den Mund, um ihr einen guten Abend zu wünschen und nach einem Schlafplatz in der Scheune oder im Stall zu fragen. Aber keine verständliche Silbe wollte sich von meinen Lippen lösen. Ich stieß einige unartikulierte Laute aus und verstummte hilflos. Meine Beine gaben unter mir nach, und ich mußte mich am Gatter festhalten, um nicht umzusinken. Das Gesicht der Bauersfrau wurde weich.

»Ihr Götter, du armes Kind!« sagte sie mitleidig. »Kannst du verstehen, was ich sage?« Ich nickte verzweifelt. »Du siehst halb verhungert aus. Komm herein, ich mache dir etwas zu essen.« Sie hielt einladend die Tür auf, und ich trat dankbar in die niedrige, dämmerige Stube.

Sie schnitt daumendicke Scheiben Brot von einem wagenradgroßen Laib herunter, bestrich sie ordentlich mit Butter und legte mir ein großes Stück Käse dazu. Dann setzte sie sich neben mich auf die Bank ans Herdfeuer und sah zu, wie ich aß. Während der ganzen Zeit redete sie auf mich ein wie auf ein krankes Kalb. Ich erfuhr, daß der Bauer und sie mit einer Schar von halbwüchsigen Töchtern den Hof bestellten, daß sie alle noch auf dem Feld bei der Ernte waren, und daß die Bauersfrau nur deshalb nicht mithalf, weil eines ihrer Schafe am Vortag von einem streunenden Hund angefallen und verletzt worden war und sie deshalb früher nach Hause zurückgekehrt war, um nach ihm zu sehen. »Und was für ein Glück war das«, endete sie befriedigt, »denn was hättest du sonst wohl getan, du armes krankes Lämmchen.« Sie strich mir etwas verlegen über die Hand, und ich lächelte sie dankbar an. Der Hund schlug an, und von draußen erklangen junge Stimmen und fröhliches, helles Gelächter. Die Bauersfrau stand auf und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Ihr rotwangiges Gesicht strahlte.

»Da kommen meine Lieben«, sagte sie vergnügt und setzte Wasser auf. Die Tür schwang auf, und eine lautstarke Schar weizenblonder Mädchen stürmte herein. Die Älteste mochte etwa in meinem Alter sein, und dann waren da noch fünf weitere bezopfte Köpfe, die sich wie die Halme einer Rohrflöte nebeneinander aufbauten und mich stumm anstaunten.

»Wer ist das, Mamu?« fragte vorlaut die Kleinste, die vier oder fünf Jahre alt sein mochte, und bekam sofort von der nächstälteren einen Klaps auf die zeigende Hand.

»Schu, Magali. Kinder, laßt unseren Gast in Ruhe«, schimpfte die Bauersfrau lächelnd. Hinter ihr klappte erneut die Tür, und ein kräftiger, rundschädeliger Mann trat in die niedrige Stube. Er hängte seinen verblichenen Hut ordentlich an einen Haken und kam dann zum Feuer, einen fragenden Ausdruck auf seinen groben Zügen. Die Frau wandte sich ihm zu und sagte leise: »Ein stummer Junge. Ich wollte ihn nicht fortjagen, er scheint krank zu sein.« Sie sah ihren Mann bittend an. Der blickte auf mich, und sein zerfurchtes Gesicht wirkte nicht freundlich. Ich stand auf und dankte der Frau, indem ich ihre Hand nahm und einen Kuß auf die roten, rauhen Finger drückte. Die blonden Mädchen standen stumm und gafften. Nur die Älteste kümmerte sich nicht um uns, sie hantierte am Herd herum.

Ich griff nach meinem Bündel und lahmte zur Tür. Die Frau, mit rotübergossenem Gesicht, stieß einen empörten Laut aus und knuffte ihren Mann wütend in die Seite. Ihre jüngste Tochter zupfte ihn am Ärmel und flüsterte etwas. Dann verbarg sie verlegen ihr Gesicht in der Schürze ihrer Mutter. Der Bauer brummte leise: »Weiber!« und setzte dann laut hinzu: »Junge, du kannst meinetwegen über Nacht hierbleiben. In der Scheune ist Platz, genug. Aber nur bis morgen!« Er warf seiner Frau einen drohenden Blick zu. Die lächelte nun wieder und gab ihm einen schmatzenden Kuß. Ich ließ erleichtert mein Bündel fallen. Die Aussicht auf eine Nacht im Freien war mir nicht angenehm gewesen, ganz ohne die Gesellschaft meiner Reisegefährten. Die Frau winkte mir, daß ich mich wieder setzen sollte. Ihre Tochter stellte mir einen Becher mit Tee hin. Ihre Hand streifte meinen Arm, und ein kühler Blick traf mich und mein eher schäbiges Äußeres.

»Vielleicht kann er uns bei der Ernte helfen«, bemerkte sie beiläufig, während sie mit der Kanne herumging und allen einschenkte. »Er sieht doch ganz kräftig aus. Wir könnten in den nächsten Tagen gut noch ein Paar Hände gebrauchen.« Ihr Vater knurrte und sah mich abschätzend an. Plötzlich fühlte ich mich von acht Augenpaaren aufgespießt. Ich rutschte unbehaglich auf der Bank hin und her.

»Was meinst du?« fragte er seine Frau. Die blickte mich mitleidig an und antwortete: »Er scheint krank zu sein, oder er war es vor kurzem. Sieh dir seine Augen an und das blasse Gesicht. Ich glaube nicht, daß er schon auf dem Feld arbeiten sollte.« Der Bauer legte den Kopf schief.

»Und du, was denkst du?« wandte er sich plötzlich an mich. Ich zuckte zusammen, so sehr hatte ich mich schon daran gewöhnt, daß über mich gesprochen wurde, als wäre ich ein Besen oder ein krankes Schaf. Ich bewegte meine Hände, als würde ich eine Garbe binden und nickte. Der Bauer sah mir streng in die Augen, dann lächelte er zum ersten Mal und klopfte mir auf die Schulter.

»Gut, abgemacht, Junge. Du hilfst uns bei der Ernte, dafür bekommst du einen schönen Schlafplatz und gut zu essen. Und damit Leena nicht böse wird«, er warf seiner Frau einen schnellen Blick zu, »wirst du erst einmal nur meinen Kleinen bei ihren Aufgaben helfen. Wir päppeln dich schon noch auf, bis du Männerarbeit tun kannst.«

Uliv, der Bauer, und seine Frau Leena taten wahrhaftig ihr Bestes, um mich ›aufzupäppeln‹, wie er es genannt hatte. Uliv entpuppte sich als genauso gutherzig wie die Bäuerin. Am nächsten Morgen war nicht einmal mehr die Rede von Feldarbeit. Mir wurde streng verboten, mein Strohlager zu verlassen, und eine der älteren Töchter, Anik, kam von Zeit zu Zeit, um nach mir zu sehen. Obwohl ich geglaubt hatte, nie wieder schlafen zu können, verschlief ich letzten Endes fast den ganzen Tag. Als gegen Abend die Familie vom Feld zurückkehrte, fühlte ich mich zum ersten Mal seit Tagen wieder kräftig und unternehmungslustig. Allein der Verlust meiner Sprache bedrückte mich. Es mußte eine späte Folge der Gehirnerschütterung sein und hatte sich offenbar in diesem vorangegangenen beunruhigenden Stottern angekündigt. Jetzt fragte ich mich natürlich, ob dieser Zustand ein vorübergehender oder von Dauer sein würde. Was hätte ich nun für Akims mürrische Anwesenheit gegeben. Aber in Kronstadt würde es sicher von kundigen Heilern wimmeln, die mir raten konnten.

Also saß ich stumm inmitten der schwatzenden, kichernden Mädchenschar am Tisch und beschränkte mich aufs Zuhören und Beobachten. Hin und wieder spürte ich den taxierenden Blick Rhians, der Ältesten, auf mir ruhen. Es berührte mich seltsam, daß sie den Mutternamen meiner Großmutter trug. Magali, die Kleinste, krabbelte auf meinen Schoß und sah mich sehr ernsthaft an. Sie steckte einen Finger in den Mund und bohrte hingebungsvoll darin herum.

»Kannst du gar nicht sprechen?« nuschelte sie undeutlich. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Überhaupt nie nicht?« fragte sie weiter. Ich hob die Schultern und zog eine Grimasse. Sie kicherte. Ich blickte sie finster an und schielte. Sie kreischte auf, patschte begeistert auf den Tisch und forderte: »Noch mal, noch mal!« Ich tat ihr den Gefallen und schnitt ihr Gesichter, bis sie, vom Lachen müde, sich bequem auf meinem Schoß zusammenrollte und einschlief, den Daumen im Mund. Ich legte meine Arme um sie und fühlte eine unerklärliche Traurigkeit. Leesas Blick ruhte freundlich auf mir, und sie sagte leise, um das Kind nicht zu wecken: »Ist sie dir auch nicht zu schwer?« Ich schüttelte den Kopf.

Der Bauer stand auf und streckte seine Glieder. »Ab mit euch ins Bett«, sagte er. »Morgen wird ein harter Tag. Hoffentlich gibt es keinen Regen.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. Ich hielt ihn fest und versuchte ihm zu sagen, daß ich morgen zur Ernte mitkommen wollte. Meine Lippen formten Worte, aber wieder entrang sich meiner Kehle nur ein äußerst demütigendes Grunzen. Die Kinder kicherten, und Uliv sah mich mitleidig an, was die ganze Sache noch schlimmer machte. Ich wurde rot und gestikulierte hilflos. Er warf einen hilfesuchenden Blick zu seiner Frau, die genauso ratlos aussah.

Doch seine Tochter Rhian verstand mich. Sie brachte mir einen angebrannten Span vom Herdfeuer und drückte ihn mir in die Hand. Erwartungsvoll drängten sich die Mädchen um mich, als ich jetzt auf die Tischplatte kritzelte: Ich will helfen. Der Bauer schüttelte bedauernd den Kopf und grinste verlegen. Mir wurde klar, daß er nicht lesen konnte, und ich ärgerte mich über mich selbst. Ich kannte doch die Bauern von Salvok, welcher von ihnen konnte schon lesen oder schreiben? Aber diese Familie überraschte mich erneut. Leena schob ihre Älteste vor, und sie las ohne Stocken mit lauter, klarer Stimme meine Mitteilung vor. Ich grinste sie erstaunt an. Ihre unvermutete Fähigkeit würde mir meinen weiteren Aufenthalt hier sehr erleichtern.

Jetzt war natürlich erst einmal keine Rede mehr vom Schlafengehen. Dicht umringt von der Familie und mit der schlaftrunkenen Magali auf dem Schoß mußte ich nun schriftlich etliche Fragen beantworten. Rhian, als meine Dolmetscherin, saß mit glühenden Wangen und stolzem Gesicht neben mir und las alles vor, was ich auf die verschmierte Tischplatte schrieb. So erfuhren sie meinen Namen und die rasch zurechtgestrickte Lebensgeschichte eines Bauernjungen, der auf dem Weg zu seinen Großeltern war. Aus einem Gefühl heraus, das ich mir selbst nicht erklären konnte, schreckte ich davor zurück, mich hier als der in Ungnade gefallene und daraufhin durchgebrannte Sohn eines Burgherren zu erkennen zu geben.

Endlich war die gröbste Neugier gestillt, und der Bauer scheuchte seine Herde zu Bett. Ich wischte noch meine letzten Worte vom Tisch und kehrte zu meinem einsamen Strohlager zurück. Mit trockenen, brennenden Augen lag ich in der warmen, heuduftenden Dunkelheit und sehnte mich mit jeder Faser meines Körpers nach Tom.

Das sollte meine letzte schlaflose Nacht für die nächsten Wochen bleiben. Nach den langen, heißen Tagen auf den endlosen Weizenfeldern Ulivs schlief ich gewöhnlich wie ein Stein. Die Arbeit tat mir wohl, meine träge und schlaff gewordenen Muskeln kräftigten sich, und die Sonne tat ihren Teil dazu, daß ich bald genauso braungebrannt, sommersprossig und lebhaft wie Ulivs Kinder zwischen den frisch gebundenen Garben herumsprang. Immer häufiger fühlte ich Rhians helle Augen auf mir ruhen, neugierig und interessiert. Wir arbeiteten gut zusammen, und der Bauer schien keine Einwände dagegen zu haben, selbst wenn sich unsere Hände etwas öfter berührten, als eigentlich nötig gewesen wäre. Er schmunzelte nur und sagte nichts dazu.

An einem besonders schwülen Tag, als wir auf dem letzten noch nicht abgeernteten Feld arbeiteten, suchten Rhian und ich zur Mittagszeit den schattigen Schutz einer dichten, niedrigen Sichelbuche auf, die uns den Blicken der anderen fast vollständig entzog. Ich warf mich in das kühle Gras und wischte mir den Schweiß von der verbrannten Stirn. Mein Haarband hatte sich gelöst, und ich griff nach hinten, um es neu zu binden.

Rhian nahm meine Hand und bat: »Laß es offen, Elloran.« Ich sah sie groß an. Sie löste ihren Griff nicht, sondern faßte noch fester zu und zog mir das Lederband aus den Fingern. Spielerisch schlang sie es um meinen Nacken und zog daran. Ich neigte mich folgsam zu ihr hin. Sie legte ihre kleine, kräftige Hand auf mein Gesicht und strich zögernd darüber. Ihre Augen hatten die Farbe des Sommerhimmels, und in der runden, braunen Stirn ringelten sich feuchte, weißgebleichte Löckchen. Sanfte Röte übergoß ihr Gesicht. Die Lippen leicht geöffnet, sah sie mich an, plötzlich scheu geworden von ihrer eigenen Verwegenheit. Sie beugte sich vor und gab mir einen schnellen, federleichten Kuß auf den Mund. Dann sprang sie auf und lief fort, mein Haarband immer noch zwischen den Fingern.

Ich ließ mich zurücksinken und stöhnte. Diese Episode erklärte hinlänglich das seltsame, wohlwollende Grinsen, das Ulivs Gesicht neuerdings immer dann zeigte, wenn er Rhian und mich zusammen sah. Anscheinend hatte ich mich als annehmbarer Schwiegersohn in spe eingeführt, stumm hin, stumm her. Immerhin konnte sich Rhian ja ohne Schwierigkeiten mit mir verständigen. Einen Augenblick lang gab ich mich dem Tagtraum hin: verheiratet mit der Erbin eines nicht gerade kleinen Hofes zu sein, einer Frau, die hübsch, klug und fleißig war; Schwiegereltern, die ich zu schätzen, wenn nicht sogar zu lieben gelernt hatte und die mich sichtlich gerne hatten ... was wäre falsch an einem solchen Leben? Ich schloß die Augen, überwältigt von diesem Gedanken.

 

»Hältst du das für klug? Was wird dir ein Bauer bei deinen Plänen nützen?«

»Oh, er wird nicht bleiben. Vergiß nicht, ich kenne ihn schon lange und besser als du.«

Glucksendes Gelächter. »Täuschst du dich auch nicht, mein Sohn?«

Brüsk: »Du bist am Zug, alte Frau.«

Rufende Stimmen, die mich aufschreckten. Ich mußte eingenickt sein. Rhian war wieder bei der Arbeit und hatte mein Lederband um ihr Handgelenk gewickelt. Es gab mir einen kleinen Stich, ich mußte an Ranan und ihre verhaßten Armbänder denken. Uliv grinste mich wissend an, und ich schlug die Augen nieder. Rhian warf mir verstohlene Blicke zu. Ich setzte eine nichtssagende Miene auf und machte mich wieder daran, die geschnittenen Halme zu Garben zu binden. Mein Haar, durch die Sonne inzwischen um einige Schattierungen heller, klebte mir bald unangenehm am Nacken und im Gesicht. Ich sah Rhian flehend an, aber sie stellte sich, als verstünde sie nicht.

Das Abendessen verlief ungewöhnlich schweigsam, und Uliv schickte die Mädchen früher als sonst und in sehr bestimmtem Ton ins Bett. Er bedeutete Rhian, sie möge noch bleiben und schloß die Tür hinter der neugierig flüsternden Schar. Leena holte eine kleine Kanne aus dem Schrank und schenkte vier Becher daraus ein. Lächelnd stellte sie einen vor mich hin und sah mich erwartungsvoll an.

»Probier einmal, Elloran. Das ist Apfelwein, der beste, den du je gekostet hast.« Ich nippte daran und mußte ihr rechtgeben. Der Trank war köstlich, süß und herb zugleich und mit dem Duft von tausend sonnigen Tagen und kühlen Nächten. Uliv räusperte sich. Ich ahnte, was mich erwartete und sollte mich nicht getäuscht sehen.

»Elloran, ich – wir – wollten etwas mit dir besprechen. Üblicherweise sollte das nicht im Beisein unserer Tochter stattfinden, aber da sie die einzige von uns ist, die dich versteht ...«, er hielt inne und drehte verlegen den Becher in seiner schwieligen Hand. Dann kam er zur Sache.

»Ich bin kein Mann des Wortes, Elloran. Ich weiß, daß du meiner Tochter gefällst und habe das Gefühl, daß sie dir auch nicht ganz gleichgültig ist, oder täusche ich mich?« Seine hellen Augen betrachteten mich scharf. Ich schüttelte den Kopf. Er nickte befriedigt und fuhr fort. »Du bist ein guter Junge, du hast ordentlich mit angepackt und dich vor keiner Arbeit gedrückt. Leena und ich meinen – also, wir wären glücklich, wenn – ach, verdammt! Möchtest du unser Schwiegersohn werden, Elloran?« Erwartungsvolle Stille. Rhians Augen klebten voller Hoffnung an mir, dann schlug sie sie errötend nieder. Zögernd griff ich nach dem rußigen Span, den Rhian mir wie immer hingelegt hatte, und schrieb: Ich wäre gerne dein Eidam, Uliv. Aber du solltest etwas wissen, das gegen eine Hochzeit spricht. Rhian las es mit stockender Stimme vor und sah mich dann groß und enttäuscht an. Uliv runzelte die Stirn, und seine Frau seufzte leise.

»Was sollte denn gegen die Verbindung sprechen?« fragte er ruhig. Ich biß mir auf die Lippe und schrieb mit Todesverachtung: Ich bin kein Mann, ich bin T'svera. Der Span fiel mir aus der Hand, und ich schloß beschämt die Augen. Immer noch fiel mir diese Aussage schwer. Ich hörte Rhian mit ungläubiger Stimme vorlesen. Dann lag eine dröhnende Stille über dem Tisch. Sie wurde gebrochen von einem heftigen Aufschluchzen des Mädchens und dem Geräusch ihrer Schritte. Die Tür schlug zu. Ich öffnete meine Augen und sah in die betroffenen Gesichter Ulivs und Leenas.

»Ist das wahr?« fragte Uliv leise. Ich nickte. Er seufzte und verbarg sein Gesicht in den Händen. Leena legte still ihre Hand auf meine und drückte sie kurz. Ich konnte ihre Gedanken in ihrem offenen, freundlichen Gesicht deutlich lesen: Nicht nur stumm, auch noch eine Mißgeburt. Im Stillen mußte ich ihr rechtgeben. Es wäre schön gewesen, das Mädchen zu heiraten. Aber nun – ich mußte weiter.

Uliv war zu demselben Schluß gekommen. Er ließ seine Hände sinken und sah mich traurig, aber entschlossen an. »Du warst doch unterwegs zu deinen Großeltern in der Kronstadt. Ich denke, es wäre gut, wenn du dich wieder auf den Weg machtest. Ich will dich nicht hinauswerfen, aber ...« Er stockte unbehaglich. Ich lächelte ihn an und nickte, um zu zeigen, daß ich seiner Meinung war. Erleichtert fuhr er fort: »Mein Nachbar Senn bringt bald eine Lieferung mit Wein und Käse zur Burg. Er nimmt dich sicher mit, wenn ich ihn darum bitte. Dann brauchst du nicht zu laufen.«

Ich war gerührt. Warum machte er sich Sorgen darum, wie ich zur Burg kam? Wie gerne hätte ich Leena und Uliv für ihre Güte und Freundlichkeit gedankt, mit der sie mich aufgenommen hatten. Ernüchtert öffnete ich den Mund und schloß ihn sofort wieder. Ich ergriff beider Hände und drückte sie an mein Gesicht. Leena schluckte und strich mir über den Kopf, und Uliv räusperte sich verlegen.

»Gut, dann bringe ich dich morgen früh zu Senn. Geh jetzt zu Bett, Elloran.« Er drückte kurz meine Schulter, und Leena und er gingen hinaus. Ich saß noch eine Weile am Tisch und ging dann hinüber zur Scheune.

Schlaflos lag ich im duftenden Stroh und grübelte. Was wäre gewesen, wenn ich ein richtiger Mann gewesen wäre und nicht T'svera? Hätte ich meine Schwester vergessen, Nikal, sogar Tom – und wäre geblieben, um Rhian zu heiraten? Eine Schar Kinder wie die kleine Magali in die Welt zu setzen, auf dem Feld zu arbeiten, alt zu werden mit Enkelkindern um meine Knie ... nichts davon würde mir je beschieden sein. Was war mein Platz in dieser Welt?

Die Scheunentür knarrte, und etwas raschelte auf mich zu. »Elloran?« flüsterte eine Stimme. Ich setzte mich auf. Ein fester, warmer Körper drückte sich eng an mich. Ich roch Rhians unverwechselbaren Duft nach Sonne und frischgemähtem Gras. Wieder mußte ich an Tom denken. Rhian suchte meine Hand und drückte mir etwas hinein. Das Lederband. Ich mußte schlucken. Dann gab ich es ihr zurück. Sie schluchzte leise auf und legte ihre Arme um mich. »Ich habe dich so lieb«, flüsterte sie. »Aber ich möchte Kinder haben. Ganz viele Kinder. Das verstehst du doch?« Ich nickte. Ihr Kopf lag an meiner Schulter und ihr Gesicht war ein heller Fleck in der Dunkelheit. Ohne nachzudenken beugte ich mich zu ihr und suchte ihren Mund. Jung und süß lag er unter meinen Lippen und erwiderte arglos meinen Kuß. Ich löste mich widerwillig von ihr und schob sie fort. Sie stand gehorsam auf und trat noch einen Augenblick lang unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Dann hauchte sie: »Leb wohl, Elloran.« Die Tür öffnete und schloß sich, und ich war wieder allein mit mir und meinen brennenden Augen in der raschelnden Dunkelheit.