14

Ich schlief unruhig in dieser Nacht. Die Ankunft meiner Großmutter mußte mich doch mehr aufgeregt haben, als ich dachte. Zum ersten Mal seit langem träumte ich wieder vom spiel. Ich stand vor der unüberwindlich hohen, grauen Mauer und hörte den ersten Spieler, meinen Meister, in drohendem Ton sagen: »Du versuchst, ihn festzuhalten, alte Freundin. Das halte ich für keine gute Idee.«

Die Frauenstimme klang kalt und ungerührt, als sie ihm antwortete: »Es ist mein gutes Recht, Schüler. Wenn er bei mir bleibt, hast du die Partie verloren, das weißt du so gut wie ich.«

»Er wird nicht bei dir bleiben, dafür sorge ich schon. Warum fürchtest du dich so sehr davor, ihn gehen zu lassen? Traust du ihm nicht? Oder hast du Angst, ich könnte ihn dazu benutzen, dich zu vernichten? Das könnte ich, du weißt es.«

»Das könntest du«, gab die Frau unbewegt zurück. »Aber du wagst es nicht. Noch nicht. Und ohne den Narren wird es dir nie gelingen. Hole ihn dir doch, wenn du glaubst, daß er dir folgt. Ich hindere dich nicht daran.«

Der Mann lachte häßlich und sagte: »Das werde ich tun, alte Frau. O ja, das werde ich tun!«

Ich erwachte schweißgebadet und stand auf, obwohl es draußen gerade erst zu dämmern begann. Im Gang setzte ich mich in eine Fensternische und drückte meine erhitzte Stirn an das dicke Glas. Was hatten diese Träume bloß zu bedeuten? Leonies dunkle Andeutungen schienen in ihnen widerzuklingen, aber ich hatte von dem spiel doch schon zu träumen begonnen, bevor ich sie überhaupt kennengelernt hatte.

Ich begann leicht zu frösteln. Mein Gesicht spiegelte sich undeutlich im Fensterglas. Ich betrachtete es, als gehörte es einem Fremden. Veelora hatte recht, ich hatte wirklich zugenommen. Mein Gesicht war voller als früher, und auch meine vordem so eckige Figur schien rundlicher geworden. Noch war ich nicht eigentlich dick, aber trotzdem befanden sich an einigen Stellen weiche Fleischpolster, wo früher nur Knochen oder harte Muskeln zu spüren gewesen waren. Vielleicht sollte ich besser hin und wieder auf eine der Mahlzeiten mit Karas verzichten und statt dessen zusehen, daß ich mich wieder etwas mehr bewegte. Die Arbeit am Schreibtisch war ein schlechter Ersatz für ein Kampftraining mit Nikal oder Jenka. Ich mußte unwillkürlich lachen. Wie hatte meine Traumschwester gesagt? Ich sei leicht abzulenken? Sie hatte ganz recht damit.

Ich stand auf und ging hinunter in den Hof. In den Stallungen war der Tag längst erwacht. Ich hielt mich für einige Zeit dort auf, stromerte zwischen dampfenden Misthaufen und schwitzenden, fluchenden Stallknechten herum, streichelte hier und da ein samtiges Pferdemaul und dachte an Salvok.

Natürlich verspätete ich mich zum Frühstück. Karas und Veelora hatten bereits damit begonnen, als ich mich mit einer Entschuldigung auf meinen Platz schob. Veelora lächelte mich an und legte ihre Hand auf meine Wange. Sie sah erholter aus als am gestrigen Abend, und auch Karas wirkte entspannter, als ich ihn seit Wochen erlebte hatte. Veelora trug über ihren Reithosen ein weites Männerhemd, das ich als eins von Karas' Hemden erkannte, und dessen etwas zu kurze Ärmel sie kurzerhand aufgekrempelt hatte. An ihrem rechten Handgelenk blitzte der breite silberne Armreif, den ich schon auf Salvok an ihr gesehen hatte. Auffälliger Schmuck war etwas, was so gar nicht zu meiner Großmutter passen wollte.

»So, ihr Lieben«, sagte sie munter, »jetzt legt einmal los. Wie bist du hierhergekommen, Elloran? Und wie habt ihr euch kennengelernt, dein – der Kammerherr und du?«

Ich begann zu erzählen, assistiert von Karas. Veelora und er hielten sich während der ganzen Zeit bei den Händen, als befürchteten sie, jemand könnte sie zu trennen versuchen.

»Das ist ja eine tolle Geschichte«, sagte sie, als wir geendet hatten. »Weiß deine Mutter denn inzwischen, wo du bist?« Ich sah sie schuldbewußt an. Ich hatte keinen Gedanken daran verschwendet, daß sich Ellemir vielleicht Sorgen um meinen Verbleib machte.

Karas räusperte sich und sagte: »Ich habe sie benachrichtigt.« Er blickte mich verlegen an. »Tut mir leid, wenn ich das über deinen Kopf hinweg entschieden habe – aber ich dachte, es wäre besser so.« Ich nickte stumm und trank einen großen Schluck von meinem Tee.

Karas erhob sich und sagte entschuldigend: »Vee, meine Liebe, ich muß los. Ich habe gleich eine Besprechung mit der Obersten Maga und muß mich noch vorbereiten.« Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Ihr habt euch doch sicher eine Menge zu erzählen«, setzte er hinzu. »Elloran, ich gebe dir für heute frei. Und du, Liebste, kannst auch noch etwas Ruhe gebrauchen. Ich würde mich freuen, wenn wir drei zusammen zu Mittag essen, und heute nachmittag berichtest du mir dann von S'aavara. Einverstanden?«

Ich sah mit Staunen, wie lammfromm meine eigensinnige Großmutter Karas' als Vorschläge getarnte Anweisungen entgegennahm. Sie mußte diesen Mann wirklich sehr lieben. Ich brannte vor Neugier. Daß die beiden sich schon als Kinder gekannt hatten, wußte ich bereits von Karas. Aber seit wann waren sie ein Paar? Und was hielt wohl mein Großvater, der Kapitän, von dieser Sache?

Wir gingen schweigend nebeneinander in den Hof. Veelora sah nach ihrem Pferd, das seit der letzten Tagesreise lahmte. Zufrieden mit den Maßnahmen, die der Stallmeister angeordnet hatte, schlenderte sie mit mir weiter. Meine Großmutter wurde noch häufiger gegrüßt als der Kammerherr gewöhnlich. Es schien niemanden in der Kronenburg zu geben, den sie nicht kannte und für den sie nicht ein kurzes, freundliches Wort hatte.

»Komm«, sagte sie schließlich erschöpft, »laß uns irgendwohin gehen, wo keine Leute sind. Das strengt mich heute alles zu sehr an.« Ich führte sie an meinen liebsten Platz, den kleinen, überwucherten Innenhof. Sie streckte sich in das Gras neben den tief herabhängenden Zweigen der Birke und seufzte vor Behagen. »O Göttin, wie habe ich das vermißt! Kühles Gras und hellgrünes Laub und den Geruch von feuchter Erde ... S'aavara wäre kein Land, in dem ich für immer leben könnte!«

»G-gibt es wirklich Krieg?« fragte ich unbedacht. Sofort tat es mir leid, davon gesprochen zu haben. Ihr eben noch so gelöstes Gesicht verhärtete sich, und müde, angespannte Linien tauchten darin auf. »N-nein«, sagte ich schnell. »Entschuldige, Großmutter, l-laß uns über etwas anderes reden.« Sie lächelte und griff nach meiner Hand.

»Du bist wirklich ein lieber Junge«, sagte sie. »Karas ist ganz vernarrt in dich. Fast könnte ich eifersüchtig werden, wenn ich nicht genau wüßte ...« Sie unterbrach sich und betrachtete mich aus seegrünen Augen. Sonnenlicht fiel durch das zarte Laub der Birke und spielte auf ihrem Haar und dem sommersprossigen Gesicht. Karas hatte einmal gesagt, ich sähe ihr ähnlich, und jetzt, einen Lidschlag lang, kam es mir vor, als sähe ich in einem Spiegel mein eigenes, gealtertes Gesicht. Dann war der gespenstische Augenblick vorbei, und meine Großmutter blickte mich an.

»Was hat Karas m-mit mir vor?« fragte ich sie.

Sie hob die Schultern und lachte. »Vielleicht arbeitet er dich als seinen Nachfolger ein, er ist ja nicht mehr der Jüngste. Aber das mußt du ihn schon selber fragen, Kind, ich weiß es wahrhaftig nicht.«

Sie log. Warum, bei allen Geistern, belogen mich immer alle? Natürlich wußte sie, was Karas von mir erwartete, aber sie verriet es mir genausowenig wie er. Ich biß die Zähne zusammen, um nicht vor Enttäuschung loszuschreien und wechselte erneut das Thema. Aber während ich das tat, wußte ich schon, daß ich auch auf diese Frage keine befriedigende Antwort von ihr bekommen würde.

»Großmutter, h-habe ich eigentlich eine Schwester?«

Sie schloß die Augen und stöhnte leise. »Kleines, du bist ganz schön anstrengend.« Der Blick, der mich jetzt traf, wirkte amüsiert. »Wie kommst du auf so eine verrückte Idee? Du bist das einzige Kind deiner Eltern, das weißt du doch.«

Ich nickte nur. Irgendwo hinter mir erklang ein leises Lachen, aber als ich mich umsah, war niemand dort. Veelora hatte den Kopf zurückgelegt und sah in den Himmel, der blaßblau und ganz hoch war.

»In S'aavara ist der Himmel weiß«, sagte sie versunken. »Die Sonne brennt dir das Hirn aus dem Kopf und kocht die Augen in ihren Höhlen. Ich habe die Wüste gesehen, Elloran: Sand und Steine, so weit du blicken kannst, nichts Grünes, nichts, worauf deine Augen sich ausruhen können. Aber es ist – majestätisch. Beängstigend und großartig zugleich. Und die Kamele ...« Sie lachte. »Die würden dir gefallen, Elloran. Dickköpfig, stur und bissig, und wenn du auf ihnen reiten willst, mußt du seefest sein. Aber schnell wie der Wind. Ich habe Kamelrennen gesehen ...« Ihre Stimme verklang, sie schien einzudösen.

»Ran hat d-dem minor T'jana drei K-Kamele verkauft«, bemerkte ich, mehr zu mir selbst als zu ihr.

Sie schlug die Augen auf und sah mich verblüfft an. »Ran? Ranan Millen von der Allianz?«

Jetzt war ich an der Reihe, verblüfft auszusehen. »Allianz?« fragte ich dümmlich.

Veelora setzte sich auf und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Die Allianz«, wiederholte sie geduldig. »Galen ist der Botschafter der Allianz, das weißt du doch. Ranan Millen ist eine seiner Leibwachen. Ich habe versucht, sie und ihren vorgesetzten Offizier abzuwerben, aber sie sind – äußerst loyal. Schade, zwei so tüchtige Soldatinnen hätte ich gut brauchen können.«

Ich starrte sie noch immer mit offenem Mund an. »Ach«, war das einzige, was mir dazu einfiel.

Sie lachte herzlich und umarmte mich fest. »Mach den Mund zu, mein Kleines. Jetzt sag: woher kennst du Ranan? Sie war doch nicht etwa hier?« Damit hatten wir ein Thema gefunden, das uns eine Zeitlang beschäftigte. Ich berichtete ihr in groben Zügen, wie ich Tom und Akim kennengelernt hatte – und von unserer Reise. Veelora hörte aufmerksam zu und runzelte hin und wieder die Stirn.

»Sie suchen also nach Nikal?« fragte sie schließlich. »Und wer ist dieser Omelli? Hast du ihn je zu Gesicht bekommen?« Sie war äußerst beunruhigt. Ich verstand nicht, weshalb. Meine Auskünfte schienen sie nicht zu befriedigen, aber schließlich schüttelte sie den Kopf und streckte sich, daß es knackte.

»Komm, Elloran. Ich möchte mich umziehen, ich kann schließlich nicht den ganzen Tag in Karas' zweitbestem Hemd herumlaufen.« Sie zupfte an meinem Zopf und schüttelte sich in gespieltem Abscheu. »Warum, bei allen Geistern, läßt du nur deine Haare derart lang wachsen? Und womit bindest du dir deine schreckliche Mähne überhaupt zusammen?« Sie griff nach den Enden der langen Seidenkordel und begutachtete sie genauer. »Wo hast du die denn her?« fragte sie ungläubig.

»D-der Kammerherr hat sie mir g-gegeben.« Ich hatte das Gefühl, als müßte ich mich gegen irgendeinen Vorwurf verteidigen. Sie ließ die Kordel los und schüttelte ergeben den Kopf.

»Dieser Mann ist unmöglich«, lachte sie. »Ich habe ihm schon tausendmal gesagt, er soll die Finger vom Kronschatz lassen, aber nein!« Ich sah sie neugierig an. Was hatte der Kronschatz mit meinem Haarband zu tun?

Sie lehnte den Kopf an meine Schulter und erklärte: »Die harmlose Kordel, die er dir für deine Haare gegeben hat, ist einer der Zeremoniengegenstände, die bei der Krönung eine wichtige Rolle spielen.« Sie kicherte. »Die Kordel versinnbildlicht die Verbindung der Regentin zu ihrem Reich, sie wird ihr um den linken Arm gewickelt und stundenlang höchst wortreich gesegnet. Und diesen geheiligten Gegenstand hat dir Karas ...« Ihre Stimme erstickte im Lachen. Ich fand das eigentlich gar nicht so sehr komisch. Endlich wischte sie sich die Lachtränen vom Gesicht und schniefte: »Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich einen unermeßlich kostbaren, antiken Kamm aus dem Kronschatz in Karas' Bettlektüre fand: er benutzte ihn seit Jahren als Lesezeichen.«

Immer noch lachend stand sie auf und lief wie ein junges Mädchen zum Haus. Einen Augenblick lang saß ich wie erstarrt, dann rannte ich kopfschüttelnd hinter ihr her.

In ihrem Quartier fühlte ich mich sofort zuhause. Ich fiel in einen durchgesessenen Lehnstuhl und sah mich in aller Ruhe um, während Veelora sich im Nebenraum umzog. Die Tür hatte sie nur angelehnt, damit wir uns weiter unterhalten konnten.

»Hältst du d-die Spitze?« rief ich hinüber. Ich hatte das spiel auf ihrem Tisch entdeckt und kniete mich nun daneben. Wie bei Leonie standen Figuren im Zentrum: nicht gar so auffallend gearbeitet, aber immerhin aus schönem Stein geschnitzt und sparsam bemalt. Ich nahm sie nacheinander in die Hand: da war der Narr mit seiner Schellenkappe und dem buntfleckigen Gewand und langem, lockigem Haar; neben ihm stand der König, klein und rundlich, mit einer etwas verrutschten Krone auf dem Kopf; und die dritte Figur, groß und kräftig, war die Schwertfrau, die sich mit grimmiger Miene auf ihre Waffe stützte. Eine Horde von Jägern bedrohte das Zentrum und schnitt den Weg zur Basis vollständig ab. Es sah schlecht aus für den Spieler, der die Spitze besetzte. Welches mochte seine Figur sein – der Narr?

»Was hast du gefragt?« Veelora trat ins Zimmer, damit beschäftigt, einen schmalen Gürtel um ihre Hüften zu schnallen. Sie hatte Karas' Hemd gegen eine weiche olyssische Tunika getauscht, wie sie auch Nikal immer gerne getragen hatte. Darunter schauten enge Leinenhosen und halbhohe, weiche Lederstiefel hervor, alles in warmen, erdigen Farben, die ihr rotes Haar nur noch mehr leuchten ließen. Das silberne Armband blitzte auffällig an ihrem Handgelenk.

»Ich wollte wissen, w-welche Seite du spielst. Spitze oder B-Basis?« Ich deutete auf das spiel.

Sie warf einen kurzen Blick auf das Brett und antwortete knapp: »Ich führe die Jäger.«

»D-dann hat dein Gegner nicht mehr allzuviele Möglichkeiten. Gegen w-wen spielst du?«

Sie steckte ihr Messer in den Gürtel und bürstete heftig ihre kurzen Locken aus. »Spielst du etwa auch?« fragte sie neugierig.

»Ja, Leonie h-hat es mir beigebracht.« Sie ließ die Bürste sinken und blickte mich nachdenklich an.

»Leonie ist eine wahre Meisterin. Wenn du es von ihr gelernt hast, wirst du auch nicht schlecht sein. Wir müssen einmal miteinander spielen, Enkel.« Ich nickte begeistert. Aber es interessierte mich wirklich, deshalb wiederholte ich meine Frage nach ihrem Spielpartner.

»Botschafter Galen«, antwortete sie. Ich starrte sie entsetzt an. Sie erwiderte den Blick leicht überrascht. »Was hast du denn, Kind?«

»N-nichts«, beeilte ich mich, ihr zu versichern. »Ich k-kann ihn nur überhaupt nicht Heiden!«

Sie lachte verständnisvoll. »Er ist sehr gut. Als er hier ankam, kannte er das spiel noch nicht, und ich habe es ihm erst beibringen müssen. Aber inzwischen spielt er besser als ich. Fast so gut wie Karas seinerzeit.« Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Wir gingen hinaus. Ich fragte sie, warum Karas nicht mehr spielen mochte. Sie schüttelte den Kopf. Ich sah die Trauer in ihrem Gesicht.

»Er wollte nichts mehr davon wissen, nachdem Elliana ...« Sie unterbrach sich. Es schien mir, als kämpfe sie aufsteigende Tränen nieder.

»S-seine älteste Tochter?« fragte ich schnell.

Veelora nickte und wischte sich über die Augen. »Er hat dir von ihr erzählt?« fragte sie. Ihre Stimme klang belegt.

»Er h-hat sie erwähnt. Leonie s-sagte, daß er n-nach ihrem Tod«, dieses grauenhafte Unglück, hatte sie gesagt, »daß er danach nie wieder g-gespielt hat. W-wie ist sie umgekommen, seine Tochter?«

»Es war ein Mordanschlag. Er hat sie mit seinem eigenen Körper abgeschirmt, aber es hat nichts genutzt. Sie war tot, und Karas wäre auch fast gestorben.« Sie schwieg, den Mund bitter zusammengepreßt.

»War das d-dasselbe Attentat, bei dem auch beinahe die Krone ums L-Leben gekommen wäre?« fragte ich neugierig.

Sie zuckte zusammen und nickte dann. »Elliana und die kleine Prinzessin waren gleichaltrig; sie spielten miteinander, als es geschah. Es war ein magischer Anschlag, Blitze aus kaltem, blauem Feuer. Das Gemach war völlig verwüstet und Ellianas kleiner Körper kaum noch zu erkennen.« Jetzt liefen unverhohlene Tränen über Veeloras Gesicht. »Karas – ich dachte zuerst, er sei auch tot, so schrecklich hatte ein Blitz ihn verbrannt und verstümmelt. Ohne die Hilfe der Obersten Maga hätte er damals gewiß nicht überlebt.« Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Mir war übel vor hilflosem Mitleid. Unbeholfen nahm ich sie in den Arm. Sie legte ihren Kopf an meine Schulter, und ich fühlte, wie sie am ganzen Körper bebte. Endlich beruhigte sich ihr Schluchzen, und sie machte sich von mir los.

»Hast du ein Taschentuch?« fragte sie, unter Tränen lächelnd. »Nach dem Anschlag hat sich Karas geweigert, auch nur eine der Spielfiguren anzurühren«, fuhr sie ruhiger fort, nachdem sie sich die Nase geputzt hatte. »Er hat Elliana damals das spiel beigebracht, und sie haben oft miteinander gespielt. Er konnte es nicht mehr ertragen.«

»S-sein lahmes Bein, rührt es auch von d-dem Attentat her?«

»Ja. Das und die grauenhaften Anfälle, die er seither immer wieder erleiden muß. Selbst die Maga kann nichts dagegen unternehmen. Der Zauber, der damals seine Tochter tötete, war zu stark, und ein magischer Nachhall ist noch immer wirksam. Er tötet Karas – seit Jahren, langsam, Stück für Stück. Wenn du einmal einen dieser Anfälle miterlebt hättest ...« Sie schauderte in blankem Entsetzen.

»Das h-habe ich«, erwiderte ich, von ähnlichem Grauen geschüttelt wie sie.

Sie sah es und nahm mich in ihre Arme. »Armes Kind«, flüsterte sie. »Das wußte ich nicht. Das hätte er dir ersparen müssen!«

»Aber es war doch s-sonst niemand da, der sich um ihn gekümmert h-hätte«, protestierte ich. »Nur L-Leonie hat ihm geholfen, und das wollte er n-nicht!«

Veelora wandte sich hastig ab, doch ich hatte die Kälte in ihrem Blick schon gesehen. »Leonie. Das hat er mir verschwiegen. Aber ich hätte es mir denken können.« Sie klang ergrimmt. Dann atmete sie tief ein und schob ihren Arm unter meinen. »Komm jetzt, Elloran. Mach ein freundliches Gesicht. Wir wollen Karas nicht beunruhigen.«

Unserer bedrückten Stimmung zum Trotz verlief das Essen geruhsam. Wieder beeindruckte mich die tiefe Verbundenheit, die Veelora und Karas zeigten. Der Kammerherr sah erschöpft aus und winkte nur ab, als Veelora ihn nach seinem Treffen mit der Obersten Maga fragte. Ich versuchte, mich hinter meinem Teller unsichtbar zu machen, in der Hoffnung, etwas mehr über die linke Hand der Krone zu erfahren, die ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Meine Taktik schien Erfolg zu zeitigen, denn Veelora entfuhr eine unbedachte Äußerung, die sie auch sofort zu bereuen schien.

»Wenn man bedenkt«, sagte sie, »daß sie laut Galen höchstwahrscheinlich diejenige ist, die uns an die T'jana ...«, hier fiel ihr wohl ein, daß ich mit am Tisch saß, und sie biß sich auf die Zunge.

Karas schoß ihr einen warnenden Blick zu und bemerkte schnell: »Galen hat wieder einmal irgend etwas vor, das er niemandem verraten will. Hast du eine Ahnung, worum es geht? Du warst doch die ganze Zeit über mit ihm zusammen.«

»Ich denke schon«, antwortete Veelora zögernd. »Aber ich will ihm nicht vorgreifen. Vielleicht täusche ich mich ja auch. Jedenfalls werde ich ihn in ein paar Tagen treffen, und danach weiß ich mehr.« Sie schwieg und sprach dann über etwas anderes. »Ich denke, rechtzeitig zum Krontag wird auch die Abordnung von den Inseln hier sein. Gioanî wollte seinen Sohn eigentlich schon mit mir zusammen reisen lassen, aber aus irgendeinem Grund hat sich das um ein paar Tage verzögert.« Sie lachte auf. »Ich war nicht sehr böse darum. Das Prinzchen ist ein schwieriger junger Mann. Du hast dir da etwas eingehandelt, Karas.«

Karas schmunzelte nur und stand auf. »Ans Werk, Geliebte.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie herzhaft auf den Mund. Sie erwiderte seinen Kuß und erhob sich ebenfalls.

»Also dann. Was hat Galen dir schon berichtet, was ich mir jetzt sparen kann?« Sie gingen hinaus, Karas auf Veeloras Arm gestützt. Ich sah ihnen einem Augenblick lang nach und entschied dann, meinen guten Vorsatz vom Morgen in die Tat umzusetzen – vor allem, weil diese Mahlzeit wieder einmal eine der üppigeren gewesen war.

Der Waffenhof der Kronenburg war bestimmt zehn Mal so groß wie der von Salvok. Ich wanderte ein wenig verloren über das weitläufige Gelände, bis ich in einer Gruppe von schwitzenden, verbissen kämpfenden Frauen aus Veeloras Garde die hochgewachsene junge L'xhan entdeckte, die meines Wissens eine der Waffenmeisterinnen der Burg war. Sie erblickte mich und kam mit fragender Miene auf mich zu. »Was kann ich für Euch tun, junger Herr?«

Ich räusperte mich befangen und fragte sie nach einem Übungsschwert. Sie nickte und ging zum Waffenschuppen. Ich hockte mich auf die Absperrung des Kampfplatzes und sah Veeloras Soldatinnen zu. Anscheinend legte meine Großmutter auch Wert auf Ausbildung im waffenlosen Kampf, denn ich sah nirgendwo Schwerter oder Messer. Mit bloßen Händen traten die Frauen gegeneinander an und warfen sich gegenseitig mit geübtem Schwung zu Boden. Eine große, kräftige Frau gab dabei mit lauter Stimme Anweisungen.

»Verdammt, Aliss! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst bei diesem Griff deine Beine nicht so weit grätschen! Wie willst du Rut denn ohne festen Stand aushebeln?« Die Gerügte hob eine Hand und grinste mit weißen Zähnen, die in ihrem schweiß- und staubverklebten Gesicht vergnügt aufblitzten. Dann warf sie sich wieder auf ihre stämmige Gegnerin.

»Hier ist Euer Schwert«, sprach mich die Waffenmeisterin an. Ich zuckte zusammen, denn ich hatte sie nicht herankommen hören. Sie blickte leicht mißbilligend auf meine Kleidung und fragte: »Wollt Ihr keine Trainingskleidung, Herr? Eure Sachen scheinen mir nicht gerade das Richtige für den Waffenhof.« Ich nickte dankbar und fragte sie nach ihrem Namen. »Joskin, Herr. Soll ich Euch auch einen Übungspartner besorgen?«

»Danke, Joskin. Ich b-bin etwas aus dem Training und m-möchte lieber zuerst alleine arbeiten.«

Sie nickte kurz und wies mir den Weg zum Schuppen, wo ich passende Kleider fand und mich umzog. Ich suchte mir eine Ecke des Hofes aus, die nicht von allen Seiten einsehbar war, und begann, die altgewohnten Übungen durchzuführen. Mein Körper erinnerte sich an sie, als hätte ich sie gestern zum letzten Mal gemacht. Aber meine vernachlässigten, erschlafften Muskeln begannen schon nach wenigen Minuten zu schmerzen, und mein Atem ging so heftig wie früher erst nach einer Stunde oder mehr. Die Schreibtischarbeit hatte mich anscheinend erheblich mehr an Ausdauer gekostet, als mir bewußt gewesen war. Ich stützte mich auf das Schwert und schüttelte mir den Schweiß aus den Augen.

Hinter mir lachte jemand hell auf. »Das ist ja ein trauriges Schauspiel, das du mir da bietest! Und wie bist du fett geworden, Ell!« Wütend und beschämt fuhr ich herum, eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, die mir im Halse stecken blieb, als ich sah, wer mich da angerufen hatte. Ich ließ achtlos das Schwert fallen und sprang auf die kleine dunkelhäutige Frau in der Uniform der Leibgarde meiner Großmutter zu, die sich da so lässig an das Gatter lehnte. Wir umarmten uns lachend, und ich hob sie übermütig über das Gatter.

»Veelora hat mit k-keiner Silbe erwähnt, daß du auch hier b-bist«, sagte ich etwas später. »Ich dachte, d-du wärst in Kerel Nor.«

»Ich war mit in S'aavara«, erklärte Jenka stolz. Sie war erwachsen geworden, fiel mir auf; sie war größer und kräftiger, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihr früher so spitzes Gesicht hatte jetzt starke Ähnlichkeit mit dem Antlitz ihrer Tante Jemaina: Stolz saß sie in ihrer strengen Uniform vor mir und strahlte mich aus schwarzen Augen an. »Ich habe dich so vermißt«, sagte sie unvermittelt und blinzelte verlegen.

Ich griff nach ihrer kleinen, kräftigen Hand und sagte ehrlich: »Ich d-dich auch, Jenka. Sehr sogar. Aber jetzt bist du ja hier. Wir k-können doch sicher ein wenig Zeit miteinander v-verbringen, oder?«

Sie nickte und zog ihre Nase kraus. »Ich habe hier nicht viel zu tun, ehe wir wieder abreisen«, sagte sie. »Bis zum Krontag sind wir auf jeden Fall noch hier, bevor wir nach Kerel Nor zurückkehren. Eigentlich habe ich jetzt auch Freiwache, ich wollte mich gerade umziehen, als ich dich hier stöhnen hörte, als würdest du gefoltert.« Sie grinste mich frech an. »Du bist ja noch schlechter in Form als früher«, foppte sie. »Was hast du getan, ein Jahr lang nur gegessen, geschlafen und die Haare wachsen lassen?« Ich hob drohend die Hand, und sie kicherte. »Versuch es ruhig. Du darfst mir glauben, daß ich dich auch noch mit einer Hand auf dem Rücken besiegen könnte!« Ich glaubte es ihr aufs Wort. Sie sah muskulös und durchtrainiert aus.

Ich reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Wir gingen zurück zum Waffenschuppen, wo ich mich umzog. Dann führte sie mich zu ihrem Quartier. Sie teile das Zimmer noch mit drei anderen Frauen, erzählte sie mir. Eine von ihnen hatte ebenfalls Freiwache, sie lag im Bett, als wir eintraten, schob einen verwuschelten Kopf unter der Decke hervor und musterte mich verschlafen und äußerst neugierig.

»Schlaf weiter, Reeta. Das ist ein alter Freund von mir, also Hände weg!« Die Angesprochene grinste, machte eine anzügliche Bewegung mit zwei Fingern und zog sich wieder die Decke über den Kopf. Jenka schielte verzweifelt und knöpfte ihre Uniform auf. Ich wandte mich diskret ab und blickte aus dem Fenster. Hinter mir kicherte Jenka.

»Du bist aber schüchtern geworden«, lachte sie. »Du hast mich doch oft genug ohne einen Faden am Leib gesehen!« Reeta gab unter ihrer Decke ein prustendes Geräusch von sich. Ich wurde feuerrot. Eilig drehte ich mich wieder zu Jenka um, und sie betrachtete mich mit schiefgelegtem Kopf und in die Seite gestemmten Fäusten. Wie gut ich diese Haltung kannte!

»Komm, lassen wir Reeta schlafen«, sagte sie laut und zwinkerte mir zu. Sie schob ihren Arm unter meinen und zog mich aus dem Zimmer. Ihre Kleider glichen denen Veeloras, nur die Farben waren andere. Statt der erdigen Braun- und Grüntöne bevorzugte Jenka leuchtend rote und gelbe, und an den Füßen trug sie leichte Schuhe aus Stoff und Stroh. Wir spazierten durch die Burg, und ich erzählte zum zweiten Mal an diesem Tag meine Geschichte.

»Junge, Junge«, pustete sie, als ich geendet hatte. Sie blieb stehen und sah mich an, als hätte sie mich nie zuvor gesehen. »Das ist ja ganz schön aufregend gewesen. Und von dem Kommandanten hast du nichts mehr gehört?« Ich schüttelte ein wenig beschämt den Kopf, schließlich hatte mich Nikals Schicksal in den letzten Neunwochen nicht mehr allzusehr berührt. Wir gingen weiter, beide mit unseren Gedanken beschäftigt. Ich hatte nichts von dem gesagt, was zwischen mir und Tom gewesen war, aber ich mußte feststellen, daß ich Jenka wieder einmal unterschätzt hatte.

»Liebst du diesen Kater eigentlich?« fragte sie unverblümt. Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder. »J-ja«, sagte ich schließlich zögernd. »Ich g-glaube schon.«

Sie rümpfte die Nase. »Klingt nicht sehr überzeugend«, krittelte sie. Ich fand, daß sie sogar recht hatte. Ich war wirklich nicht allzu überzeugt davon. Unbehaglich blickte ich mich um: Wir waren inzwischen im alten Teil der Burg gelandet.

»Komm, ich stell dich Leonie vor!« sagte ich schnell, ehe sie sich an dem Thema festbeißen konnte. Sie sah mich mißtrauisch an und dachte offensichtlich darüber nach, ob das ein Ablenkungsmanöver war. Hastig griff ich nach ihrem Ellbogen und zog sie mit mir. Vor Leonies Tür angelangt, klopfte ich kurz an und wartete auf die Erlaubnis einzutreten.

»Kommt herein, Kinder«, erklang gedämpft Leonies Stimme. Jenkas Augenbrauen schossen in die Höhe, und ich grinste in mich hinein.

Leonie saß auf dem Diwan, die schmalen Füße unter sich gezogen, und trank Tee. Sie blickte Jenka scharf und fast ein wenig unfreundlich an. Jenkas Gesicht verhärtete sich unmerklich, aber sie schlug die Augen nicht nieder. Endlich lächelte Leonie schwach und reichte der Olysserin die Hand. Sie bot uns Plätze an und griff mit der linken Hand hinter sich, um zwei Tassen für uns aus dem Schrank zu nehmen. Dabei verrutschte der weite Faltenwurf ihres weißen Gewandes und gab ihren sehnigen Oberarm mit dem breiten silbernen Armreif frei. Ich bemerkte, wie Jenka ihn gefesselt anstarrte und ihre Stirn sich verwundert krauste. Sie warf mir einen schnellen, fragenden Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern. Ich wußte nicht, was sie von mir wollte.

Wir tranken Tee und unterhielten uns mühsam. Leonie war in nicht allzu mitteilsamer Laune, sie erschien geistesabwesend und ein wenig müde. Endlich erhob sie sich, um uns zu verabschieden. Jenka war schon zur Tür hinaus, da hielt Leonie mich noch einmal zurück.

»Dein Großvater wird dich schon bald bitten, nicht weiter Umgang mit mir zu pflegen«, sagte sie leise. »Ich wollte dich nur vorwarnen.«

Ich starrte sie aus weitaufgerissenen Augen an. »W-was soll das h-heißen – mein Großvater

Sie schlug entsetzt eine Hand vor ihr Gesicht und lachte laut auf. »Dafür bringen sie mich um!« jammerte sie. Ich sah ihre gelben Augen vor boshaftem Vergnügen funkeln. Das war kein Versprecher gewesen. Mein Magen hob sich, als ich begriff.

»D-du willst doch n-nicht etwa behaupten ...«, mir blieb die Luft weg. Hinter mir steckte Jenka neugierig den Kopf zur Tür herein und fragte ungeduldig, wo ich denn bliebe. Leonie sah mich nur weiter ungerührt und interessiert an. Ich stieß einen wortlosen Laut höchsten Abscheus aus und stürmte aus dem Zimmer. Jenka trabte äußerst verwirrt hinter mir her.

»Was ist denn? Was ist passiert?« keuchte sie atemlos, als ich anhielt und meine Fäuste in die stechenden Seiten preßte. Ich schlug in ohnmächtiger Wut gegen eine Wand und drückte dann die Hände auf meine brennenden Augen.

Jenka legte ihren Arm um meine Schultern und fragte wieder: »Was ist los, Ell? Was hat sie dir getan?«

Ich biß mir auf die Lippe, bis ich salziges Blut schmeckte und preßte hervor: »Alle. Sie tun es alle, seit ich d-denken kann. Keiner von ihnen sagt mir jemals die W-Wahrheit, alle belügen mich und schubsen mich h-herum, wie es ihnen gerade p-paßt, sogar meine Großmutter. Ich h-hasse sie! ich hasse sie alle!!« Ich schlug wieder und wieder mit der Faust gegen die rauhe Mauer.

Jenka griff nach meiner aufgeschürften Hand und hielt sie sanft und unnachgiebig fest. »Hör auf damit, Ell. Du tust dir nur selbst weh, und das nützt gar nichts. Komm, erzähl. Wer belügt dich und worüber?« Sie zog mich in eine Fensternische und legte ihren Arm um meine Schultern. Meine Kehle brannte. Für einen Augenblick dachte ich, daß meine Stummheit zurückgekehrt war, so unfähig fühlte ich mich, auch nur ein Wort herauszubringen. Jenka sah mich mitfühlend an und strich vorsichtig über meine Schulter.

»Weißt du«, sagte sie leise, »ich kann sie nicht leiden. Was hat sie dir getan, daß du so wütend bist?«

Ich schüttelte hilflos den Kopf. »S-sie ist die einzige, die mir überhaupt etwas v-verrät. Sie sagt n-nicht alles, was sie weiß, aber sie tut wenigstens n-nicht so, als meine sie es nur g-gut mit mir!«

Jenka sah mich finster an. »Ich glaube, daß sie böse ist. Sie hat einen grausamen Blick. Und warum, bei Denen-Die-Sind, trägt sie den gleichen Armreif wie deine Großmutter?« Ich starrte sie an. Natürlich, sie hatte recht. Leonies und Veeloras Armspangen glichen sich wie Zwillinge. Ich schloß die Augen und versuchte, meine rasenden Gedanken zu beruhigen.

»Jenka, sei mir nicht böse. Ich m-muß mit meinen – mit meiner Großmutter sprechen. Können wir uns s-später wieder treffen?« Sie nickte und stand auf. Ich nahm sie sofort in den Arm und drückte sie kurz an mich. »Danke«, flüsterte ich in ihr Ohr. Sie erwiderte die Umarmung und hauchte mir einen Kuß auf die Wange.

Ich wußte, wo ich Veelora und Karas finden würde. Ich betrat das kleine Vorzimmer von Karas' Arbeitsraum und schloß leise die Tür hinter mir. Dann legte ich die Hand auf die Klinke der inneren Tür und schloß für Sekunden die Augen. Die folgende Auseinandersetzung würde meine gesamte Konzentration und Kraft benötigen. Die Tür bewegte sich sacht in den Angeln, sie war nur eben angelehnt. Ich hörte deutlich die Stimmen von drinnen.

»Warum willst du es ihm nicht endlich sagen?« fragte Veelora drängend. Ich zögerte, einen Augenblick zu lang. »Elloran wird es uns verübeln, wenn wir ihn noch länger im Dunkeln tappen lassen. Das arme Kind ist völlig verwirrt. Er ist nicht dumm, er fragt und bohrt. Wir können ihm das nicht länger antun!«

Karas seufzte. »Ich wage es nicht, Vee. Vielleicht helfen Galens Nachforschungen uns dabei, das Schwert, das über unseren Nacken schwebt, wieder in seine Scheide zu befördern – aber jetzt ist es noch zu früh! Je weniger der Junge weiß, desto sicherer ist es für ihn.« Ich wagte kaum, zu atmen. Behutsam nahm ich die Hand von der Klinke und schob mich näher an den Türspalt.

»Karas, das ist doch Unsinn! Wenn Galen wirklich recht behält, dann ist es meine geschätzte Schwester im Dienst, die linke Hand, diese verfluchte Verräterin, die auf deinen Untergang hinarbeitet. Und wenn das so ist, dann ist Elloran hier so sicher wie in einem Nest von Vipern! Wenn er hingegen wüßte, wovor er sich hüten muß ...«

»Aber das sind doch alles nur unbewiesene Vermutungen! Sie war die engste Vertraute meiner Mutter, und mein Vater hat sie gehaßt wie einen eingewachsenen Nagel – das allein wäre mir Grund genug, ihr zu vertrauen. Mit deinen Verdächtigungen machst du die Krone zum einarmigen Krüppel!«

»Verdammt, Karas, sei doch nicht so einfältig! Hast du Galen jemals irgendwelche Mutmaßungen aussprechen hören, wenn er nicht im Grunde die Beweise schon in der Tasche hatte? Der Mann hat einen geradezu unheimlichen Riecher für Verrat und Intrigen.« Ich hörte ihre Finger unruhig auf den Tisch tappen. »Also gut«, sagte sie entschlossen, »du willst es nicht anders. Galen hat Julian am S'aavaranischen Hof gesehen.«

»Was?« fuhr Karas auf. Seine Stimme war heiser vor Schmerz. »Wie will er denn ... er hat Julian nie ...«

»Natürlich hat er nicht gesagt, daß er Julian gesehen hat, Liebster. Er hat mir jemanden beschrieben, den ich eindeutig erkennen konnte. Du weißt, was das bedeutet, oder?« Sie wartete, aber Karas schwieg. »Julian tut immer nur, was seine Herrin ihm aufträgt«, fuhr sie erbarmungslos fort. »Wenn Galen ihn bei den T'jana gesehen hat, dann war er in ihrem Auftrag unterwegs! Karas, bitte. Glaubst du, mir fällt das leicht? Ich bin immerhin seine Mutter!«

Ich wurde auf meinem Lauschposten fast ohnmächtig. Wenn ich auch nur eine Sekunde länger hier stehen blieb, würde ich mich verraten; ich mußte jetzt entweder die Auseinandersetzung wählen und dort hineingehen, oder ... Ich wählte die andere Möglichkeit: die feige Flucht.

Unter den schützenden Zweigen meiner Birke versuchte ich, das Gehörte zu verarbeiten. Es gelang mir nicht. Ich wußte weder ein noch aus. Wer konnte mir jetzt noch helfen, da doch offensichtlich alle gegen mich verschworen waren? Julian, einer der wenigen, die immer aufrichtig zu mir gewesen waren, hatte mir immerhin die nicht unwesentliche Tatsache verschwiegen, daß er mein leiblicher Onkel war, der Zwillingsbruder meiner Mutter. Ich konnte niemandem mehr trauen – Leonie hatte mich zu Recht gewarnt.

Leonie. Ich lachte bitter auf und lehnte den Kopf an den Stamm der Birke. Jetzt wußte ich, was der Armreif zu bedeuten hatte. Es jagte mir Schauer des Entsetzens über den Rücken. Falschheit und Verstellung waren Künste, die meine Lehrer vergessen hatten, mich zu lehren; aber es schienen die einzig wichtigen Fähigkeiten in diesem Spiel zu sein. Also gut, dann sollte es so sein. Hiermit begann meine eigentliche Lehrzeit auf der Kronenburg. Ich schwor mir, mich als aufmerksamer und gelehriger Schüler zu erweisen.

»Du hast mich warten lassen«, klang eine vorwurfsvolle Stimme über mir aus den Ästen. »Wo warst du so lange? Hast wieder einmal hinter irgendwelchen Türen gelauscht, oder? Sei vorsichtig, das kann zu einer ganz üblen Angewohnheit werden.«

»Ach, du«, antwortete ich verzweifelt. »Du hilfst mir auch nicht weiter. Du hast doch alles gewußt, warum hast du mir nicht wenigstens einen kleinen Tip gegeben?« Es raschelte, und die Zweige der Birke rauschten. Sie glitt geschmeidig aus ihrem Hochsitz und setzte sich neben mich. Ihre Finger verflochten sich mit meinen. Ich sah mit schwimmenden Augen darauf nieder.

»Eigentlich sind wir uns gar nicht mehr sehr ähnlich«, sagte sie versunken. »Wir sind zu lange voneinander getrennt gewesen, weißt du?« Sie lehnte den Kopf an meine Schulter.

»Was soll ich jetzt bloß tun? Soll ich von hier fortgehen?«

Sie wandte sich von mir ab. Das schwere rote Haar verbarg mir ihr schmales, helles Gesicht. »Ich kann dir nicht raten. Du vergißt immer wieder, daß es mich nicht gibt. Wie kann etwas, das nicht vorhanden ist, dir Ratschläge geben?« Ihre mageren Schultern zuckten, sie schien zu weinen. Ich packte sie an der Schulter und zwang sie, mich anzublicken. Darauf war ich überhaupt nicht gefaßt gewesen, in ein paar lachende, übermütige blaue Augen zu sehen. Wütend stieß ich sie von mir und schrie sie an: »Warum lachst du mich aus? Was habe ich dir denn getan, daß du dich über mich lustig machst?«

»O Elloran, du nimmst immer alles so schrecklich ernst. Manchmal glaube ich, sie haben deinen Sinn für Humor bei mir vergessen, als sie uns trennten. Wenn du einmal über dich selber lachen könntest, wäre wahrscheinlich alles nur noch halb so schlimm!« Sie schmiegte sich wieder an mich und lockte: »Komm, Elloran. Lach doch mal, nur für mich.« Sie kitzelte mich. Ich schlug erbost ihre Hand weg. Sie kicherte und bohrte mir ihren spitzen Zeigefinger in die Seite. Ich griff hart nach ihren Handgelenken und hielt sie fest. Der Griff hätte ihr eigentlich weh tun müssen, aber sie lachte immer weiter. Dann wurde sie plötzlich ganz still und schien zu lauschen.

»Du bekommst Besuch«, wisperte sie und wand sich aus meinem Griff. »Paß auf dich auf!« Sie war fort, ehe ich antworten konnte.

»Hallo?« sagte eine fremde Stimme dicht neben mir. Ich schüttelte mich und öffnete die Augen. Riesige violette, langbewimperte Augen sahen mich an. Ihre Besitzerin kniete neben dem Mäuerchen im Gras und hielt die hängenden Zweige der Birke zur Seite. Schwarze, lange Haare umrahmten ein ebenmäßiges, ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen und vollem Mund über einem runden Kinn mit Grübchen darin. Das glatte Haar hatte in der Sonne einen Schimmer wie Rabenflügel; blaue, violette und smaragdgrüne Reflexe spielten darauf.

Ich blickte gebannt in das schöne Gesicht mit dem sanften goldenen Schimmer auf der hellen Haut und antwortete äußerst geistreich: »H-hallo.«

Ein breites Lächeln teilte die pfirsichfarbenen Lippen und ließ blendendweiße Zähne sehen. Sie kroch zu mir unter die Birke und setzte sich im Schneidersitz neben mich; ein junges Mädchen, vielleicht in meinem Alter, in leichte, farbenfrohe Gewänder gekleidet: weite Hosen und ein flatternder Kaftan mit einer golddurchwirkten Schärpe, in der ein kleiner Zierdolch steckte. Die Kleidung erinnerte mich an den Edlen Gioanî von den Inseln: Wahrscheinlich gehörte das Mädchen zu dem Gefolge seines Sohnes, den Karas als Geisel gefordert hatte.

»Ich stören?« fragte sie und blinzelte durch ihre langen Wimpern. Ich beeilte mich zu versichern, daß das ganz und gar nicht der Fall sei. Wir lächelten uns an. »Schönes hier«, sie sah sich um. »Grün«, setzte sie erklärend hinzu. Ihre Stimme war dunkel und ihre Aussprache hatte einen weichen, kehligen Akzent.

»Du b-bist von den Inseln?« fragte ich. Sie nickte und strich sich mit einer anmutigen Geste die fedrigen Haare aus den Amethystaugen.

»Rhûn.« Das ›R‹ war stark gerollt, und der Vokal klang ganz hinten im Hals. Ich versuchte, es nachzusprechen. Es mißlang mir kläglich. Sie lachte kullernd und legte einen Finger mit einem langen, perlmuttschimmernden Nagel auf meine Lippen: »Rhûn«, wiederholte sie, »Cesco« – sie deutete auf sich.

»Cesco«, sagte ich folgsam und etwas verlegen. »Ich h-heiße Elloran.«

»Ah. Ellorrran«, rollte sie genüßlich.

»Cesco? Cesco! Ai, maldêttu, nascon ti simpra! Cesco!!« rief eine erboste Stimme im Hof. Meine Begleiterin zog den Kopf zwischen die Schultern und kicherte.

»Meine stitutori, ah, wie sagen – Erziehung?« Sie sah mich hilfesuchend an. »Erzieher?« schlug ich vor. Sie nickte heftig und riß die Augen auf. Sie blähte die Backen, streckte einen eingebildeten Bauch vor und drohte mit dem Finger. Ich mußte lachen. Sie legte mir die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf, daß die Haare nur so flogen.

»Cesco!« erklang es drohend ganz aus der Nähe. »Sentio ti!« Sie knipste mir mit dem Auge zu, legte noch einmal den Finger auf den Mund und kletterte wie eine Katze in den Baum. Kurz darauf erhob sich ein drohender Schatten vor der Birke, eine riesige Hand schob die Zweige beiseite, und ein rundes, finsteres Gesicht schaute herein. Sein Blick musterte mich mißtrauisch und sah dann gründlich in die Runde.

»Entschuldigung, junger Herr«, brummte der Hüne endlich in fließendem L'xhan. »Ich suche nur jemanden. Ihr seid ganz alleine hier?« Ich nickte stumm, mit einem Kitzeln im Hals, das jeden Augenblick drohte, als unbändiges Gelächter herauszuplatzen. »Dann verzeiht die Störung.« Er zog den Kopf zurück. Ich hörte ihn rufend zur anderen Seite des Hofes hinübergehen. Eine Tür schlug zu, und wir waren wieder alleine.

»D-du kannst runterkommen. Er ist w-weg«, rief ich leise. Die Zweige raschelten und bebten. Neben mir glitt Cesco zu Boden, mit strahlenden Augen und einem mutwilligen Grinsen.

»Danke für helfen. Aber jetzt ich besser gehe, sonst Giacchîn böswild furiosig!« Eine furchterregende Grimasse stellte bildhaft die zu erwartende Gemütslage des Erziehers dar. Ein kurzes Winken, und die Erscheinung war fortgehuscht. Ich kicherte und fühlte mich mit einem Mal nicht mehr gar so niedergeschlagen. Vielleicht nahm ich ja wirklich alles viel zu ernst. Ich rappelte mich auf und ging hinein, um nach Jenka zu suchen.

Vor dem Abendessen mit Veelora und dem Kammerherrn – ich brachte es noch nicht einmal in Gedanken fertig, ihn ›Großvater‹ zu nennen – grauste mir. Jenka hatte ich einigermaßen beruhigen können; allerdings zu dem Preis, daß ich sie hatte belügen müssen. Ich nahm das als meinen ersten Versuch in Lug und Trug. Daß er mir gut gelungen war, wagte ich zu bezweifeln. Jenkas Gesicht war traurig und enttäuscht gewesen, als wir uns trennten.

Es kam mehr oder weniger, wie ich befürchtet hatte. Karas und Veelora waren sehr schweigsam, eine Mißstimmung hing zwischen ihnen in der Luft. Wir stocherten alle drei appetitlos in unserem Essen herum, und Karas sprach überaus eifrig seinem Wein zu. Veelora warf ihm deshalb von Zeit zu Zeit tadelnde Blicke zu, die er aber hartnäckig übersah. Irgendwann schaute er auf und sah mich an, ohne mich wirklich zu sehen. Sein Blick wirkte verschattet und gequält, und ich erwiderte ihn so kalt, wie es mir möglich war. Er seufzte lautlos und griff wieder nach seinem Glas.

Veelora legte mahnend ihre Hand auf die seine und sagte sanft: »Karas.« Er sah zu ihr hin, und sie schüttelte leicht den Kopf. Seine Finger krampften sich so um das Glas, daß ich erwartete, es würde in seiner Hand zersplittern. Sie nahm es ihm behutsam ab und legte beide Hände um seine geballte Faust. Ihre Blicke fochten ein stummes Duell aus.

Ich stand auf und schob meinen Stuhl an den Tisch. Veelora blickte mich fragend an. »Ich habe K-Kopfschmerzen«, sagte ich. »Darf ich m-mich zurückziehen?« Sie nickte nur knapp und richtete ihr Augenmerk wieder auf Karas' starres Gesicht.

Als ich die Tür öffnete, rührte sich der Kammerherr leicht und sagte schwerfällig: »Morgen ist Krontag, Elloran, bitte denk daran. Die Krone wird die Abordnung der Inseln begrüßen, und du solltest der Zeremonie ausgeruht beiwohnen. Schlaf gut, Kind.«

Der Krontag. Einer der vier Tage im Jahr, an dem die Krone sich früher dem Hof und geladenen Bürgern der Kronstaaten gezeigt und Audienz gehalten hatte. An diesem Tag wurden verdiente Bürgerliche in den Adelsstand erhoben, andere mit Orden und Auszeichnungen geehrt, und hohe Staatsbeamte hatten die Gelegenheit, die Treppe noch eine weitere Stufe hinaufzufallen. In ganz L'xhan wurde ein Feiertag ausgerufen, und die Burg und die Stadt und alle ihre Bewohner waren festlich geschmückt. Abends fanden dann überall Festessen und Gelage mit den von der Krone gestifteten Getränken und Speisen statt.

Daß die Krone nicht mehr öffentlich auftrat, hatte zumindest dem Feiern wenig Abbruch getan. Einzig das Zeremoniell bei Hofe, die Audienz, nahm natürlich einen etwas anderen Verlauf. Die Hände der Krone repräsentierten nun die höchste Macht des Staates und hielten in Stellvertretung die Zeremonie ab. Als Enkel der Herrin von Kerel Nor hatte ich mich dabei in der Nähe meiner Großmutter aufzuhalten.

Karas' Schneider hatte mir für diesen Tag zeremonielle Kleider angemessen, in denen ich mich überhaupt nicht wohlfühlte. Der hohe steife Kragen des engen, brokatenen Wamses kratzte erbärmlich, und in den altmodischen Kniehosen und den halbhohen Schnallenschuhen kam ich mir reichlich lächerlich vor. Veelora, ihrem grimmigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ging es nicht viel besser als mir. Sie steckte in einem blankpolierten silbernen Küraß und trug einen Helm mit einem riesigen weißen Federbusch unter ihrem Arm. Unter dem Brustpanzer leuchtete eine weiße Tunika aus feiner Wolle hervor, und ihre langen Beine steckten in engen Hosen aus weichem schwarzen Leder. An ihrem Schwertgurt hing das zeremonielle Schwert der Rechten Hand, ein riesiges, reich verziertes Ding von ganz erstaunlichem Gewicht. Dazu kam dann noch ein langer, schwerer Samtmantel mit dem Falken von Kerel Nor, der im Augenblick noch über einem Stuhl in Karas' Zimmer lag.

Sie legte den Helm auf dem Stuhl ab und nestelte an Karas' widerspenstigem Kragen herum. Der Kammerherr war, wie meist, eher unauffällig gekleidet: Er trug schlichte schwarze Hosen, eins seiner blendendweißen Hemden, vielleicht mit ein paar Rüschen mehr als gewöhnlich; eine dezent silberbestickte lange Weste von einem fast schwarz erscheinenden tiefen Rotton, und auf dem Diwan lag noch ein schwarzseidener Rock mit langen Schößen und dunkelroten Aufschlägen bereit. Keine Ordensschärpe, wie zu dem Treffen mit dem Gesandten von Rhûn und Rhan, kein lächerliches Augenglas und an den Füßen bequeme, flache Schuhe.

Endlich war der Kragen gebändigt, der Rock angezogen, und Veelora hatte ihren langen Mantel an den Schulterriemen ihres Harnischs befestigt und den blitzenden Helm wieder unter ihren Arm geklemmt. »Wir können«, stieß sie aufatmend hervor. »Karas, wo ist dein Stock? Elloran, zieh deine Strümpfe hoch. Kommt, ihr beiden, macht nicht solche Gesichter!«

In der großen Halle herrschte schon vor dem Öffnen der großen Flügeltüren emsiges Getriebe. Veelora prüfte die Galauniformen ihrer Leibgarde, legte dann den Helm auf ihren hochlehnigen, geschnitzten Stuhl links neben dem Thron und starrte wütend auf den leeren Sitz der anderen Hand der Krone.

»Wo bleibt sie nur? Wir können die Türen nicht öffnen, ehe die Oberste Maga an ihrem Platz ist. Wie sieht das denn aus?«

Karas, der mit ergebener Miene auf einem niedrigen Stuhl am Fuße der Thronempore hockte, zuckte nur mit den Achseln. »Sie wird schon kommen, Vee, beruhige dich. Es ist noch ein wenig Zeit.«

Veelora prustete erbost und ging zum dritten Mal zum Thron hinüber, um den schmucklosen Stirnreif, der dort auf den leicht verblichenen Polstern lag, zurechtzurücken. Sie hielt ihn für einen kurzen Augenblick in den Händen. Ich meinte, einen Schimmer von Tränen in ihren Augen zu sehen. Dann fuhr sie herum, daß ihr Mantel eine Wolke von Staub aufwirbelte und bellte eine Anweisung an die Kommandantin ihrer Leibgarde. Ich stand wie befohlen hinter dem Stuhl meiner Großmutter und blinzelte von dort aus Jenka zu, die mit erhobenem Kinn in der Reihe der strammstehenden Soldatinnen stand und in ihrer warmen Galauniform heftig zu schwitzen schien. Sie grinste kurz und wurde dann wieder ernst.

»Karas! Unternimm endlich was! Wir können nicht länger warten!« schimpfte Veelora und trat aufgebracht ihren Mantel beiseite, der sich bei ihrer letzten heftigen Drehung um ihren Knöchel gewickelt hatte wie ein allzu anhänglicher Schoßhund.

»Reg dich nicht unnötig auf, Veelora. Ich bin hier«, erklang eine tiefe ruhige Stimme aus dem Dämmerlicht des kleinen Seiteneingangs. Eine hohe, in einen fließenden schwarzen Umhang gekleidete Gestalt trat herein und ging lautlos zu dem leeren Stuhl unter dem schwarzen Banner der Obersten Maga. Sie schlug die weite Kapuze von den weißen Haaren zurück und nickte Karas hoheitsvoll zu. Ihre Vogelaugen ruhten eine Weile lang auf mir und glitten dann weiter zu meiner Großmutter. »Bitte, geschätzte Kollegin, wir können beginnen.«

Veelora schnaubte verächtlich und winkte dem Zeremonienmeister, der an der Tür von einem Fuß auf den anderen trat. Erleichtert gab er den Lakaien den Befehl zum Öffnen. Der Frühlings-Krontag nahm seinen Anfang.

Es war ein langes und ermüdendes Zeremoniell. Ich beneidete meine Großmutter, daß sie sich wenigstens ab und zu zwischen den einzelnen Ehrungen und formellen Begrüßungen hinsetzen konnte. Karas Gesicht nahm im Laufe der Stunden den fahlen, erschöpften Ausdruck an, der auf heftige Schmerzen hindeutete. Einzig Leonie schien dieser ganze Zirkus nichts auszumachen. Sie saß schweigend und unnahbar auf ihrem Stuhl, eine reglose schwarze Hand auf der Armlehne, und bewegte sich so wenig, daß man genausogut eine holzgeschnitzte Figur an ihrer Statt dort hätte hinsetzen können. Nur ihre gelben Augen bewegten sich von Zeit zu Zeit. Ich war sicher, daß ihr keine noch so winzige Einzelheit der Geschehnisse entging.

Endlich, gegen späten Mittag, nahte der Höhepunkt und damit der Abschluß der offiziellen Audienz. Die Abordnung der Inseln wurde feierlich von Trompetenstößen und Trommelwirbeln angekündigt. Ein Herold der Inseln in leuchtend blauen und grünen Gewändern stieß seinen Stab hallend auf den Marmorboden und kündigte mit klingender Stimme an: »Im Namen Ihrer Erhabenheit, der Großherzogin von Rhûn und Rhan, Schutzherrin der Tausend Inseln, Patronin der Südlichen Meere, vermelde ich die Ankunft des Hochgeborenen Prinzen Cesco, Erbe von Rhûn und Bewahrer des Herzöglichen Siegels.«

Ein weiterer Tusch, und eine farbenprächtige Schar flatterte herein wie bunte Vögel. In ihrer Mitte erblickte ich den riesenhaften Erzieher Giacchîn und vor ihm das schöne Fabelwesen, das ich für eine junge Frau gehalten hatte: den Sohn und Erben des Edlen Gioanî, vierter in der Thronfolge von Rhûn und damit eine wichtige und wertvolle Geisel für den Frieden zwischen den Inseln und der Krone.

Karas und Veelora erhoben sich, um den Jüngling achtungsvoll zu begrüßen. Der machte eine schwungvolle und elegante Verbeugung vor den Stellvertretern der Krone und drehte dann unauffällig den Kopf, um mir einen schalkhaften Blick aus violetten, wimpernüberschatteten Augen zuzuwerfen. Ich ertappte mich dabei, daß ich wie ein Idiot zurückgrinste. Cesco schnitt eine winzige Grimasse und war dann wieder ganz Ernst und Sammlung – eben ein Prinz der Inseln.

Mit verschiedenen blumigen Begrüßungsansprachen und Beteuerungen des guten Willens und der Friedfertigkeit aller Vertragsparteien ging der offizielle Krontag endlich zu Ende. Die Höflinge wurden in aller Form hinausgescheucht, nur Cesco und sein Erzieher blieben in der sich leerenden Halle zurück, weil sich nun ein gemeinsames Essen in einem der kleinen Bankettsäle anschließen sollte.

Veelora ließ sich von ihrer Kommandantin aufatmend aus dem Küraß helfen. Karas schob ohne jede Formalität einfach den Stirnreif der Krone beiseite und setzte sich mit einem erleichterten Ächzen auf den bequem hohen Thron, um sein krankes Bein besser ausstrecken zu können. Leonie legte den schwarzen Umhang ab und stand wieder in ihrer weißen Wolke von Kleidern vor uns. Der junge Cesco – er war drei Jahre älter als ich, wie ich aus Karas' Unterlagen wußte – hockte als schmalgliedriger Paradiesvogel auf den Stufen der Empore und lachte mich fröhlich an.

»Du Sohn von Herrin, Ellorrran?« fragte er neugierig. Ich schüttelte den Kopf und erklärte, daß Veelora meine Großmutter sei.

»Ah, Mutter von Mutter, êe ver?«

Veelora trat zu uns und sah Cesco neugierig an. »Woher kennt ihr euch, Cesco?« fragte sie erstaunt. »Ihr seht euch doch heute nicht zum ersten Mal, oder täusche ich mich?«

Cesco grinste mich an, und ich lachte zurück. »Wir uns gestrig in Giardîn getroffen. Sehr schöne, grün!« sagte er eifrig.

Veelora lachte. »Cesco, deine Aussprache ist sehr viel besser geworden, seit wir uns das letzte Mal unterhalten haben. Du hast wirklich einen guten Lehrer.« Der riesige, schweigende Schatten hinter dem zierlichen Jüngling neigte dankend den Kopf.

Karas klatschte jetzt Aufmerksamkeit heischend in die weichen Hände. »Laßt uns zum Essen gehen, ich glaube, ich verhungere sonst hier auf den Stufen des Throns«, rief er gutgelaunt. Anscheinend war er heilfroh, den offiziellen Teil des Krontages hinter sich gebracht zu haben. Sein Kragen hing auch schon wieder halbaufgelöst an ihm herunter. Ich nahm das als stillschweigende Erlaubnis und knöpfte meinen steifen, kratzigen Kragen ebenfalls auf. Cesco nahm meinen Arm und befühlte den dicken Brokatstoff.

»Ist nicht schön«, sagte er verwundert. »Viel zu dickig, harrrt, Ellorrran! Fühl dich hier!« Er nahm meine Hand und führte sie an seine Brust. Unter dem dünnen gold-rot-blauen Seidenstoff spürte ich warme Haut und den schnellen Schlag seines Herzens. Ich sah in seine amethystfarbenen Augen und merkte, wie mir der Mund trocken wurde. »Schön«, sagte ich unwillkürlich und wurde rot. Cesco sah mich unverwandt an und ließ meine Hand nicht los. Ich spürte Leonies wachsamen Blick auf uns ruhen und machte mich hastig von Cesco los. Er lächelte, und eine kleine rosa Zungenspitze spielte über die pfirsichfarbenen Lippen. Ich konnte kaum den Blick von ihrem feuchten Glanz wenden.

»Kommt schon, Kinder«, klang es ungeduldig von der Tür. »Ihr habt noch reichlich Gelegenheit, miteinander zu reden.« Veelora wartete im Türrahmen, Karas und der Erzieher Cescos waren anscheinend schon vorausgegangen. Leonie stand wie eine stumme Mahnung an Veeloras Seite. Cesco schob seinen Arm unter meinen und schritt hoheitsvoll an den beiden Frauen vorbei. In seinen Augen blitzte es mutwillig, und mir wurde klar, daß ich gerade dabei war, mich schrecklich zu verlieben. Verzeih mir, Tom, flüsterte ich lautlos. Verzeih mir.