7

Müde hockte ich am Straßenrand und kaute lustlos auf einem trockenen Kanten Brot herum. Es nieselte leicht, und ich fröstelte in der kühlen Morgenluft. Ich hatte vor Aufregung lange wachgelegen und war erst kurz bevor ich aufstehen mußte, etwas eingenickt. Ich hatte wirr und schwer geträumt. Obwohl ich mich nicht an ihn erinnern konnte, bedrückte der Traum mich noch immer. Ich kroch tiefer in die warme Wolljacke, die ich angesichts des naßkalten Wetters für nötig gehalten hatte, und steckte meine klammen Finger tief in die Taschen. Ich war ohne Probleme ungesehen aus der Burg hinausgekommen und wartete nun mit wachsender Ungeduld auf meine Reisegesellschaft. Jemaina hatte dem Stallmeister inzwischen wahrscheinlich schon meine Abwesenheit erklärt. Bei dem Gedanken an die Folgen, die diese Lüge für sie haben könnte, wurde mir trotz ihrer zuversichtlichen Worte vom vergangenen Abend sehr unbehaglich zumute. Aber Jemaina konnte gewiß auf sich selbst aufpassen – wenn es jemals eine Frau gegeben hatte, die das konnte, dann war es die kleine olyssische Heilerin!

Der Regen wurde stärker. Verdammt, wo blieben sie nur? Ob Akim sich am Ende geweigert hatte, mich mitzunehmen, und die beiden nun einen anderen Weg genommen hatten? Ich stand auf und ging unschlüssig ein paar Schritte in Richtung Burg. Dort, wo der Weg eine Kurve machte und aus meinem Blick verschwand, konnte ich eine Bewegung ausmachen. Der Göttin sei Dank, es war der buntbemalte Wagen meiner beiden Weggefährten! Ich winkte ihnen zu, und Tom, der dieses Mal auf dem Bock mitreiste, winkte zurück. Die Mäntel, in die sich beide Männer gewickelt hatten, glänzten vor Nässe. Tom wirkte genauso unausgeschlafen, wie ich mich fühlte – der Abschied von Rosaleen mußte sich in die Länge gezogen haben. Akim saß, bis an die Nase in seinen Mantel gehüllt, mit womöglich noch mißvergnügterem Gesicht als sonst neben ihm und würdigte mich keines Blickes.

»Hüpf hinten rein«, sagte Tom. »Da hast du es wenigstens trocken. Oder möchtest du auf dem Biest reiten?« Nach einem Blick auf den häßlichen Klepper, der mich wie immer mit gefletschten Zähnen bösartig anschielte, lehnte ich schaudernd ab. Ich bestieg den Wagen und machte es mir zwischen all dem Zeug, das die beiden mit sich führten, bequem. Das war eine günstige Gelegenheit, etwas Schlaf nachzuholen. Ich bettete den Kopf auf mein Bündel, lauschte dem Trommeln des Regens auf dem hölzernen Dach und ließ mich vom Schaukeln des Wagens in den Schlaf wiegen.

Als ich wieder aufwachte, war das Geräusch des Regens verstummt, und der Wagen stand still. Ich steckte den Kopf hinaus und blinzelte ins Licht. Wir hatten am Rande eines lichten Waldes haltgemacht. Die Sonne war zwischen den Wolken hervorgekommen und ließ die Myriaden von Wassertropfen aufgleißen, die überall im Gras und an den Blättern der Bäume hingen. Ich sah Akim, der seinen triefnassen Mantel zum Trocknen an einen sonnenbeschienenen Ast hängte. Tom kramte derweil in einem Beutel herum und packte unser Frühstück aus. Jemaina hatte uns ein wohlsortiertes Proviantpaket zurechtgemacht, und bei dem Anblick und Duft des frischen braunen Brotes und des goldgelben Käses wurde mir wehmütig ums Herz. Auch Akim wirkte sehr in sich gekehrt und sogar noch mürrischer als sonst. Sogar Tom mußte vor seiner üblen Laune kapitulieren.

Unsere Weiterfahrt gestaltete sich schweigsam. Der Spielmann hatte endgültig aufgegeben, seinen Begleiter zu einem Schwätzchen zu animieren und intonierte nun zum Trotz fröhliche Weisen auf einem seltsamen kleinen Instrument aus Blech. Er hatte es mir auf der Burg schon stolz vorgeführt und berichtet, daß es von weit her, von der anderen Seite des Meeres der Tausend Inseln stammte und ›Mundharmonion‹ genannt wurde. Sein Klang war ungewöhnlich durchdringend und nicht besonders schön. Das fand wohl auch der vor sich hinbrütende Heiler, denn nach etlichen Längen zurückgelegten Weges unter den quäkenden Lauten dieses Gerätes brach er zum ersten Mal an diesem Vormittag sein Schweigen und fauchte Tom an: »Wenn du nicht augenblicklich mit diesem Gewimmer aufhörst, reiß ich dir den Kopf ab und steck dir das Lärmding in den Hals. Dann kannst du meinetwegen mit dem Arsch Musik machen!« Daraufhin schwang sich Tom beleidigt vom Bock.

»Bitte, pflege du nur ruhig deine miese Laune, aber nicht in meiner Gesellschaft«, sagte er pikiert und band das Biest los, um das Wegstück vor uns zu erkunden. Da mir das Gerumpel und Gerüttel zwischen all dem Zeug hinten im Wagen langsam auf die Nerven ging, nutzte ich die Gelegenheit, um auf den Bock umzuziehen. Akim warf mir nur einen schiefen Blick zu und rümpfte die Nase. Mir war völlig klar, daß er meine Begleitung nicht besonders schätzte. Es wunderte mich nur, daß er sich nicht dagegen ausgesprochen hatte. Vielleicht hatte Jemaina ihn überredet, mich mitzunehmen.

Tom kam von seinem Ausflug zurück und ritt eine Weile neben uns her. Ich warf verstohlene Blicke zurück. Wir näherten uns der Grenze von Salvok; ich kannte die Gegend von einer Reise zum Viehmarkt in Corynn, einem Marktflecken, der im Grenzgebiet der Burg lag. Weiter war ich in meinem Leben noch nicht von zu Hause fortgewesen. Wir fuhren zwischen üppigen Feldern, auf denen sich fast kopfhoch weißblondes Korn in den Ähren wiegte. Die Luft war nach dem Regen noch frisch wie ein kühler Schluck Wasser, aber die Sonne stach heiß auf uns nieder. Es versprach ein drückender Tag zu werden. Ich schälte mich aus meiner dicken Jacke und warf sie durch die Luke am Kutschbock ins Wageninnere. Dann drehte ich wieder den Kopf und beobachtete den Weg hinter uns.

Tom sah mich an und schmunzelte. »Keine Angst, wir werden nicht verfolgt«, sagte er leise.

Ich schrak zusammen. »Was meinst du damit?« stotterte ich, und er lachte.

»Du behältst die ganze Zeit den Weg im Auge, weil du fürchtest, Leute von der Burg könnten kommen und dich zurückholen.« Er schüttelte grinsend den Kopf. »Weißt du«, sagte er dann im Plauderton, »dazu muß ich noch nicht mal ein guter Beobachter sein. Es ist nur natürlich, wenn der Burgherr versucht, seinen ausgebüxten Sprößling wieder einzufangen.« Ich seufzte. Wie hatte ich nur auf den Gedanken kommen können, daß Tom mir meine Geschichte abnehmen würde? Wahrscheinlich wußte er schon, als ich ihn bat, mich mitzunehmen, wer ich war. Um so erstaunlicher war, daß er eingewilligt hatte. Vorsichtig blinzelte ich zu ihm hinüber. Er sah mich mit amüsierter Miene an.

»Tut mir leid, daß ich dich angelogen habe«, murmelte ich verlegen.

»Junger Freund, du hast noch einiges zu lernen, bis du mir eine Lüge so servieren kannst, daß ich sie auch schlucke.« Ich wurde rot.

Akim meldete sich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder zu Wort. »Warum bringst du es ihm nicht bei, o Vater der Lügen?«

Tom warf ihm einen Blick zu. »Sieh einer an, er kann sprechen!« staunte er. Der Heiler spuckte verächtlich aus und verfiel wieder in Schweigen.

»Ich denke nicht, daß sie schon hinter uns her sind«, erklärte ich Tom. »Jemaina wollte sie ablenken. Aber trotzdem bin ich unruhig. Es tut mir wirklich leid, daß ich euch Unannehmlichkeiten bereite. Wenn ich nicht so nötig zu meiner Großmutter müßte ...«

»Mach dir keine Gedanken. Wir werden sie schon ablenken, wenn sie kommen. Du schlägst dich dann einfach für eine Weile in die Büsche, und wir wissen von nichts.« Ich stammelte einen Dank, und er winkte ab. »Ich freue mich sehr darüber, daß ich deine Gesellschaft auf dieser Reise genießen darf. Also danke mir nicht, vielmehr muß ich dir danken.«

Akim warf ihm einen angewiderten Blick zu, den Tom mit unschuldsvoller Miene beantwortete. Seine Rede hatte mir die Sprache verschlagen.

»Mö ... möchtest du wieder auf den Bock? Ich kann es jetzt eine Zeitlang hinten aushalten«, bot ich ihm eilig an, als unser Kutscher den Karren zum Halten brachte.

»Ich brauche dringend eine Pause«, knurrte Akim und sprang vom Bock. »Tom kann weiterfahren, ich lege mich hinten rein.« Er verschwand. Ich verdrehte die Augen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Tom band das Biest an den Wagen und kletterte geschmeidig neben mich auf den Sitz. Er ergriff die Zügel und schnalzte auffordernd mit der Zunge. Der magere Schimmel fiel gehorsam wieder in Schritt. Ich suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Gesprächsthema.

»Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt, Nikal und du?« fragte ich schließlich. Er antwortete nicht gleich.

»Das ist eine lange Geschichte. Ich weiß nicht, ob dies der richtige Zeitpunkt ist, sie zu erzählen.« Ich spürte, wie mein Mißtrauen wieder zu keimen begann. »Wir haben lange Zeit bei derselben Truppe gedient«, fuhr Tom schließlich doch fort. »Nikolai hat mir mal das Leben gerettet. Ich schulde ihm was.«

Der Kater als Söldner? Die Vorstellung war absurd und komisch zugleich. Wir schwiegen nun beide, in Gedanken versunken. Toms spöttisches Gesicht wirkte ungewöhnlich ernst.

Als der Abend sich senkte, lag Salvok schon weit hinter uns. Akim war nach einigen Stunden Schlaf wieder aufgetaucht und hatte die Zügel übernommen. In Corynn legten wir eine kurze Rast ein und stockten unseren Proviant auf. Die Gegend, durch die wir fuhren, war mir völlig fremd, aber meine Begleiter schienen sich auszukennen. Sie beratschlagten über einen günstigen Platz zum Nächtigen. Bevor es dunkel wurde, hatten wir ein kleines Waldgebiet erreicht, und Akim lenkte den Wagen an den Rand einer Lichtung. Ich schirrte unser Zugpferd aus und überließ Tom die Sorge für das Biest. Akim kümmerte sich derweil um unser Nachtmahl.

Als die Nacht hereinbrach, saßen wir um ein munter prasselndes Feuer. Tom lehnte an einem Baum und reparierte eine seiner Lauten, deren Saiten gerissen waren. Akim kaute auf einem Holzspan und starrte ins Feuer. Ich dachte an meine Freunde. Ob ich wohl Jenka in der Hauptstadt wiedersehen würde? Meine Lider waren schwer und müde. Tom sah mich über das Feuer hinweg an; seine Augen lagen im Schatten, ich konnte nur ihr Funkeln sehen.

»Müde?« fragte er leise. Ich nickte und unterdrückte ein Gähnen. »Komm, hau dich hin. Möchtest du im Karren schlafen oder bei uns draußen?« Akim und er hatten ihre Decken im Schutz des Wagens ausgerollt. Ich zögerte. Die Luft im Wagen war stickig, und ich hatte schon fast den ganzen Tag dort verbracht. Was sollte schon passieren? »Draußen«, sagte ich. Er nickte und warf mir eine Decke zu.

»Schlaf gut und träum was Schönes«, wünschte er mir. Schon halb im Schlaf rollte ich mich in die Decke und bemerkte nicht einmal mehr, wie die beiden Männer sich schlafen legten.

Ich fand mich im Traum der letzten Nacht wieder. Es war anders als sonst, dieses Mal war mir nur zu bewußt, daß ich schlief und träumte. Ich meinte sogar, Tom neben mir atmen zu hören und etwas weiter von mir entfernt das leise Schnarchen Akims. Ich saß auf der hölzernen Treppe des Wagens und schaute auf die Lichtung. Alle Farben waren verschwunden, es gab nur Schattierungen von Schwarz, Weiß und Silber – wie in einer Mondnacht. Dennoch war nicht Nacht um mich herum, sondern lichter, heller Tag. Ich wartete auf etwas; ich wußte nicht, was es war, aber ich fürchtete mich. Es war so kalt, daß mein Atem in einer Wolke vor meinem Mund stand.

Die Lichtung veränderte sich langsam, fast unmerklich. Die Bäume wichen zurück und verschwanden in nebelhaftem Dunst. Der unebene Erdboden glättete sich, alle Pflanzen erschienen flach und ohne Tiefe und legten sich wie ein kurioser Teppich auf den Boden. Der nahm sie auf und verschlang sie schweigend. Der Wagen war plötzlich fort, ebenso die in ihre Decken gerollten Schläfer. Ich stand einsam auf der endlosen silbergrauen Ebene meines Fiebertraumes. Kein Himmel, kein Gestirn stand über mir, alles war grau und unbestimmt.

Vor mir auf dem Boden erschien wie von Geisterhand gemalt eine sich von Ost nach West erstreckende schwarze Linie. Neben mir spürte ich die Gegenwart eines anderen Menschen, aber ich konnte kein Glied rühren, um mich umzusehen.

Etwas klapperte, und eine ferne, weibliche Stimme sagte: »Das Spiel beginnt. Du besetzt die Spitze. Welche Figur wählst du?«

»Den Narren«, antwortete eine männliche Stimme, etwas näher als die erste.

Die erste Sprecherin lachte. »Was nimmst du den Narren, er ist doch nur eine Hälfte! Sei nicht dumm, mein Freund.«

Der Mann erwiderte das Lachen. »Täusche dich nicht, Meisterin. Der Narr wird mir sehr nützlich sein. Ich wähle ihn. Und ich habe den ersten Zug.« Wieder das Klappern von knöchernen Würfeln.

»Oh«, murmelte der Mann. Ich wurde hochgehoben und auf die schwarze Linie gesetzt. Um mich herum wurde es immer kälter, Reif lag auf dem Boden. Ich konnte meine Hände kaum noch spüren, meine Füße in den dünnen gelben Schnabelschuhen schienen aus schierem Eis zu bestehen. Ich wartete auf etwas, und ich wußte, daß es kam, um mich zu töten. Meine fühllosen Finger tasteten nach dem Messer an meinem schellenbesetzten Gürtel. Ein scharfer Wind kam auf und trieb mir das Wasser in die Augen. Für einige Sekunden war ich blind. Das schwarz-silberne Wesen war über mir, ehe ich mich versah, und unzählige eisige Beine drangen in mich ein und saugten den letzten Rest an Wärme aus mir heraus. Ich konnte mich nicht bewegen und fühlte unsichtbare Fäden mich einspinnen und mit unbarmherziger Kraft meine Arme an den Körper fesseln. Bald darauf umhüllte das Gespinst meinen ganzen Leib. Blind und gelähmt lag ich auf dem Erdboden und fühlte, wie mein Leben aus mir herausrann. Würfel klapperten.

»Mein Zug«, sagte die Frau.

»Elloran, Junge, um der Götter willen, wach doch auf!« Jemand schüttelte mich unsanft. Ich hörte mich schluchzen und fühlte eiskalte Tränen auf meinem Gesicht. Mir war so kalt, so unendlich kalt. Die Betäubung wollte nicht weichen, ich konnte mich nicht aus den eisigen Fängen des Traumes befreien.

Tom hörte auf, mich durchzurütteln und murmelte: »Himmel, du bist ja halb erfroren!« Seine kräftigen, warmen Finger begannen, meine klammen Hände zu reiben. Langsam kehrte das Leben in mich zurück. Toms energische Hände wickelten mich in eine zweite Decke – seine eigene – und dann zog er mich eng an sich. Ich kuschelte mich an ihn wie an einen warmen Herd und ließ mich von seiner Körperwärme auftauen. Barmherzig flutete der Schlaf zurück und erlöste mein gepeinigtes Bewußtsein.

Vor dem ersten Morgengrauen wurde ich durch den schmetternd einsetzenden Gesang der Vögel geweckt. Zuerst wußte ich nicht, wo ich war. Warum schlief ich hier im Freien? Sanfter Atem blies in mein Genick, über meiner Brust lag schwer ein fremder Arm. Ein warmer Körper schmiegte sich an meinen Rücken und zarter Vanilleduft stieg in meine Nase. Ich strampelte mich erschreckt frei, Tom knurrte unmutig und öffnete ein verschlafenes Auge. Er blinzelte mich an, murmelte etwas und schlief wieder ein. Sein schlafendes Gesicht erschien mir ganz fremd. Ohne den wachen Blick seiner funkelnden Augen und das spöttische Lächeln schien es von einer seltsam anrührenden Verletzlichkeit und Unschuld. Ich legte mich vorsichtig wieder zurück, um ihn nicht erneut zu wecken und breitete die Decken über uns beide. Er schnaufte zufrieden und legte seinen Arm um mich. Sein Duft hüllte mich ein, und ich sank erneut in Schlaf.

Als ich das nächste Mal aufgeweckt wurde, geschah dies durch eine leichte Berührung in meinem Nacken. Sanfte, streichelnde Finger tasteten über meinen Hals und glitten meinen Rücken hinunter. Lippen berührten behutsam meine Schulter. Ich erstarrte. Der Vanilleduft, der meinen Schlaf behütet hatte, war dem vertrauten Muskataroma gewichen. Tom war ganz offensichtlich wach! Ich löste mich unsanft von ihm und rollte von ihm weg. Sein vorwurfsvoller Blick traf mich. Ich wollte Tom nicht verletzen, er hatte mich nur so erschreckt. Unsicher lächelte ich ihn an, aber sein Gesicht blieb traurig und enttäuscht.

»Es tut mir leid«, stammelte ich verlegen. »Ich wollte nicht ...« Ich wußte einfach nicht, was ich sagen oder tun sollte. Tom blickte mich nur an. Dann erlöste er mich aus meiner Verlegenheit, indem er mich anlächelte und seine Hand ausstreckte.

»Komm her, kleiner Dummkopf«, schnurrte er. »Komm schon, ich verspreche dir, ich werde dir nichts tun.«

Zögernd schob ich mich wieder in seine Nähe. Er legte seine Hände auf meine Schultern. Ich schreckte unwillkürlich zurück, aber er zog mich zu sich heran. »Himmel, bist du verkrampft«, murmelte er und begann, mit kundigen Händen meinen Nacken zu massieren. Ich saß erstarrt da und wagte keinen Muskel zu rühren. In meinem Kopf jagten sich die Gedanken. »Entspann dich«, befahl Tom. Er hörte nicht auf, meine Schultern zu kneten. »Komm schon, Elloran. Ich beiße dich doch nicht.« Er griff nach meinem Kinn und drehte meinen Kopf zu sich hin. Zaghaft begegnete ich dem strahlenden Blick seiner Katzenaugen, ehe ich meine Augen niederschlug. Er seufzte leise und amüsiert. »Mein lieber Junge. Wovor fürchtest du dich? Vor mir?« Sein Atem blies sacht und minzeduftend in mein Gesicht. »Leg dich auf den Bauch. Dein armer Rücken verdient eine ordentliche Massage.«

Ich gehorchte und drehte mich auf den Bauch. Seine warmen Hände kneteten fest meinen Rücken. Ich mußte zugeben, daß mir das sehr gut tat. Der schreckliche Traum der letzten Nacht begann langsam zu verblassen. Tom summte leise vor sich hin, eine fremdartige und sehnsüchtige Melodie, die mich eigenartig melancholisch stimmte.

»Was sind das für Alpträume?« fragte er unvermittelt. Ich zuckte zusammen, und er legte beruhigend eine Hand in meinen Nacken.

»Ich kann sie schwer erklären«, begann ich stockend. Er fuhr mit seiner Massage fort, aber ich spürte die Aufmerksamkeit, die er meinen Worten schenkte. »Ich träume seit meinem Fieber im Winter fast jede Nacht von meiner Schwester. Ich weiß, daß sie in großer Gefahr schwebt und daß ich der einzige bin, der sie daraus befreien kann. Aber noch weiß ich weder, wo ich sie finden kann, noch welcher Art die Gefahr ist.« Ich verstummte und geriet ins Grübeln. Tom ließ ab von seinem Tun, ohne seine Hände von meinem Rücken zu lösen. Wie kleine warme, atmende Tiere lagen sie auf meinem Körper.

»Ich wußte nicht, daß du eine Schwester hast. Ist sie jünger als du? Wie heißt sie?«

Ich wurde blutrot vor Scham. »Ich weiß es nicht«, flüsterte ich bestürzt.

»Wie bitte?« fragte der Kater ungläubig nach.

»Ich weiß es nicht, Tom. Ich kenne sie nur aus meinen Träumen, daher weiß ich, daß es sie gibt und wie sie aussieht.« Ich wandte mein Gesicht von ihm ab. »Wir könnten Zwillinge sein, so ähnlich ist sie mir. Aber meine Mutter will nicht mit mir darüber sprechen, und Jemaina, die bei meiner Geburt geholfen hat, sagt, es sei nicht ihr Geheimnis, und sie dürfte mir nichts darüber sagen.« Meine Stimme kippte, und ich befürchtete, vor ihm in Tränen auszubrechen und meine Schande damit zu vervollständigen. Er strich zärtlich über meine Schultern und beugte sich dann hinunter, um einen Katzenkuß auf meinen Hals zu drücken. Meine Muskeln versteiften sich sofort wieder, und ich verspürte den dringenden Wunsch, aufzuspringen und fortzulaufen.

»Ho, ruhig, junges Füllen«, brummte er beruhigend. »Hast du vergessen, was ich dir versprach?« Er hockte sich bequem neben mich und ließ die langen Arme baumeln. Ich drehte mich zu ihm und sah ihn an.

»Ich denke, ich erzähle dir besser etwas von mir und meinem Volk, damit du aufhören kannst, dich zu fürchten.« Sein Gesicht glättete sich und wurde weich. Der Geruch, der von ihm ausströmte, war milder geworden und mutete etwas pudrig an.

»Bei meinen Leuten ist es nicht üblich, eine geliebte Person zu etwas zu zwingen. Wir lieben uns gerne und oft, aber es ist immer ein freiwilliges und von Herzen gegebenes und genommenes Geschenk.« Er verstummte. In seinen Augen stand wieder dieselbe Verwirrung und Unruhe, die ich schon einmal in ihnen bemerkt hatte. Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Erstaunt sah ich, daß seine Finger leicht bebten.

»Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen«, fuhr er stockend fort. »Ich habe mich niemals zuvor von einem Mann oder einem Jüngling angezogen gefühlt, und ich weiß, daß kein Angehöriger meines Volkes das billigen würde. Es ist bei uns nicht so üblich wie bei euch Menschen. Dennoch ...«, er verstummte, und seine Augen waren traurig.

Ich wußte nicht, was ich sagen oder denken sollte. »Was meinst du mit ›ihr Menschen‹?« stellte ich schließlich in meiner Not die naheliegendste und dümmste Frage. »Willst du damit etwa sagen, daß du kein Mensch bist?« Er blickte mich erschreckt an. Ich konnte erkennen, daß er mir unfreiwillig etwas verraten hatte, das ihn nun reute. Zwar setzte er sofort seine gewohnt spöttische Miene auf, aber jetzt durchschaute ich sie zum ersten Mal als die Maske, die sie war.

»Natürlich«, antwortete er schnell und leichthin. »Du hast doch selbst ganz richtig erkannt, daß ich in Wirklichkeit ein Pukh bin.« Ich entließ ihn nicht aus meinem fordernden Blick, doch er erwiderte ihn mit höchst unschuldsvoller Miene. Wenn ich ihn recht verstanden hatte, hatte er mir soeben eine unverblümte Liebeserklärung gemacht. Wie sollte ich mich nun bloß verhalten? Er erlöste mich aus meiner Zwickmühle, indem er mich ungefragt wieder auf den Bauch drehte und mit seiner Massage fortfuhr. Ich seufzte und ergab mich. Seine Finger wanderten über meinen Rücken und gingen tiefer. Er bearbeitete schweigend meine Füße. »Dreh dich um«, befahl er kurz und fuhr, nachdem ich seinen Worten entsprochen hatte, mit meinen Armen fort. Er arbeitete sich in stiller Konzentration zu meinen Schultern vor und verharrte, die Hände auf meine Schlüsselbeine gelegt. Stumm sahen wir uns an. Seine Augen stellten eine drängende Frage. Ich konnte sie ihm nicht beantworten, meine Stimme versagte mir ihren Dienst. Sein Gesicht näherte sich dem meinen, und er küßte mich sanft auf den Mund. Seine Lippen waren warm und weich. Seine Hände legten sich zärtlich um mein Gesicht, und ich mußte die Augen schließen, als etwas tief in mir schmolz und seinen Widerstand aufgab. Ich legte meine Arme um ihn und zog ihn ganz zu mir hinunter. Sein Mund wanderte über mein Gesicht und traf wieder auf meine Lippen. Sie öffneten sich unter dem weichen Druck, und ich begann, seine Küsse zu erwidern. Mit zögernden Händen erforschte ich seinen Körper. Er war fest und warm, und fühlte sich seltsam fremdartig an. Es war ein wenig so, als wären Toms Muskeln an den falschen Stellen oder aus einem anderen, festeren Material gemacht als meine oder die anderer Menschen. Ich konnte es mir nicht richtig erklären, und gerade in diesem Augenblick wollte ich es auch gar nicht. Seine streichelnden Finger und forschenden Lippen nahmen mir den Atem. Seine Hände wanderten über meinen Bauch und nestelten an meinem Hosenbund. Ich klammerte mich mit unsicheren Händen an ihn; kalte und heiße Schauer liefen über meine Haut. Er schob seine Hand zwischen meine Beine und erstarrte plötzlich.

»Aber was zum ...«, ein Blick aus unendlich erstaunten Augen traf mich. »Du bist ja doch ein Mädchen!« stellte er überrascht fest. Mir wurde übel. Im nächsten Augenblick würde sich Tom, der Spielmann, sicherlich angeekelt von der Mißgeburt abwenden, die er liebkost hatte.

»Nein«, hörte ich mich stammeln. »Ich bin gar nichts. Ich bin ein T'svera.« Ich konnte ihn nicht ansehen, ich fürchtete seinen verächtlichen oder, schlimmer noch, mitleidigen Blick. Er legte den Kopf zurück und stieß den Atem heftig aus. Dann begann er zu lachen. Das war noch weit schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte! Erniedrigt schob ich ihn heftig fort. Er fing meine Hände ab und hielt sie fest, dann zog er mich trotz meiner Gegenwehr an sich und umarmte mich. Mein Kopf lag an seiner Schulter, und er streichelte beruhigend mein Haar. Leise flüsterte er liebevolle, kosende, sinnlose Worte, bis mein Schluchzen verstummte.

»Ich habe nicht über dich gelacht, chu-chula. Ich lache über mich und über meine eigene Dummheit. Ich mußte doch denken, daß etwas mit mir nicht stimmt, daß ich auf meine alten Tage vollkommen übergeschnappt bin. Du hast mich nun zumindest ein wenig beruhigt. Ich bin also nicht völlig verrückt, nur ein ganz kleines bißchen.« Er lachte wieder, leise glucksend – und wuschelte durch mein Haar. Dann gab er mir einen festen, liebevollen Kuß auf den Mund, wischte die Tränen von meinem Gesicht und zog mich in die Höhe.

»Komm, mein geliebter kleiner T'svera, laß uns das Frühstück bereiten, ehe Akim aufwacht und anfängt, danach zu schreien.« Ich sah mich verwirrt um. Der Heiler schien sich in den Wagen zurückgezogen zu haben, denn ich konnte ihn nirgends entdecken. Tom hockte neben der Feuerstelle, legte einige abgestorbene Äste und Zweige darauf und mühte sich dann nicht sehr geschickt mit seinem Feuerstein ab. Ich fühlte mich plötzlich ganz leicht und übermütig. Lachen kribbelte in meinem Bauch und sprudelte über. Tom sah überrascht auf und blinzelte mich dann fröhlich an. Ich hob meine Hände und entzündete, immer noch kichernd, das feuchte Holz. Tom schrie auf und machte einen erschreckten Satz zurück.

»Verflucht, was ist das?« schrie er mit sich überschlagender Stimme. Hinter mir ertönte ein lautes Poltern, und der spärlich bekleidete Heiler stürmte mit grimmiger, verschlafener Miene aus dem Wagen, entschlossen ein riesiges Schwert durch die Luft schwenkend. Dann bremste er plötzlich und ließ die Waffe sinken.

»Was, bei allen Würmern in Omellis Holzbein, treibt ihr beiden nur hier draußen?« fluchte er erbost. »Es hat euch wohl nicht gereicht, daß ihr mich mit eurem Geturtel die ganze Nacht wachgehalten habt; müßt ihr jetzt auch noch herumbrüllen, daß ich glauben muß, wir werden überfallen?« Wutentbrannt feuerte er das Schwert zu Boden, stapfte zum Wagen zurück und schmetterte die Tür hinter sich zu. Tom und ich sahen uns sprachlos an und brachen dann in hilfloses Lachen aus.

Erschöpft und atemlos lagen wir uns in den Armen. Tom streichelte meinen Rücken und knabberte zärtlich an meinem Ohr. Ich mußte an Magramanir denken und fühlte schon wieder kitzelnd ein Lachen aufsteigen. Himmel, tat das gut! Wie lange hatte ich nicht mehr so gelacht? Ich konnte mich nicht einmal mehr erinnern!

»Wie hast du das eben gemacht?« flüsterte Tom mir ins Ohr.

»Was?« fragte ich unaufmerksam. Er tat da gerade etwas mit seinen Händen, was mich sehr von seiner Frage ablenkte.

»Das mit dem Feuer«, wisperte er und ließ seine Finger kreisen.

»Große Göttin«, keuchte ich atemlos, »wenn du nicht deine Pfoten da wegnimmst, wirst du keine Antwort von mir – nein! Nicht aufhören!« Er lachte und streckte beide Hände in die Luft.

»Erst eine Antwort auf meine Frage«, neckte er.

»O bitte, Tom«, bettelte ich. »Das ist nicht gerecht!«

Er schüttelte den Kopf und grinste verschlagen. »Raus mit der Sprache. Wie hast du das gemacht?«

»Gut, du hast gewonnen. Ich habe gezaubert.« Er warf mir einen angewiderten Blick zu und stand wortlos auf. »Tom, bitte! Ich sage die Wahrheit!« Flehend griff ich nach seinen Schultern. Mir wurde zum ersten Mal bewußt, daß ich fast einen Kopf größer war als er. Seine Augen wirkten kalt und verletzt. Ich legte eine Hand auf seine pelzige Brust und machte das Zeichen des Wahren Mundes. Er verstand nicht. »Tom, du mußt mir glauben. Du hast doch selbst gesagt, daß ich viel zu ungeschickt wäre, dich anzulügen!«

Sein Gesicht wurde nachdenklich. Er griff nach meiner Hand und küßte bedächtig meine Finger. Dabei wandte er seinen Blick nicht von meinen Augen, als könnte er die Wahrheit in ihnen lesen.

»Du glaubst ja wirklich an das, was du da sagst«, stellte er schließlich erschüttert fest. »Entweder hast du den Verstand verloren oder ...«

»Oder was?«

Er schüttelte den Kopf und wechselte das Thema. »Wo waren wir stehengeblieben?« Ich nahm seine Hand und legte sie errötend an die richtige Stelle. Er grinste dreckig und streckte mir die Zunge heraus. »Das hat dir also gefallen, gib es zu!« Seine Hände waren schon wieder bei der Arbeit. Ich schnappte nach Luft und nickte heftig. Seine Lippen landeten auf meinen, und seine Zunge begann, meinen Mund zu erforschen. Ich klammerte mich haltsuchend an ihn; meine Knie wurden weich und gaben unter mir nach. Wir plumpsten eher unsanft zu Boden. Tom lag auf mir und wanderte mit seinen Lippen und seiner rauhen Zunge zu meinen Brustwarzen. Hitzewellen überliefen mich, ich zitterte am ganzen Leib. Ich wölbte ihm meinen Körper entgegen, hörte mich mit fremder Stimme aufschreien. Dann war es vorbei. Eine große Schwäche überfiel mich, und meine Arme, mit denen ich ihn umklammert hatte, sanken kraftlos auf den Boden. Tom hielt mich fest und flüsterte Koseworte in einer fremden, weichrollenden Sprache. Das Leben kehrte in langsamen, warmen Wellen in mich zurück. Ich barg mein Gesicht in seiner Halsgrube und fühlte eine haltlose Zärtlichkeit für diesen seltsamen Fremden in mir aufsteigen.

»Wenn ihr dann mit dem fertig seid, was ihr gerade tut, könnten wir vielleicht endlich frühstücken«, erklang die barsche Stimme Akims. Ich fuhr mit einem erschreckten Aufschrei hoch und hechtete zu meinen Kleidern. Tom setzte sich träge auf und musterte seinen Freund aus zusammengekniffenen Augen. Akim erwiderte den Blick seltsam zurückhaltend, seine Miene war schwer zu deuten. Tom zuckte mit den Achseln und erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung.

»Frühstück kommt sofort«, sagte er und wandte sich zum Feuer. Ich vermied Akims Blick und kramte im Wagen nach dem Waschzeug. Ein paar Schritte neben der Straße floß ein dünner, klarer Wasserlauf, in dem ich mir Schweiß und Staub von der Haut spülen und die Haare waschen konnte. Erfrischt kehrte ich zu unserem Lager zurück; nicht, ohne den anderen einen Schlauch mit frischem Wasser mitzubringen.

Wir aßen in unbehaglichem Schweigen. Zwischen den beiden Männern lag fühlbare Spannung in der Luft. Auch während wir unsere Sachen auf den Wagen packten und den Schimmel vorspannten, wechselten sie kein Wort. Tom lächelte mir hin und wieder aufmunternd zu, aber seine Miene war ungewöhnlich bedrückt. Ich kletterte wortlos hinten auf den Wagen. Die Sonne stieg langsam höher. Wir rollten durch einen schier endlosen Wald. Auf dem Kutschbock herrschte eisige Stille. Das eintönige Geräusch der Räder und das Schwanken des Wagens schläferten mich wieder einmal ein. Einmal mehr lag ich nach einem unbestimmten Zeitraum traumlosen Schlummers im Halbschlaf da und hörte das Murmeln der Stimmen auf dem Kutschbock. Wenigstens sprechen sie wieder miteinander, dachte ich träge. Ich spürte noch immer das Echo von Toms Händen auf mir und dehnte mich wohlig. Dann glaubte ich meinen Namen vernommen zu haben. Ich schüttelte den Rest von Schläfrigkeit ab und spitzte meine Ohren.

»Ich möchte dich so bald wie möglich gründlich untersuchen«, hörte ich Akim sagen. Er klang ungewöhnlich sanftmütig.

Tom schnaubte. »Und weshalb?« fragte er gereizt.

»Weil ich mir Sorgen um dich mache, Kater. Oder kannst du mir irgendeine einleuchtende Erklärung dafür liefern, daß du auf einmal mit kleinen Jungs herummachst? Das ist bei deinen Leuten ja nun nicht unbedingt ein Zeichen von gesunden Körper- oder Gehirnfunktionen, wie du zugeben mußt.«

Tom schwieg betroffen. »Ich mache nicht mit kleinen Jungs herum«, äffte er dann wütend den Heiler nach. »Ich liebe zufällig einen Menschen namens Elloran, der überdies gar kein Junge ist, sondern eine dieser eigenartigen Sonderformen, die dieses Volk entwickelt hat!« Akim ließ ein ersticktes Geräusch hören. »Hör sofort auf, mich auszulachen!« brüllte Tom.

Akim entschuldigte sich. Das erstaunte mich unsagbar. Ich hätte nie gedacht, daß dieser zynische Mensch auch nur einen Hauch von Achtung vor den Gefühlen anderer hatte. »Sei ehrlich, Tom«, sagte Akim, »du mußt doch zugeben, daß du dich höchst seltsam benimmst. Übrigens, wenn ich für jedes Mal, das du geschworen hast, jemanden ernsthaft und treu zu lieben, ein Mittagessen bekommen hätte, könntest du mich jetzt hier die Straße runterrollen.«

Tom lachte. »Mein lieber Freund und Kampfgefährte, du solltest aber doch freundlicherweise zugeben, daß ich es jedesmal genauso gemeint habe, wie ich es sagte.«

Akim lachte zustimmend und spöttisch sein rostiges Lachen: »Also gut, dann sind wir uns ja soweit einig. Du meldest dich bei der nächsten Gelegenheit zu einer Untersuchung bei mir. Das ist übrigens ein Befehl.«

»Aye, Doktor Abou-Khalil, Sir!« schnarrte Tom. Ich schüttelte den Kopf. Bis dahin hatte ich der Unterhaltung folgen können, auch wenn der Hinweis auf ›eigenartige Sonderformen‹ mich etwas verwirrt hatte. Aber dieser letzte Satz Toms war in einer mir fremden Sprache erklungen. Was mochte ›Eidoktabukalilsör‹ für eine Bedeutung haben? Es klang wie eine geheimnisvolle Beschwörung, aber dagegen sprach der scherzhafte Ton, in dem Tom diese Äußerung getan hatte.

Nikals Name holte mich schnell zurück in die Gegenwart. »Aber was sollen wir mit ihm machen, wenn wir ihn endlich in den Fingern haben?« fragte Toms tiefe Stimme gerade. »Nach dem, was der Junge sagt, ist er ja wohl komplett durchgedreht.«

Akim knurrte etwas, das ich nicht verstand. Tom lachte und sagte: »Bester Maddoc, die Assistenz bei dieser scheußlichen und ausgesprochen blutigen Angelegenheit überlasse ich von Herzen gern der Kleinen und unserem verehrten Wunder. Das ist euer schmutziges Metier, davon verstehe ich glücklicherweise nicht genug. Im Übrigen, mein Lieber, finde ich deine Ausdrucksweise ziemlich unappetitlich!«

Dieses Mal konnte ich Akims Antwort deutlich verstehen. »Das mag dir unappetitlich erscheinen oder nicht, aber er ist nun einmal zu einer ernsten Gefahr geworden und muß schleunigst beseitigt werden. Das müßte doch sogar in dein beschränktes Katzenhirn gehen. Außerdem reißt uns Galen die Ohren ab und frißt sie ohne Salz zum Abendessen, wenn wir ihm nicht bald Koljas Kopf auf einem Tablett servieren.«

Mit einem Mal war ich hellwach. Ich mußte in meinem Entsetzen wohl ein verräterisches Geräusch gemacht haben, denn ich hörte Akim leise sagen: »Halt den Mund, ich glaube, der Junge ist wach. Du und deine Bettgeschichten!«

»Elloran, Lieber? Bist du wach?« rief Tom munter und blickte über seine Schulter zu mir hinein. Ich rührte mich nicht. Vielleicht ließen sie sich täuschen und schmiedeten weiter an ihren finsteren Plänen.

»Du hast dich verhört«, sagte Tom. »Er schläft immer noch so tief und fest wie ein satter Säugling. Übrigens, mein Guter, in was für einem Ton redest du eigentlich mit deinem vorgesetzten Offizier?« Akim lachte nur kurz und höhnisch auf, und dann war lange Zeit Ruhe. Meine Gedanken rasten. Tom hatte mich nach Strich und Faden belogen, und ich war seinem bestrickenden Charme in die Falle gegangen wie ein verliebtes Bauernmädchen. Die beiden Männer waren alles andere als Nikals Freunde, das war mir jetzt klar. Es waren gedungene Mörder, Söldner, weiß Göttin was sonst noch. Sobald sie ihn in den Händen hätten, würden sie ihn umbringen. Was konnte ich tun? Ich mußte verhindern, daß sie ihn fanden, aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Mein erster Gedanke war, mich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit auf dem Biest aus dem Staub zu machen. Es war allerdings mehr als fraglich, ob das tückische Vieh dabei mitspielte. Meine Flucht wäre ohnehin bald entdeckt, und dann hätte ich nicht nur meines Vaters Wache, sondern auch noch diese beiden Totschläger auf meinen Fersen. Wahrscheinlich war es viel gescheiter, sie im Auge zu behalten, wenn ich ihre blutigen Pläne durchkreuzen wollte. Noch waren wir erst auf dem Weg zur Krone, und überdies fehlten die eigentlichen Mordgesellen: das geheimnisvolle Wunder und die Frau, die sie die ›Kleine‹ nannten. Es wäre sicherlich nicht falsch, wenn ich mir die beiden gut ansah. Ich mußte meine und Nikals Feinde kennen, wenn ich sie bekämpfen wollte. Also hieß es wohl oder übel, das Spiel mitzuspielen. Ich gähnte laut und machte einigen Lärm, indem ich mich reckte und streckte.

Tom steckte seinen Kopf durch die kleine Luke und sagte fröhlich: »Gut geschlafen, mein Herz?«

Dieser verdammte Heuchler! Ich knirschte mit den Zähnen, zwang mich aber zu einer ebenso munteren Antwort: »Wunderbar, danke. Darf ich auf dem Biest reiten? Ich brauche dringend Bewegung.« Vielleicht wäre es nicht falsch, mich mit Toms Pferd vorsorglich ein wenig anzufreunden.

»Oh, Bewegung?« lachte Tom. »Da hätte ich allerdings einen viel besseren Vorschlag!« Ich zwang mich, ihn anzulächeln, obwohl ich ihn am liebsten bespuckt hätte. Mein Lächeln mußte entsprechend gequält ausgefallen sein, denn er stutzte. Er wandte den Kopf und bat Akim, kurz anzuhalten. Dann sprang er vom Bock und kletterte zu mir hinein. Er hockte sich neben mich und legte in scheinbarer Besorgnis einen seiner langen Arme um meine Schultern. Ich konnte ein Schaudern nicht unterdrücken und machte mich hastig von ihm los. Es war unmöglich. Ich schien unfähig, mich zu verstellen, und um der Täuschung willen weiter die Zärtlichkeiten dieses mörderischen ›Vaters der Lügen‹ hinzunehmen. Ich konnte meinen Ekel und meine Wut nicht länger vor ihm verbergen.

»Ho, chu-chula, was ist mit dir?« fragte er leise. Ich sah in sein falsches, gespielt bekümmertes Gesicht, und es würgte mich. Wie hatte ich nur auf diesen Unmenschen hereinfallen können? Ich hatte ihm alle seine Lügen nur zu bereitwillig abgekauft, und wie herzlich hatte er wohl mit seinem Kumpan darüber gelacht! Der einfältige, leichtgläubige Stallbursche, der sich von dem ersten besten Fremden, der ihm Avancen machte, freudig auf den Rücken legen ließ – oh, wie mußten sie sich amüsiert haben! Tom legte seine Hand auf meinen Arm, und ich schlug sie fort.

»Geh weg von mir!« fauchte ich und spuckte ihm ins Gesicht. Er hockte da wie vom Schlag gerührt, während der Speichel an seiner Wange herabtroff. Gleich einem Schlafwandler wischte er ihn fort und blickte fassungslos auf seine feuchte Hand. O große Göttin, was für ein Schauspieler! Hätte ich es nicht besser gewußt, hätte seine tödlich verwundete Miene mir unfehlbar das Herz gebrochen.

»Chu-chula, was habe ich dir getan?« fragte er tonlos.

»Getan?« fuhr ich auf. »Das wagst du noch zu fragen?« Akim brachte mit alarmierter Plötzlichkeit den Wagen zum Stehen und beugte sich wachsam zu uns hinein. Ich hatte vergessen, wie gefährlich diese beiden Männer waren. Schlimm genug, daß sie nun wußten, daß ich sie durchschaut hatte. Wahrscheinlich würden sie mich umbringen, aber selbst das war mir in meinem weißglühenden Zorn gleichgültig. Hilflos hob ich eine Faust und schmetterte sie gegen die Wand. Tom wechselte einen schnellen Blick mit dem falschen Heiler und wagte dann wahrhaftig, mich erneut zu berühren. Ich schlug blindwütig zu und sah mit Befriedigung, wie seine Lippe aufplatzte und ihm das Blut über das Kinn lief.

»Du verdammter Mörder!« schrie ich und hob die Faust, um ein zweites Mal zuzuschlagen. Aber dieses Mal war er gewappnet. Seine starken Finger umschlossen mein Handgelenk wie ein Schraubstock.

»Akim, nein!« hörte ich ihn noch rufen, dann explodierte die Welt vor meinen Augen und erlosch.