19

Mein schrumpfender Geldbeutel trieb mich an meinen Arbeitsplatz zurück. Ich konnte nicht davon ausgehen, daß Tomas mir mein Glückskraut immer zu solchen Preisen überlassen würde, und die nächste Wochenmiete für Katarin war auch demnächst fällig. Eine frierende und verdrossen wirkende Jannin wanderte die Straße auf und ab und winkte, als sie mich kommen sah.

»Geh nach Hause, Elloran. Ruuds Schläger patrouillieren durch das Viertel. Es muß irgendwas passiert sein, oder sie suchen wieder mal jemanden. Heute traut sich keiner mehr auf die Straße. Ich hänge hier auch bloß noch rum, weil einer meiner dussligen Stammkunden versprochen hat, er käme noch.« Sie hauchte in ihre Hände und setzte mißmutig hinzu: »Und wenn der nicht sofort hier aufkreuzt, kann er sich verdammt noch mal selbst bedienen!« Ich zuckte bedauernd, aber auch ein wenig erleichtert mit den Schultern. Also würde ich in der Laterne einen Tee mit Zitrone zu mir nehmen und dann nach Hause gehen.

Die Laterne war leerer als sonst. Ich starrte in meinen Becher und fühlte mich äußerst elend. Mein Kopf schwamm, und meine Eingeweide rebellierten heftig. Eine Erkältung, das war genau das, was ich jetzt brauchen konnte! Die heiße Flüssigkeit munterte mich etwas auf, aber das Zittern meiner Hände wurde allmählich so stark, daß ich meinen Tee verschüttete. Selbst ein Röllchen Glückskraut brachte dieses Mal keine Linderung. Ich saß am Tisch, blickte auf meine Hände nieder, die auf der Tischplatte so etwas wie ein Eigenleben zu führen begannen und entschied, mich jetzt lieber schleunigst ins Bett zu begeben. Ich stand auf und fühlte den Boden unter meinen Füßen schwanken. Mein Blick verschwamm, und ich schwankte halbblind zur Tür.

»Wohl ein paar zu viel gehoben«, lachte hinter mir eine Stimme. »Schaffst du es noch alleine nach Hause, Elloran?« Ich stand vor der Tür, ohne zu wissen, wie ich hinausgekommen war. Der Boden hob und senkte sich in übelkeiterregenden Wellen, ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Cesco stand lachend vor mir und winkte mir mit zerfleischten, bluttriefenden Händen. Ich schrie auf und würgte.

»Au weh, das sieht ja übel aus«, sagte die Stimme. »Daron, hilf mir mal, wir bringen ihn lieber nach Hause.« Hilfreiche Arme griffen unter meine Achseln und stützten mich. Dankbar ließ ich mich von ihnen führen.

Katarin ächzte und lachte gleich darauf. »Junge, du bist ganz schön schwer. Hilf gefälligst ein bißchen mit, die halbe Portion Daron kann dich nämlich nicht halten!« Ich bemühte mich ehrlich, aber ich war kaum noch bei Bewußtsein.

»Einen – Augenblick«, flüsterte ich kurz vor Katarins Behausung. Ich sackte in die Knie und erbrach mich heftig.

»Alle Wetter«, meinte Daron ehrfürchtig. »Ich habe schon eine Menge Besoffener erlebt, aber das ist wirklich beängstigend. Meinst du nicht, wir sollten lieber die Heilerin rufen, Kat?«

Schweratmend kniete ich da und versuchte vergeblich, wieder auf die Beine zu kommen. Katarins kräftige Hände griffen zu und hoben mich hoch. Die beiden trugen mich die letzten Meter zu Katarins Wohnung. Endlich lag ich in meinem Bett. Krämpfe schüttelten mich, daß ich zu zerreißen glaubte. Meine Eingeweide hatten mir ihren Dienst aufgekündigt und versuchten anscheinend gerade alle gleichzeitig den Ausgang zu finden. Blind vor Schmerz und stöhnend krallte ich meine Hände in das Kissen.

»Ich gehe!« sagte Daron entschlossen. »Das ist mir zu viel. Ich hole die Heilerin, Kat!« Katarin ging mit ihm aus dem Zimmer, und ich lag da, stöhnend, nach Luft ringend und von heißen und kalten Fieberschauern geschüttelt. Stimmen wisperten neben meinem Lager.

»Warum gibst du nicht zu, daß du verloren hast, verehrte Meisterin? Es ist vorbei, du stehst mit leeren Händen da. Du hast nichts begriffen, und nichts hast du verhindern können.«

»Du spielst falsch, Schüler. Ich dachte, ich kenne dich und deinen maßlosen Ehrgeiz. Aber ich habe niemals damit gerechnet, daß du alle Regeln des Spiels brechen würdest. Wenn etwas mein Fehler war, dann mein Vertrauen zu dir.«

»Ich breche keine Regeln, ich mache sie. Das ist es, was du nie verstanden hast; und das besiegelt deinen Untergang. Du weißt, daß ich dich beseitigen muß.«

»Schlage nicht zu früh den Gong, Freund. Noch bin ich nicht tot.«

»O doch, alte Frau. Du willst es nur noch nicht wahrhaben.«

Unbarmherzige Hände zwangen meinen verkrampften Kiefer auf und flößten mir eine stechend riechende, scharfe Flüssigkeit ein. Ich schnappte nach Luft, als sie brennend meine rauhe Kehle hinunterfloß, und hustete mir beinahe die Seele aus dem Leib. Mein Blick klärte sich ein wenig, und etwas später begannen auch die grausamen Krämpfe nachzulassen. Krächzend bat ich um etwas Wasser, und die besorgt wirkende Katarin hielt mir sofort einen Becher an die Lippen. Eine ältere, rotblonde Fremde packte ihr Bündel zusammen und sagte trocken: »Das Schlimmste dürfte vorbei sein. Sag deinem jungen Freund, sobald er wieder halbwegs klar ist, er soll die Finger von dem Teufelszeug lassen, falls er vorhat, den nächsten Sommer noch zu erleben.« Sie erhob sich und sah streng auf mich hinunter. »Aber wie ich die Sache sehe, ist es ohnehin schon zu spät«, fügte sie mitleidlos hinzu. »Diese dummen Kinder.« Sie ging kopfschüttelnd hinaus, begleitet von einer sehr bedrückten Katarin.

Ich hörte die beiden Frauen draußen noch miteinander murmeln und dämmerte schon weg. Wenig später wurde ich wieder wach, als Katarin sich zu mir setzte. Ich fühlte mich weich und schwer, die Schmerzen waren zwar noch da, aber sie schienen weit entfernt, wie von mir abgetrennt, fast, als gehörten sie zu jemandem, der neben mir lag. Katarin nahm meine Hand und sah mich besorgt an.

»Du hast mir verschwiegen, daß du diesen widerwärtigen Traumstaub schluckst«, sagte sie sanft und vorwurfsvoll. »Du bringst dich um damit, das weißt du doch? Die Heilerin sagt, daß du vielleicht noch ein Jahr vor dir hast, aber du mußt sofort damit aufhören. Du hast schon zu viel davon im Körper, um wieder gesund zu werden, aber du kannst vielleicht erreichen, daß du nicht so schrecklich ...« Ihre Stimme wurde leiser und verstummte. Sie sah mich an und schüttelte den Kopf – wie die Heilerin. »Elloran, du kannst hierbleiben, wenn du willst. Es ist nicht schlimm, wenn du deine Miete nicht mehr bezahlen kannst, ich setze dich nicht hinaus. Aber du mußt mir versprechen, daß du damit aufhörst. Bitte, Elloran.«

Ich nickte schwach. Warum tat sie das für mich, sie kannte mich doch gerade erst seit einer knappen Woche? Wie kam es nur, daß ich immer wieder auf Menschen traf, die mir halfen und mich offensichtlich in ihr Herz schlossen – bis irgend etwas passierte, und sie mich fallenließen wie einen verfaulten Fisch. Ruhte denn irgendein Fluch auf mir? Was würde wohl diesmal geschehen, wie würde ich diese freundliche Frau gegen mich aufbringen?

Sie lächelte kurz und drückte meine Hand. »Kannst du jetzt schlafen, Elloran?« Ich nickte wieder. »Gut, das ist das Beste. Ruf mich, wenn du irgend etwas brauchst.«

Sie ging leise hinaus und ließ die Tür einen Spalt offenstehen. Ich lag in der dunklen Kammer und blickte auf das glimmende Ende meines Glückstäbchens. Ein Jahr hatte ich noch zu leben. Leben! Die Anfälle wurden häufiger und immer schlimmer. Ich glaubte nicht daran, daß Jemaina ein Mittel gegen das Gift finden würde; jedenfalls nicht, bevor es ohnehin zu spät für mich war. Irgend jemand auf dieser Welt haßte mich so sehr, daß er – oder sie? – mich auf diese grausame Art zu Tode bringen wollte. Ob ich wohl jemals erfahren würde, wer mein Feind war? Ich mußte lachen. Es war unwichtig. Schon bald würde mich das alles so wenig kümmern wie die Frage, wer im nächsten Frühlingsrennen von Salvok den Hauptpreis erränge. Mein Rauchstäbchen verglomm, und ich entzündete ein zweites. Ich würde das Beste aus der Zeit machen, die mir noch verblieb. Irgendwie mußte ich an genügend Geld herankommen, um mir nicht auch noch darüber ständig den Kopf zerbrechen zu müssen. Dann würde ich mich an einen Ort zurückziehen, wo mich keiner suchte, und dort auf meinen Tod warten. Wobei ich gedachte, mir diese Wartezeit wenigstens so angenehm zu vertreiben, wie das nur möglich war.

»Fressen, saufen, rauchen und ab und zu was Warmes fürs Bett?« wisperte eine Stimme in mein Ohr. Ich verschluckte mich am Rauch und mußte husten. Hände klopften hilfreich und nicht allzu sanft auf meinen Rücken.

»Du Quälgeist«, flüsterte ich erbost. »Was willst du eigentlich noch von mir? Laß mich doch einfach in Ruhe, verdammt!«

»Ich denke ja nicht daran!« sagte sie empört. »Du bist viel zu unterhaltsam, weißt du? Ich wüßte nicht, worüber ich lachen sollte, wenn ich dich nicht hätte, Brüderchen.«

»Es gibt dich nicht«, sagte ich und kniff die Lippen zusammen. »Ich sehe überhaupt nicht ein, warum ich mich von jemandem ärgern lassen soll, den es nicht gibt.«

»Oha!« sagte sie anerkennend. »Du lernst ja anscheinend doch, mein Lieber. Das ist doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn du in dem Tempo weitermachst, entwickelst du dich vielleicht noch zu einem halbwegs anständigen Gesprächspartner, ehe du krepierst.«

Es verschlug mir bei dieser unvermuteten Rohheit den Atem. Sie schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Schon wieder in die Falle gegangen? Elloran, Elloran! Du hast doch gerade selbst einen ganz richtigen Schluß gezogen. Warum machst du nur immer dieselben Fehler? Du versuchst, mit den Erwachsenen zu spielen, dabei fällst du ständig auf meine armseligen Tricks rein – und das, obwohl ich nicht einmal existiere!« Sie lachte böse und war fort. Ich biß mir verärgert auf die Lippen. Meine Traumschwester entwickelte sich langsam zu einem Dämon, der mich bis aufs Blut quälte.

»Hast du gerufen, Elloran?« fragte Katarin von draußen. Ich versicherte, alles sei in bester Ordnung und zog mir meine Decke über die Ohren.

Am nächsten Tag war ich noch zu schwach, um aufzustehen. Katarin ließ mich schlafen und brachte mir nur hin und wieder etwas Tee und Brot ans Bett. Ich verschlief zwei ganze Tage und Nächte. Am Morgen darauf fühlte ich mich wieder einigermaßen bei Kräften. Julian hatte sich noch nicht bei mir gemeldet, und ich wurde langsam unruhig. Wenn Nikal mich zu Ruud brachte, mußte ich diese gefälschten Briefe in der Tasche haben, sonst würde es mir mit Sicherheit schlecht ergehen.

Ich trank meinen Tee mit Katarin und kaute appetitlos an einem winzigen Stück Käse herum. Sie sah mich sorgenvoll an, und ich bemühte mich, etwas freundlicher zu blicken.

»Warum gehst du nicht ein wenig spazieren?« schlug sie vor. »Es ist schön draußen, sonnig und ein bißchen windig. Das tut dir bestimmt gut.« Ich mußte unwillkürlich lächeln. Sie hörte sich an wie vor Zeiten meine Amme, wenn sie mich loswerden wollte, um sich endlich um ihre andere Arbeit zu kümmern.

»G-gute Idee«, sagte ich heiter. Vielleicht träfe ich ja Magramanir am Hafen und konnte Julian ein wenig Dampf machen.

Warm eingemummelt spazierte ich die Mole hinunter. An der südlichsten Spitze Sturmhavens setzte ich mich auf eine Mauer, ließ die Füße baumeln und blickte über das Meer. Irgendwo dahinten lag S'aavara. Ich schloß die Augen, ließ den nach Salz und Tang riechenden Wind um meine Nase wehen und träumte von Sand und Kamelen. Etwas fiel in meinen Schoß und wäre fast in das graugrüne Wasser unter mir geplumpst, wenn ich nicht unwillkürlich zugegriffen und es festgehalten hätte.

»Mag!« schimpfte Julian. »Du verdammtes Vieh, das machst du doch absichtlich!« Sie krächzte vergnügt und flog eine Schleife.

Ich betrachtete das kleine Päckchen. Es war sorgsam in weiches Leder gehüllt und mit einem Band verschnürt. Ich entknotete es mit unsicheren Fingern und schlug das Leder auseinander. Mehrere gefaltete, mit Siegeln versehene und säuberlich beschriebene Bögen Papier fielen mir entgegen.

Ich sah verzweifelt auf. »Julian, das ist doch vollkommener Sch-Schwachsinn. Hier auf d-diesem Blatt steht ein Rezept für Augenentzündungen bei Pferden.« Ich blätterte weiter. »Das hier ist ein ziemlich schlechtes Liebesgedicht, und bei dem hier kenne ich noch n-nicht einmal die Schrift. Wem soll ich d-denn sowas verkaufen? Oder soll Ruud das für einen Geheimcode halten? Das klappt doch nie!«

Magramanir landete im Sturzflug auf meinem Knie und klappte mit dem Schnabel. »Junge, du bist anstrengend, weißt du das? Du siehst das, was du gerade vorgelesen hast. Für deine Augen ist es schließlich auch überhaupt nicht gedacht. Nikal wird darin an die Großherzogin adressierte Botschaften der T'jana erkennen, in der die Inseln für Überfälle auf Haven im nächsten Frühjahr um Unterstützung gebeten werden. Etwas, das Ruud sehr interessieren wird. Das ist es doch, worauf es ankommt, nicht wahr?«

Ich starrte mißtrauisch auf die Briefe in meinem Schoß. »Ja, wenn d-du es sagst ...«, murmelte ich wenig überzeugt.

»Ich sage es. Jetzt tu mir den Gefallen und stecke die Dinger weg, ich habe Angst, daß ich sie dir sonst noch aus dem Wasser fischen darf.«

Magramanir schwang sich auf und gesellte sich zu ihren neuen Freundinnen, die unterwegs waren, um ein einlaufendes Fischerboot zu plündern. Ich wickelte die Papiere ein und steckte sie seufzend in die Tasche meines Umhangs. In dieser Angelegenheit würde ich auf Julians Wort vertrauen müssen. Aber er würde mich schon nicht enttäuschen, das tat er schließlich nie.

Für den heutigen Tag hatte ich genügend frische Luft geschnappt und wollte wieder in mein warmes Bett zurück. Bei einem Straßenhändler kaufte ich noch eine Handvoll Krabben, die ich während des Gehens schälte und mir in den Mund warf. Erschöpft wie nach einem dreitägigen Ritt öffnete ich die Tür zu meinem Zimmer. Auf meinem Bett lag Nikal und reinigte sich mit seinem schmalen Dolch die Nägel. Ich sah auf den ersten Blick, daß er mein Zimmer durchwühlt hatte; er hatte sich keinerlei Mühe gegeben, das zu verbergen. Bei meinem Anblick machte er auch keine Anstalten, sich zu erheben. Er hörte auf, an seinen Nägeln herumzukratzen, hielt aber den Dolch weiterhin wachsam in der Hand.

»Was tust du hier?« fragte ich mühsam beherrscht.

Er warf das Messer in die Luft und fing es wieder auf: dreimal, viermal, fünfmal. »Wo sind die Briefe?« erkundigte er sich schleppend. Seine Sprache klang verwaschen und undeutlich, und als ich ihn mir genauer ansah, bemerkte ich Anzeichen starker Trunkenheit in seinem Gesicht. Der Dolch wirbelte durch die Luft und sirrte dicht an meinem Ohr vorbei, um zitternd im Türrahmen steckenzubleiben. Ich riß ihn heraus und wog ihn vor Wut kochend in der Hand. Nikal lag da, voll wie ein Lampenfisch, und benutzte mich als Zielscheibe!

»Holla, vorsichtig, Söhnchen«, murmelte er träge. »Das Ding ist scharf, du könntest dich schneiden.«

Ich stieß einen ergrimmten Laut aus und rammte den Dolch dicht neben seiner schlaffen Hand in die Matratze. Ehe ich mich versah, war er aufgesprungen und hatte mich mit eisenhartem Griff an der Kehle gepackt. Er stieß mich gegen die Wand, daß ich Sterne sah und drückte mir die kalte Klinge gegen das Kinn.

»Leiste dir lieber nicht den Fehler, mich zu unterschätzen, Rotznase«, zischte er. Er drückte mir erbarmungslos die Luft ab, ohne sich um meine schwächliche Gegenwehr zu kümmern. Sein Gesicht mit den wahnsinnigen Augen war ganz nahe an meinem, und ich wußte, er würde mich kaltblütig töten, genauso beiläufig, wie ich eine Mücke erschlagen hätte. Ich begann, die Besinnung zu verlieren, aber genauso plötzlich, wie er mich gepackt hatte, ließ er mich los. Ich rutschte an der Wand zu Boden, hustend und nach Luft ringend.

»Wo hast du die Briefe?« Er kniete sich neben mich und streichelte sanft mit seinem Messer über mein Gesicht. Ich rieb meinen schmerzenden Hals und drehte den Kopf weg von seinem Dolch. Er packte mich brutal bei meinen Haaren und drehte mein Gesicht zu sich. Die Klinge bewegte sich sacht vor meinen Augen hin und her.

»Raus damit, Söhnchen. Ich würde dir ungern die hübsche Visage zerschneiden, also zwinge mich lieber nicht dazu.« Er zog die Schneide langsam über meine Wange, und ich spürte kitzelnd das Blut aus dem feinen Schnitt tröpfeln.

»Alles, was Narben hinterläßt, kostet doppelt, richtig?« flüsterte er höhnisch. »Mal sehen, wieviel Geld ich noch bei mir habe. Viel wollte ich eigentlich nicht ausgeben.« Mir traten Tränen der Demütigung in die Augen.

»In m-meinem Umhang«, krächzte ich. Er ließ mich nicht sofort los, starrte mich noch einige Lidschläge lang an. In seinen Augen stand eine schreckliche Heiterkeit. Dann preßte er grausam seinen Mund auf meinen und küßte mich, obwohl ich mich angeekelt dagegen zur Wehr setzte. Er stieß mich von sich und griff nach meinem Umhang, holte das Päckchen mit den Briefen aus der inneren Tasche und machte es sich wieder auf meinem Bett bequem.

Ich hockte an der Wand und betupfte mit bebenden Fingern meine blutenden Lippen und den Schnitt in meiner Wange. Er entfaltete den ersten Brief, und ich hielt den Atem an. Wenn Julians Täuschung nicht gelang, würde ich diesen Raum nicht mehr lebend verlassen.

Nikal überflog das Schreiben stirnrunzelnd, griff dann zum nächsten. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Endlich schnürte er das Bündel wieder zusammen und warf es mir zu. Ich fing es überrascht auf und kam hastig auf die Füße. Er schwang die Beine in den abgetragenen schwarzen Hosen aus dem Bett und stützte seine Arme auf. Die Hände baumelten locker vor seinen Knien, und er wirkte völlig entspannt. Trotzdem fühlte ich mich, als säße ich unmittelbar vor dem Bolzen einer gespannten Armbrust.

»Wir müssen noch über meine Bezahlung sprechen«, sagte er im Plauderton. »Ich denke, die Hälfte wäre angemessen.«

Im Versuch, mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen, protestierte ich heftig. »Das ist doch w-wohl nicht dein Ernst, Nikal! Ich h-habe mein Leben für die Briefe aufs Spiel gesetzt ...«

»Dein Leben?« unterbrach er mich spöttisch. Das brachte mich zum Verstummen. »Hör zu, Bürschchen. Wenn du schon so anfängst: Ich riskiere meinen Hals, wenn ich dich zu Ruud bringe. Er hat nämlich im Augenblick etwas gegen mein Gesicht.« Er lachte hart auf. »Aber er dürfte derjenige sein, der dir am meisten für diese Briefe zahlen wird. Bei dem Risiko, das ich für dich eingehe, sind fünfzig Prozent für mich doch nicht zu viel verlangt.«

»Vierzig«, antwortete ich. Er balancierte den Dolch wieder zwischen den Fingern. Ich schluckte mit einem Seitenblick auf den scharfen Stahl und wiederholte stur: »Vierzig, Nik. M-mein letztes Wort.« Seine rotgeränderten Augen bohrten sich in meine. Ich setzte mein hochmütigstes Gesicht auf und wich dem Blick nicht aus, obwohl mir der Angstschweiß den Rücken hinunterlief. Endlich kicherte er – ein böses Geräusch – und ließ den Dolch verschwinden.

»Na gut«, gab er nach und stand auf. »Aber nur um unserer guten alten Freundschaft willen.« Er ging zur Tür. »Treffe mich morgen abend im Gelben Segel, dann bringe ich dich zu Ruud.« Er öffnete die Tür und zögerte, schlug sich vor die Stirn, als habe er etwas vergessen und fischte einen Krontaler aus seiner Tasche. Den warf er mir klirrend vor die Füße, leckte sich hämisch noch einmal über die Lippen und ging.

Ich sank auf mein Lager und bemühte mich, wieder Herr meiner zitternden Glieder zu werden. Inzwischen war ich mir alles andere als sicher, daß ich die nächste Woche noch erleben würde. Sollte doch Galen selbst versuchen, Nikals habhaft zu werden. Ich könnte jetzt mein Pferd aus dem Mietstall holen und zu unserem Treffpunkt reiten. Dort würde ich mich zwei Tage lang eingraben und dann Quinns Gruppe berichten, wo sie ihn finden konnte. Und ganz sicher würde ich sie nicht dabei begleiten. Ich rauchte fahrig, und meine Gedanken rasten im Kreis wie gefangene Ratten.

Was am Ende über meine Angst siegte, war die Geldgier. Wenn ich aus Ruud eine anständige Summe herausschlagen könnte, wäre ich trotz der Bezahlung für Nikal schon einen Teil meiner Sorgen los. Je nachdem, wie das Zusammentreffen mit Omellis Leuten verlief, konnte ich Nik seinen Anteil vielleicht sogar wieder abknöpfen. Ich rauchte, und mit jedem verglimmenden Stäbchen sah die Zukunft weniger düster aus. Ich würde es schon schaffen, Ruud und Nikal zu übertölpeln. Alles Weitere lag ohnehin nicht mehr in meinen Händen. Sollten sich doch die anderen die Köpfe darüber zerbrechen, was sie mit dem wahnsinnigen Totschläger anfingen.

Bis zu unserer Verabredung am nächsten Tag blieb ich im Bett, rauchte und schlief. Katarin sah einige Male nach mir, aber ich hatte keine Lust, mich zu unterhalten. Mein Kopf war leicht und frei wie schon lange nicht mehr, und ich genoß diesen Zustand weidlich.

Gegen Abend wusch ich mich flüchtig und zog mich an. Ich war zwar benebelt, aber das machte mir keine Sorgen. Ich wußte, daß ich Nikal überlegen war, und wahrscheinlich würde sich auch der geheimnisvolle Ruud als harmloser Pappwolf erweisen. Ich warf mir meinen Umhang um, versicherte mich, daß die Briefe in der Tasche steckten und spazierte zum Gelben Segel. Moll winkte, stellte mir mein Wasser hin und rief: »Ich habe dich vermißt – bist du mir untreu geworden, Elloran?« Ich lachte und drückte ihr einen Kuß auf die rote Wange.

»Keine Bange, Moll, dir würde ich niemals untreu werden. Ich war ein paar Tage krank.« Ich blickte auf den Becher und rümpfte die Nase. »Gib mir lieber Wein, Moll. Ich habe das Gefühl, ich vertrage heute kein Wasser.« Sie lachte laut auf und schob mir das Gewünschte hin. Ich trank und seufzte wohlig. Verdammnis, Jemaina hatte mir doch schließlich hin und wieder einen Becher Wein genehmigt!

Eine narbige Hand legte sich auf meinen Arm. Ich sah erschreckt auf und blickte in Nikals kaltes Gesicht. Er bestellte sich Schnaps und trank schweigend und hastig. Moll bediente ihn mit Widerwillen in ihrem gutmütigen Gesicht. Ich bemerkte, wie sie immer wieder von ihm auf mich blickte und den Kopf schüttelte.

»Laß uns gehen«, brach Nikal sein Schweigen, als unsere Becher leer waren. Ich warf ein paar Münzen auf die Theke und wies auf beide Becher. Moll strich das Geld ein und warf mir einen beunruhigten Blick zu. Ich lächelte und folgte dem hageren Rücken Nikals nach draußen.

Wir gingen stumm durch das Blaue Viertel, überquerten eine kleine Brücke und gelangten endlich vor ein dunkles, unbewohnt wirkendes Haus. Die Fenster der unteren Etage waren mit dichten Läden verschlossen. Kein Lichtschimmer drang heraus, der darauf gedeutet hätte, daß jemand sich dort drinnen aufhielt.

Nikal trat zur Tür und klopfte leise und rhythmisch mit den Fingern dagegen. Lange Zeit regte sich nichts, dann glitt die Tür einen kleinen Spalt auf. Nik drückte sie ganz auf und winkte mir, ihm zu folgen. Wir erreichten einen stockfinsteren Gang, durch den er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegte. Ich hielt mich an seiner Schulter fest und folgte ihm herzklopfend. Eine Tür knarrte, und ein schwacher Lichtschimmer fiel in meine Augen. Nikal schob mich durch die Tür und schloß sie hinter uns. Das Zimmer, in dem wir standen, war erstaunlich gemütlich eingerichtet; alles darin deutete auf einen Bewohner sowohl mit Geld als auch Geschmack. Es war nur schummrig durch eine kleine Öllampe beleuchtet, und im Kamin verglommen die Reste eines Feuers. Außer uns war niemand anwesend. Nikal stand reglos mitten im Raum und schien zu warten. An der Rückwand des Zimmers, die nahezu völlig im Dunkeln lag, regte sich etwas. Ich strengte meine Augen an und machte die schweren Falten eines Vorhangs aus. Ein Luftzug traf mein Gesicht. Nikal verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, in seinem Gesicht regte sich nichts. Mir wurde mit plötzlicher Klarheit bewußt, daß er starr war vor Angst. Mein Mund wurde trocken.

»Ah, Nikal«, schnurrte eine gedämpfte Stimme. Ich konnte nicht erkennen, woher sie kam. »Du wagst dich wirklich hierher? Ich bin zutiefst beeindruckt. Hast du dir schon überlegt, wie du sterben möchtest?« Nikal entgegnete nichts, aber ich sah einen Muskel an seiner Wange zucken. »Komm schon herein und bring deinen jungen Freund mit, Kommandant. Über deine Hinrichtung können wir später immer noch reden.« Die Stimme klang amüsiert.

Nikal trat auf den Vorhang zu und schlug ihn beiseite. Ich folgte ihm und sah mich staunend um. Dieses Zimmer war so nüchtern, wie der vordere Raum gemütlich gewesen war. Ein prasselndes Feuer loderte im Kamin, und ein von Büchern und Schriftstücken überquellender Tisch stand ihm gegenüber. Die große, schlaksige Gestalt, die mit dem Rücken zu uns vor dem Kamin stand und ihre bleichen Hände am Feuer wärmte, erschien mir seltsam vertraut. Der Mann trug einen dunklen Samtmantel, über dessen Kragen sich zottiges schwarzes Haar ringelte. Nikal blieb stehen und räusperte sich unbehaglich.

»Setzt euch«, befahl der Mann, der in Sturmhaven als Ruud bekannt war. Ich hielt die Luft an. Diese Stimme hatte ich zu oft gehört, um sie nicht zu erkennen. Nikal ließ sich steif in einem Lehnstuhl neben dem Tisch nieder, aber ich blieb erstarrt stehen und stierte den Mann an, der sich jetzt zu uns umwandte.

»Setz dich hin«, wiederholte er und lächelte schmal. Seine seegrünen Augen, die denen seiner Mutter erstaunlich glichen – warum war mir das vorher nie aufgefallen? – fixierten mich mit einem unergründlichen Ausdruck. Ruud wandte sich zu Nikal, der ihn nicht aus den Augen ließ und sagte liebenswürdig: »Bester Freund, du hast zweimal versucht, mich umzubringen. Was treibt dich jetzt, hier einfach so hereinspaziert zu kommen – Lebensmüdigkeit? Oder verfolgst du noch etwas anderes? Ich bin äußerst interessiert, dazu eine Erklärung von dir zu hören.«

»Ich habe dir etwas zu verkaufen«, sagte Nikal rauh. »Der Junge hat Briefe, die dir einiges wert sein dürften. Dafür verlange ich, daß du deine Hunde zurückpfeifst.« Er warf mir einen schnellen Blick zu und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, Ruud die Briefe zu übergeben. Ich tat, was er wollte, und sah dann gebannt zu, wie der dunkelhaarige Mann die Schriftstücke sorgfältig prüfte. Ich begriff überhaupt nichts mehr. Was hatte diese ganze Briefgeschichte für einen Sinn?

Ruud ließ den letzten Brief sinken und faltete die Hände vor dem Mund. Er tippte gedankenverloren mit den Zeigefingern gegen seine Zähne. »Erkläre mir nur noch eines, Nikal«, sagte er freundlich. »Du verlangst, daß ich dich verschone, aber die Briefe besitzt der Junge? Das scheint mir ein merkwürdiger Handel, Freund.«

Nikal atmete zischend ein. Er bewegte seine Hand schneller, als ich es mit den Augen verfolgen konnte. Aber Ruud kam ihm zuvor. Er hob nachlässig seine Finger und beschrieb eine augenverwirrende Geste. Nikals Dolch flog weit an seinem Ziel vorbei und fiel klirrend hinter ihm auf den Boden. Nikal war aufgesprungen, das Gesicht schneeweiß und erstarrt.

Ruud schüttelte nachsichtig den Kopf und lächelte grimmig. »Nik, das war jetzt das dritte Mal. So langsam bekomme ich das Gefühl, du hast etwas gegen mich.« Er lehnte sich entspannt zurück und schloß die Augen. Ich bewunderte seine Kaltblütigkeit. »Du wirst Haven verlassen«, sagte er sanft. »Ich kann nicht zulassen, daß hier jemand herumläuft, der andauernd versucht, mich umzubringen. Wenn du künftig nur einen Fuß hierher setzt, bist du Fischfutter. Rechne nicht damit, daß ich dich ein weiteres Mal verschone. Ich mag vielleicht gutmütig sein, aber ich bin kein Schwachsinniger. Jetzt geh, ich habe mit deinem jungen Begleiter etwas Geschäftliches zu besprechen!«

Nikal starrte ihn haßerfüllt an. »Ich warte im Gelben Segel auf dich«, rief er mir rauh zu und verließ grußlos den Raum. Ruud sah ihm hinterher und legte einen Finger auf die Lippen. Ich schloß meinen Mund wieder und wartete. Er schien zu lauschen. Endlich entspannte er sich, ließ seine Hände sinken und lächelte mich an.

»Siehst du, Elloran, Ruud hat die Fälschungen geschluckt.« Ich war sprachlos. Er lachte leise und trat an das Feuer. »Möchtest du auch einen Tee?« Ohne meine Antwort abzuwarten, füllte er zwei Becher und drückte mir einen davon in die Hand. Wir tranken schweigend und sahen uns an.

»Was soll die b-blödsinnige Maskerade, Julian?« fragte ich erbost. »Wo ist dieser Ruud, und w-warum erkennt Nikal dich nicht, und ...«

»Halt, Neffe«, stöhnte Julian. »Das ist ja genau wie früher, du kannst einfach den Hals nicht vollkriegen. Laß mich doch bitte erst einmal eine Frage beantworten, ehe du die nächste stellst!« Ich holte tief Luft und nahm mein Glückskraut heraus. Er sah mir zu, wie ich eines der Stäbchen zum Glühen brachte und nickte befriedigt.

»Wo Ruud ist, wolltest du wissen«, begann er. Er zog eins seiner langen Beine unter sich und ließ das andere baumeln. Mir kamen fast die Tränen, als ich diese vertraute Haltung sah. »Ruud ist hier. Ich bin Ruud, zumindest hier in Haven.« Er sah mich gelassen an und erwartete meine unvermeidliche Frage.

»Weshalb ›Ruud‹?« entfuhr es mir prompt.

»Das ist der Name meines Großvaters. Du erinnerst dich, der Herr mit dem kleinen Sprachfehler, den du mit etwas Verzögerung geerbt hast«, in seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Lachfältchen. »Der Name erschien mir passend. Nächste Frage?«

Ich inhalierte den kühlen Rauch und dachte nach. Er hatte meine eigentliche Frage nicht beantwortet. »Was ist m-mit Nikal?«

»Was soll mit ihm sein? Er erinnert sich nicht an Julian, er kennt mich nur als Ruud; und er versucht, mich umzulegen. Ich hoffe sehr, du schaffst mir dieses Problem ein für alle Male vom Hals.«

Ich stöhnte. Er blinzelte erheitert. »J-Julian!« beharrte ich. »Du w-weichst mir aus. Warum spielst du dieses Spiel hier in Haven? Was bezweckst du damit? Du b-bist so etwas wie ein Verbrecher, nach all dem, was ich über Ruud gehört habe!«

»Nicht ›so etwas wie‹«, lachte der Magier. »Ich bin das Verbrechen in Haven. Ich kontrolliere diese Stadt, und ich habe nicht vor, es dabei zu belassen. Aber, lieber Neffe, das ist eine verwirrende Geschichte, die zu erzählen einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Du bist schließlich mit unserem mordlustigen gemeinsamen Freund verabredet, der sehr mißtrauisch werden wird, wenn du nicht im Gelben Segel erscheinst. Mit seinem Anteil in der Tasche, versteht sich.«

Er grinste über mein überraschtes Gesicht und zog eine Schublade auf. Der entnahm er einen schweren, prall gefüllten Lederbeutel und warf ihn mir in den Schoß. Ich zog die Schnüre auf und blickte hinein. Fassungslos sah ich Julian an. Der hob gleichmütig die Schultern und bemerkte: »Verbrechen lohnt sich, Elloran. Nimm es als kleines Taschengeld. Aber an deiner Stelle würde ich es nicht Nikal zeigen, sonst kommt er am Ende noch auf dumme Gedanken. Gib ihm die Fünfzig, die er im voraus wollte und vertröste ihn mit der Bezahlung auf später, wenn er seinen Auftrag erfüllt hat. Das wird er verstehen, er würde nämlich genauso handeln.« Er stand auf, legte mir seine Hand auf den Rücken und sagte, indem er mich zur Tür führte: »Komm wieder hierher zurück, wenn du ihn losgeworden bist. Wir haben viel zu besprechen.«

»Bis gleich dann«, sagte ich erleichtert und verließ ihn. Mein Kopf war immer noch so leicht und leer, wie er den ganzen Tag gewesen war, und außerdem fühlte ich mich jetzt regelrecht beschwingt. Ich war äußerst gespannt auf Julians Erklärung dieser seltsamen Scharade.

Nikal hatte sich bereits sinnlos betrunken, als ich im Gelben Segel eintraf. Er hing schlaff an einem Tisch, in der Hand einen Becher mit klarem, starkem Kartoffelschnaps, und lallte: »Wurde auch Zeit, daß du kommst, Bürschchen. Wo ist mein Geld?« Sein Blick verschwamm, und das vom Trinken gedunsene Gesicht war gerötet. Ich zählte ihm schweigend fünfzig Goldychs in Zehnerstücken hin. Er sah mir mit haltlos schwankendem Kopf dabei zu. »Und mein An ... Antei ...«, er rülpste.

Ich schüttelte den Kopf. »Erst nach Abschluß unseres Geschäftes«, erklärte ich fest. »Ich setze m-mich mit dir in Verbindung.«

Als ich mich wegdrehte, griff er nach meinem Handgelenk und zog mich zu sich herunter. »Du wirst mich nicht bescheißen«, drohte er. Seine getrübten Augen blickten tückisch, und schaler Atem strich über mein Gesicht. »Bilde dir nicht ein, daß du mich reinlegen kannst, du widerliche Bettwanze!«

Ich riß mich aus seinem Griff los und fauchte: »Keine Sorge! Du b-bekommst dein Geld. Aber erst, wenn du getan hast, w-wofür ich dich bezahle.«

Ich drehte mich um und ging hinaus. Ich bemerkte Molls Blick, erwiderte ihn aber nicht. Das Zusammentreffen mit dem Betrunkenen hatte meine vorher so gute Laune stark verdüstert. In dumpfem Brüten wanderte ich zurück zu dem finsteren Gebäude, in dem Ruud residierte.

Julian wartete auf mich. Er hatte zwei gepolsterte Stühle ans Feuer geschoben und einen Imbiß und eine Kanne mit Wein bereitgestellt. Ich sah auf das Brett mit dem geräucherten Schinken und den dunkelroten Würsten und seufzte. Er schnitt sich ein herzhaftes Stück von dem fettgeäderten Schinken ab und schob mir das Brett hin.

»Iß, Junge. Das wird noch eine lange Nacht, und du mußt doch bei Kräften bleiben.«

»Ich d-darf nicht«, murmelte ich.

Er schnaubte. »Nimm schon. Und vertraue mir ruhig – dein kleines Gesundheitsproblem habe ich im Handumdrehen gelöst.« Ich starrte ihn ungläubig an. Er hob die Brauen und schob mir aufmunternd das Brett näher. Ich zuckte mit den Schultern und griff zu. Es war ja wahrscheinlich ohnehin gleichgültig. Wir lehnten uns beide zurück und sahen in vertrautem Schweigen ins Feuer. Die Stille war behaglich und freundlich. Ich streckte meine Beine aus und fühlte mich neben meinem Freund und Lehrer geradezu unbeschreiblich wohl. Er lächelte knapp zu mir herüber, als habe er das gleiche gedacht und schenkte meinen Becher voll.

»Es ist schön, dich mal wieder mit menschlichen Augen zu sehen«, brach er nach einer Weile das Schweigen. Ich grinste ihn liebevoll an.

»Ich war auch schon g-gar nicht mehr sicher, ob d-du nicht Federn und einen Schnabel hast.« Er gluckste. »Erzählst du m-mir jetzt, was das hier alles zu bedeuten hat?«

Er drehte seinen Becher zwischen den langen Fingern. Sein knochiges, melancholisches Gesicht lag im tiefsten Schatten, aber ich konnte das grüne Funkeln seiner Augen sehen. »Wer herrscht über die Kronstaaten?« fragte er ausweichend.

Ich stutzte, aber da ich seine verzögerten Annäherungen an ein Thema aus unzähligen Unterrichtsstunden kannte, antwortete ich brav: »Die Krone, Julian.«

Er nickte bedächtig und nippte an seinem Wein. »Und wer ist die Krone, Elloran?«

»Eine junge Frau, etwa Ende zwanzig, die n-niemand außer ihren engsten Mitarbeitern je zu Gesicht b-bekommt«, trug ich geduldig vor. Was hatte das eigentlich mit mir und den Fragen, die ich an ihn hatte, zu tun?

»Falsch«, entgegnete Julian. Ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. »Die junge Frau, von der du sprichst, ist als Kind einem Anschlag zum Opfer gefallen. Ihr Vater wurde dabei schwer verletzt und trägt nach wie vor die Krone.«

»A-Augenblick mal«, protestierte ich. »Das liest sich in den Berichten aber völlig anders! Der V-Vater der jetzigen Krone wurde bei dem Attentat getötet, die junge Frau hat überlebt.« Das war der Mordanschlag gewesen, bei dem auch Karas' Tochter Elliana – Julians Schwester, wie mir jetzt einfiel – getötet worden war. Das bedeutete, daß Karas den Tod seines Monarchen miterlebt hatte. Hatte er sich damals schon gegen die Krone entschieden, um seine eigene Tochter zu retten? Zu verdenken wäre es ihm sicherlich nicht.

Julian unterbrach mein Sinnen. »Dummes Zeug!« sagte er ärgerlich. »In den Berichten steht nur das, was alle Welt glauben soll. Wenn du die Wahrheit darüber hättest erfahren wollen, hättest du die fragen müssen, die sie als einzige kennen: deine Großeltern und die Oberste Maga.«

»Glaubst du, die hätten m-mir irgend etwas verraten?« fragte ich aufgebracht.

»Nein. Das liegt ganz und gar nicht in ihrem Interesse. Sie wollten dich dumm und fügsam. Was glaubst du, warum sie versuchten, dich loszuwerden? Du warst ihnen viel zu eigenwillig für ihre Zwecke.«

Einiges leuchtete mir immer noch nicht ein, doch dann kam ich auf einen wichtigen Punkt: »Wenn die Krone w-wirklich der ist, den du mir genannt hast, ist er inzwischen ein alter Mann. W-wer aber ist die Thronerbin?«

Er wirkte zufrieden. Anscheinend hatte ich die richtige Frage gestellt. »Genau, Elloran. Du weißt über die Bedingungen der Nachfolge Bescheid?«

Ich nickte gelangweilt. »In jeder Generation w-wechselt das Geschlecht des Regenten. In der letzten Generation war es ein Mann, der Onkel der jetzigen K-Krone – beziehungsweise des Mädchens, das die Thronerbin war – und nach seinem Tod sein Bruder; in d-dieser Generation wäre es eine Frau, in der nächsten Generation wird es wieder ein Mann sein«, leierte ich runter.

»Richtig. Was ist eine unabdingbare Voraussetzung für jeden Träger der Krone?«

»Er oder sie muß über angeborene m-magische Fähigkeiten verfügen. Das ist die eine Bedingung, unter der die Zauberer die K-Krone als ihre Herrin anerkennen. Das und die Berufung des Obersten Magus als linke Hand der Regentin.«

»Auch richtig. Und wenn du jetzt alles zusammennimmst, müßtest du dir deine Frage nach dem Thronerben eigentlich selbst beantworten können.«

Ich schenkte ihm und mir Wein nach und dachte laut nach: »Wenn das stimmt, w-was du mir eben erzählt hast ...«

»Glaube es ruhig.«

»D-dann ist die Krone ein Mann von etwa Mitte oder Ende sechzig, der bei einem Attentat, bei dem er auch seine T-Tochter verloren hat, schwer verletzt wurde ...« Ich stockte.

Er lachte leise. »Kommt dir das nicht irgendwie bekannt vor?«

»Julian, willst du damit etwa sagen, daß Karas ...« Mir schwindelte. Die Folgen meiner Erkenntnis trafen mich wie ein Guß kalten Wassers. »Aber d-dann wäre ich ja ...«

»Der rechtmäßige Erbe der Krone«, ergänzte Julian ruhig. »Wundert es dich jetzt noch, daß man versucht hat, dich zu vergiften?«

Ich grub mit fliegenden Händen ein Stäbchen Glück aus meiner Tasche und steckte es mir zwischen die Lippen. Mein Kopf schwirrte, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Julian saß reglos da und beobachtete mich. Nur das kalte Feuer seiner Augen verriet seine Wachsamkeit.

»Und du«, fragte ich endlich matt. »Was ist d-deine Rolle bei diesem Spiel?«

Er antwortete nicht gleich. »Sagen wir, ich bin unzufrieden«, sagte er schließlich sanft. »Ich entstamme einem der ältesten Herrschergeschlechter dieser Welt, und ich bin ehrgeizig.« Er trank. Ich beobachtete ihn neugierig. Für ehrgeizig oder machtbesessen hätte ich den Magier nie im Leben gehalten. Er bemerkte meinen skeptischen Blick und hob die Schultern.

»Das liegt bei uns in der Familie«, fügte er mit scherzhaftem Unterton hinzu. »Sieh dir deinen Großvater an: Ehe der seine Macht aus den Händen gibt, stirbt er lieber. Und meine liebe Mutter ist nicht viel anders. Das hast du doch am eigenen Leibe erfahren dürfen. Ich bin dagegen geradezu bescheiden. Ich werde der nächste Oberste Magus sein – wenn die alte Leonie endlich einmal das Feld räumt, heißt das.« Er runzelte die Stirn. »Leonie ist seit mehr als einhundertfünfzig Jahren unsere Oberste Maga, und sie klammert sich mit Zähnen und Klauen an den Titel – wie eine Nisgardische Leopardin an ihr Opfer. Viele meiner Kollegen sind, was ihre dringend fällige Ablösung betrifft, auf meiner Seite.«

Ich unterbrach ihn zweifelnd. »Julian, du w-willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, daß Leonie wahrhaftig h-hundertfünfzig Jahre auf dem Buckel hat!«

»Nein, natürlich nicht«, lachte er. »Sie muß inzwischen sogar weit über zweihundert sein. Ich habe dir doch gesagt, daß Zauberer sehr alt werden. Allerdings bricht Leonie alle Rekorde, was das angeht. Sie hat noch sehr viel von dem alten Blut in sich. Keiner von uns Jüngeren kann damit rechnen, sehr weit über die Mitte seines zweiten Jahrhunderts hinauszukommen.«

Es lief mir eiskalt über den Rücken. »G-gut«, sagte ich mühsam. »Eine andere Frage: Was soll diese ›Kopf der Unterwelt‹-Maskerade? Wie paßt das in deine abenteuerliche Geschichte h-hinein?«

Er schüttelte leise tadelnd den Kopf. »Neffe, soll das etwa heißen, daß du mir nicht glaubst, mir eventuell sogar mißtraust? Das trifft mich allerdings hart!«

»Julian, wenn d-du so oft belogen worden wärest wie ich, würdest du dir auch gut überlegen, ob du überhaupt n-noch jemandem dein Vertrauen schenkst. Blind mit Sicherheit nicht!«

Er nickte bestätigend. »Gut, Elloran, sehr gut. Behalte das unbedingt bei, dann wirst du noch sehr alt.« Ich gab einen gutturalen Laut von mir.

Ohne mich weiter zu beachten, fuhr der Magier fort: »Das hier in Haven ist für mich nichts weiter als eine Fingerübung.« Er machte mit seinen schlanken Fingern eine komplizierte Geste und lächelte. »Es war eine Zeitlang recht interessant und ist immer noch mehr als ertragreich, aber inzwischen langweilt es mich zu Tode. Ich erwarte mehr von meinem Leben als die Kontrolle über eine einzelne Stadt. Und ich denke, ich werde mehr als das bekommen. Mit deiner Hilfe, Neffe.« Er betrachtete mich. Etwas Lauerndes lag in seiner Haltung.

Ich hob eine Hand und protestierte schwach. »Nicht s-so schnell, Julian. Du hast mir sehr viel zu schlucken g-gegeben, was ich erst einmal verdauen muß.«

Er atmete tief ein und stieß die Luft wieder aus. »Du hast recht, Junge. Es ist schon spät – oder besser gesagt: früh. Ich habe dir ein Zimmer hergerichtet, du kannst gerne ab heute bei mir wohnen. Wir haben in den nächsten Tagen noch sehr viel zu besprechen.«

Ich war zu erschlagen, um mich dazu zu äußern. Julian führte mich zu meinem Zimmer – anscheinend gab es in diesem Haus keinerlei Dienerschaft – und wünschte mir einen erholsamen Schlaf. Ich hatte vermutet, daß mein Grübeln mich noch lange wachhalten würde, aber seltsamerweise konnte ich sofort einschlafen.

Ich erwachte spät am Tag und stand nicht sofort auf. Rauchend und in Gedanken versunken lag ich auf dem Bett, als es leise klopfte. »Ja?« rief ich.

Julian öffnete die Tür und fragte fröhlich: »Wie wäre es mit einem Happen zu essen, Elloran? Wir könnten dabei noch ein wenig plaudern.« Ich sah ihn nachdenklich an. Er erwiderte meinen Blick offen und ehrlich und mit einem leisen Lächeln, als könne er meine Gedanken lesen. Ich kam auf die Beine und strich meine Haare zurück. So langsam schien meine natürliche Haarfarbe wieder durchzukommen. Aber bis hierher hatte Ranans Färbung ihren Zweck erfüllt.

»Ich komme s-sofort, Julian«, sagte ich und kleidete mich an. Er nickte und schloß die Tür.

Das Essen war reichlich und sehr schmackhaft zubereitet. Ich fragte mich, ob der Magier nicht doch irgendwo Personal versteckt hielt.

»Morgen schaffst du Nikal aus der Stadt, nicht wahr?« fragte Julian beim Dessert.

Ich nickte. »Warum vers-sucht er eigentlich, dich zu töten?« fragte ich.

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich verstehe die Natur seiner Gedächtnisstörungen nicht. Er erkennt mich nicht, das weiß ich. Aber ich muß etwas für ihn bedeuten, das er beseitigen will. Er hat über ein Jahr für mich gearbeitet, ehe er das erste Mal versuchte, mich umzubringen. Ich war nicht darauf vorbereitet, und es wäre ihm fast gelungen.« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Danach war ich vorsichtiger. Ich habe ihn im Auge behalten, und beim nächsten Versuch hätte ich ihn beinahe festsetzen können. Aber es gelang ihm zu entkommen, und seitdem geistert er durch Haven und bildet sich ein, ich würde ihm Meuchler auf den Hals hetzen. Was im übrigen nicht stimmt. Wenn ich gewollt hätte, daß er stirbt, dann wäre er längst bei den Fischen.« Er nahm ein Stück Konfekt von einem Teller und steckte es sich in den Mund. Dann leckte er sich genüßlich die Finger ab und lachte.

»Weißt du, vielleicht sehe ich die ganze Angelegenheit auch viel zu verworren. Es ist durchaus möglich, daß unser Freund nur auf meine Stellung scharf ist und mich deshalb aus dem Weg räumen will.« Er fand diesen Gedanken offenbar äußerst amüsant.

Ich stand auf und dankte ihm für die Mahlzeit. Er sah mich unter seinen in die Stirn hängenden zotteligen Haaren an und fragte: »Was ist mit meinem Angebot? Du kannst hier bei mir wohnen.«

»Gerne«, sagte ich ehrlich. »Ich bleibe noch eine N-Nacht bei Katarin und verabschiede mich morgen von ihr. Sobald ich Nikal abgeliefert h-habe, ziehe ich zu dir.«

»Fein«, freute er sich und rieb sich die Hände. »Du hast dann sicherlich noch einen Sack voll Fragen an mich.«

»Worauf du dich verlassen k-kannst«, antwortete ich nachdrücklich.

Ich sandte Nikal eine Nachricht, daß wir uns am nächsten Tag bei dem Mietstall treffen würden, wo ich mein Pferd untergestellt hatte. Danach wanderte ich hinunter zum Singenden Kamel und besuchte Tomas. Ich wollte meine Vorräte aufstocken, denn mein Verbrauch war in den letzten Tagen deutlich angestiegen. Dank Julians großzügigem Taschengeld war ich in der glücklichen Lage, ihr eine größere Menge an Glück abzukaufen, ohne allzu hart verhandeln zu müssen. Sie schob mir die verlangten zehn Päckchen wortlos zu und strich die beiden Goldychs dafür ein. Ihre Fingernägel hatte sie heute in einem irisierenden Silberton lackiert und die brünetten Haare zu einer Unzahl dünner Zöpfe geflochten, an deren Enden kleine Silberperlen baumelten, die leise klirrten, wenn sie aneinanderstießen. Sie lächelte mich an und fragte leise: »Geht es dir nicht gut, Elloran? Du siehst elend aus.«

»Ich war ein paar Tage nicht auf dem Damm, Tomas, aber jetzt ist alles wieder in b-bester Ordnung.«

Sie erhob sich und legte mir eine federleichte Hand auf die Schulter. »Rauch nicht soviel«, hauchte sie und verließ die Schenke. Ich kehrte zu Katarins Behausung zurück und packte meine spärlichen Habseligkeiten zusammen. Fast ein wenig wehmütig sah ich mich in dem kleinen Zimmer um. Noch eine Nacht in dem schmalen Bett, der Abschied von Katarin und dann der Ritt mit Nikal, vor dem mir nicht wenig grauste. Hoffentlich waren die anderen pünktlich am Treffpunkt. Ich hatte nicht die geringste Lust, auch nur eine Sekunde länger als unbedingt nötig allein mit diesem Irren zu verbringen.

Katarin nahm bei unserem letzten gemeinsamen Frühstück die Nachricht, daß ich ausziehen würde, ruhig und ein wenig enttäuscht entgegen. Ich bot ihr noch eine Wochenmiete zusätzlich an, aber das schlug sie fast beleidigt aus.

»Ich bin nicht darauf angewiesen«, sagte sie. »Ich habe einfach gerne ein wenig Gesellschaft, deshalb vermiete ich das Zimmer. Wo ziehst du denn jetzt hin? Oder verläßt du Haven etwa wieder?«

Ich antwortete ohne vorher nachzudenken: »Ich w-wohne ab jetzt bei Ruud«, und hätte mich in dem Augenblick, da die Worte draußen waren, am liebsten geohrfeigt. Sie erstarrte.

»Was hast du gesagt?« fragte sie heiser. »Bei Ruud?« Ihr Gesicht verhärtete sich. Sie blickte mich angewidert und enttäuscht an. »Daß ich mich so in dir täuschen konnte! Das hätte ich nie von dir gedacht, Elloran. Wie kannst du dich nur mit einem solchen Untier einlassen? Bitte, geh jetzt. Ich will dich nicht wiedersehen.« Sie stieß heftig ihren Stuhl zurück und ging in ihr Zimmer. Die Tür schloß sich mit einem sehr endgültig klingenden Geräusch, und ich saß da, unsicher, ob ich nun lachen oder weinen sollte. Wieder ein Mensch, der mich nicht mehr sehen wollte. Wenn das in der Geschwindigkeit weiterging, würde ich noch sehr einsam werden, ehe ich diese Welt verlassen mußte.

Nikal wartete bereits vor dem Stall. Er hockte auf dem Gatter, das einen Teil des Hofes abtrennte, und ich mußte daran denken, wie oft ich mit ihm so auf der hölzernen Absperrung des Waffenhofes in Salvok gesessen hatte.

Er sah mir finster entgegen, ohne meinen Gruß zu erwidern. Ich zuckte mit den Achseln und ging auf die Suche nach dem Besitzer des Stalles. Mein kleines Pferd war wohlgenährt und gepflegt. Der kleine, krummbeinige Berg-Raulikaner, dem der Mietstall gehörte, klopfte ihm traurig auf den Hals, als er es mir zuführte.

»Wenn du einmal daran denken solltest, ihn zu verkaufen, dann mache ich dir einen guten Preis«, bot er an. »Diese Rasse siehst du hier im Süden nicht oft, leider. Mein Vater hatte eine Zucht.« Er sah den struppigen Hengst liebevoll an. Ich versprach, an ihn zu denken und fragte ihn dann nach einem Pferd für meinen Begleiter.

Nikal saß noch immer regungslos wie eine verirrte Vogelscheuche auf dem Gatter. Er machte keine Anstalten, seinen Braunen zu besteigen. Ich verschnürte mein Bündel und sah ihn fragend an.

»Darf ich erfahren, wo es hingeht, edler Herr?« fragte er sarkastisch. »Und würdet Ihr mich eventuell auch in Eure Pläne einweihen, wie Ihr gedenkt, Euch des Ungeziefers mit meiner Hilfe zu entledigen, oder soll ich mich überraschen lassen?« Seine Stimme klang rostig. Wahrscheinlich hatte er schon wieder sein Quantum Schnaps intus. Ich ritt aus dem Hof, ohne mich nach ihm umzusehen. Wenn er mir folgte, gut; wenn nicht, war es mir schon fast einerlei. Ich hatte die Nase voll von dieser Angelegenheit. Einige Atemzüge lang blieb es still hinter mir, dann vernahm ich Hufschlag, der mir zögernd folgte. Wir ritten schweigend hintereinander durch das nördliche Stadttor, und dort zog Nikal an meine Seite.

»Mit wievielen Gegnern habe ich zu rechnen?« fragte er nach einer Weile. Es klang erstaunlich höflich.

»Fünf insgesamt«, antwortete ich ebenso. »Davon sind vier n-nicht zu unterschätzen, fürchte ich.« Er lauschte meinen Ausführungen äußerst aufmerksam. Ich überlegte scharf, was ich ihm erzählte. »Die Anführerin besitzt zwar nur n-noch den linken Arm, aber s-sie ist eine kluge, altgediente Söldnerin.«

»Mit nur einem Arm in dem Gewerbe alt zu werden, ist nicht einfach. Sie muß gut sein«, knurrte er. Ich nickte.

»Dann ist da ihre Kollegin, d-die mit einer sehr seltsamen Waffe sehr geschickt umgehen kann.« Ich schilderte Ranan, die Riesin, und ihre Peitsche. »Quinns Stellvertreter habe ich noch nie mit einer ernstzunehmenden Waffe in der Hand gesehen, aber er scheint ein Meister im waffenlosen Kampf zu sein. Über den Heiler brauchst du dir n-nicht den Kopf zu zerbrechen; das letzte Mal, da ich ihn habe kämpfen sehen, war es mit einer Bratpfanne – und auch das nicht allzu gekonnt.«

Er schnaubte amüsiert. »Den kann ich ja dann dir überlassen, Rotznase.« Ich erwiderte nichts.

»Und der fünfte?«

»Schwer zu sagen. Ich k-kann ihn überhaupt nicht einschätzen. Er wirkt nicht wie ein Kämpfer, eher wie jemand, d-der seine Gegner mit Gift aus dem Weg räumt.« Ich stockte. Genau das war der Eindruck, den ich von Galen hatte – warum war ich eigentlich nie auf den Gedanken gekommen, daß er vielleicht hinter dem Giftanschlag auf mich steckte? Obwohl – warum sollte ausgerechnet er ein Interesse daran haben, mich zu beseitigen? Ich räusperte mich und sprach weiter.

»Trotzdem sollte man ihn nicht unterschätzen: Er hat mit einer ernsthaften Schwertwunde in der Seite noch einer Gardesoldatin das G-Genick gebrochen.«

Nikal brummte mißvergnügt. Seine Brauen waren finster zusammengezogen. Ich konnte förmlich sehen, was er dachte: vier schwer einzuschätzende, gewiß aber ernstzunehmende Gegner, gegen die er alleine antreten sollte ... Ich beeilte mich, einen Teil seiner Sorgen zu zerstreuen, ehe er mir vom Karren sprang.

»Wir haben nicht alle g-gleichzeitig am Hals. Ich habe diesen Zeitpunkt für ein Treffen mit ihnen gewählt, weil ich wußte, d-daß sich im Augenblick nur Quinn und ihr Commander hier im Süden aufhalten. Die anderen beiden haben den Botschafter nach S'aavara begleitet, er trifft sich dort mit d-dem minor T'jana.«

»Klingt schon besser. Aber wie willst du nachher an die anderen drei herankommen, wenn ich dir diese hier vom Halse geschafft habe?«

»Keine Sorge, da f-fällt mir schon noch etwas ein«, sagte ich etwas patzig.

Gegen Abend erreichten wir den Treffpunkt am Galgenhügel. Nikal bestand darauf, daß wir die Umgebung genau untersuchten, aber wir fanden weder Mensch noch Tier und auch nicht den Hinterhalt, den er wohl vermutet hatte. Die Gruppe war noch nicht eingetroffen; also richtete ich mich mit Nikal auf der kleinen Lichtung ein und vertraute darauf, daß die anderen sich uns schon vorsichtig nähern würden.

Wir entzündeten ein kleines Feuer und kauerten uns – mit um die Schultern gelegten Decken – dicht daneben. Es war empfindlich kalt, glücklicherweise aber trocken. Nikal behielt die Umgebung ständig im Blick, mit einer Hand an seinem Schwert. Ich fror wie ein nacktes Küken im Schneesturm. Mein Zittern wurde immer heftiger. Kälteschauer überliefen mich. Ich fluchte tonlos. Das war jetzt wirklich der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für einen weiteren Anfall! Mit unsicheren Händen holte ich das Glückskraut hervor. Nikals Kopf fuhr herum, er sah mich ungläubig an.

»Bist du noch zu retten? Machst du dir etwa vor Angst dermaßen in die Hose? Ich kann bei diesem Unternehmen doch nicht auch noch auf einen verdammten Nebelkopf aufpassen!«

Ich konnte ihm beim besten Willen nicht antworten. Die Krämpfe waren sogar noch stärker als vor einigen Tagen. Ich drehte mich hastig vom Feuer weg und erbrach mich qualvoll. Er packte mich bei den Schultern und hielt mich fest, leise und heftig fluchend.

»Verdammnis, Junge, du gibst ja deine ganzen Eingeweide von dir!« Ich fiel zurück in die Hocke, und er wischte mir mit einem Zipfel seiner Decke das Gesicht ab. Ich sah die dunkelroten Flecken auf dem groben Stoff und begann wieder zu würgen. Ein zweiter Schwall klumpigen, dunklen Blutes folgte dem ersten, dann endlich ließen die Krämpfe langsam nach. Ich lag schwach wie ein Neugeborenes und schluchzend an Nikals Schulter. Die Heilerin hatte mich belogen, oder sie hatte sich geirrt. Mir blieb mit Sicherheit kein Jahr mehr. Wahrscheinlich würde ich nicht einmal mehr den Sommer erleben. Ich wimmerte vor Angst und Schmerz.

Nikal strich über mein Gesicht und sagte hilflos: »Was kann ich tun, Junge? Willst du etwas Wasser?« Er streichelte meinen Kopf und wiegte mich wie ein Kind. »Was ist denn nur los mit dir? Kleiner, du wirst mir doch nicht etwa hier sterben; mach doch die Augen auf! Wie soll ich das denn deiner Mutter erklären?« Ich lauschte seiner Stimme und fühlte mich um Jahre zurückversetzt.

»Nik, b-bist du das?« flüsterte ich schwach. Er legte seine Decke um mich und zog mich wieder an seine Schulter. Ich öffnete mühsam die Augen und sah ihn mit verschwimmendem Blick an. Sein Gesicht beugte sich über mich, tiefe Besorgnis in den Augen. Wie schon einmal vor Tagen in seinem Quartier sah er jünger aus. Alle Tücke war aus seinem Gesicht verschwunden, und die bösen, bitteren Linien hatten sich geglättet. Ich starrte ihn an, erschreckt und gleichzeitig erleichtert.

»Gib mir b-bitte ein Stäbchen«, bat ich ihn. Er steckte es mir zwischen die Lippen und reichte mir einen glimmenden Zweig als Anzünder. Ich sog den Rauch tief ein und entspannte behutsam meine verkrampften Muskeln. Der schreckliche Schmerz ebbte ab, und mein Blick wurde wieder klar. Ich richtete mich vorsichtig auf.

»Du hast mich zu Tode erschreckt. Ich habe noch nie jemanden so viel Blut auskotzen sehen, ohne daß er ...« Er verschluckte, was er hatte sagen wollen. Ich hustete und griff nach einem zweiten Stäbchen. Der Rauch begann endlich zu wirken; ich fühlte mich schon sehr viel kräftiger. Nikal musterte mich entsetzt. Ich sah ihn an und mußte lächeln. Er schien so sehr wieder er selbst, daß ich mir kaum noch vorstellen konnte, solch tödliche Angst vor diesem Mann gehabt zu haben. Er lächelte zögernd zurück und legte seinen Arm um mich. Ich lehnte mich an ihn und entzündete das nächste Rauchstäbchen. Wir saßen lange Zeit so da, und ich war beinahe glücklich.

»Elloran?« fragte er unsicher. »Was tun wir eigentlich hier? Ich erinnere mich nicht ...« Er holte tief und zitternd Luft. »Du hast dich so sehr verändert, ich hätte dich beinahe nicht erkannt. Wie – wie lange haben wir uns nicht gesehen?«

»Du bist vor f-fast zwei Jahren von Salvok geflohen«. Er zuckte zusammen. »Erinnerst du dich an Reuven, den Soldaten, den du fast umgebracht h-hast?«

»Er ist nicht tot?« Nikal lachte beschämt und erleichtert auf. »Ihr Götter, ich danke dir für diese Nachricht! Ich war fest davon überzeugt, ihn getötet zu haben!«

»Was war d-danach, Nik? Erinnerst du dich noch, h-hierher nach Haven gekommen zu sein?«

Er schüttelte benommen den Kopf. Ein Schatten flog über sein Gesicht. »Sturmhaven? Ich war hier einmal, aber das ist lange her. Wir wollten uns hier wiedertreffen ...« Er verstummte.

»Wir?«

»Omelli – Omellis Leute, wir ... wir ... Ich erinnere mich nicht!« Er schluchzte fast.

»Nik, Omellis Leute sind ...«, begann ich aufgeregt, aber eine sanfte, dunkle Stimme unterbrach mich: »Was sehe ich: den treulosen Geliebten in den Armen eines Rivalen? Oh, mein armes Herz zerspringt vor Qual!«

»Tom«, rief ich erleichtert und kam mühsam auf die Beine. Er hatte sich so leise genähert, daß ich ihn nicht gehört hatte. Er umarmte mich und gab mir einen herzhaften Kuß. Nikal war aufgesprungen und sah ihn mißtrauisch an.

»Was fingerst du an meinem Jungen herum, Kerl«, knurrte er.

Tom blickte erstaunt auf ihn und verzog seinen Mund zu einem breiten, häßlichen Grinsen. »Bei Omellis Glasauge, Elloran, du hast es wahrhaftig geschafft, ihn aufzutreiben! Ich hätte dich beinahe nicht erkannt, Kolja. Добрый вечер, мой дорогой друг!«

Nikals Gesicht verzerrte sich unheimlich. Ich sah mit geweiteten Augen zu, wie der alte Nik erneut dem schrecklichen neuen Bewohner seines Körpers wich. Er hob die Hand, und ich schrie: »Tom! Vorsicht, er hat ...« Im selben Augenblick schleuderte Nikal seinen Dolch. Tom warf sich blitzschnell zur Seite. Das Messer streifte seinen Arm und blieb zitternd im Boden stecken. Tom sprang fauchend auf und streckte seine Hände aus. Schaudernd sah ich lange, messerscharfe Krallen aus seinen Fingerspitzen schießen. Nikal stöhnte entsetzt auf und faßte nach der Narbe unter seinem Auge. Tom bewegte sich tänzelnd auf ihn zu, und Nikal zog sein Schwert, kalkweiß und hastig atmend. Lautlos wie Gespenster tauchten jetzt auch die anderen rund um uns auf: Quinn, Akim, Ranan und der unheimliche Galen.

Nikal fuhr rasend zu mir herum, das hagere Gesicht haßverzerrt. »Du kleines Miststück!« fauchte er. »Ich wußte es doch! Was haben sie dir dafür bezahlt?« Er packte meinen Arm und zerrte mich wie einen lebenden Schild vor sich. »Wenn auch nur einer von euch mir zu nahe kommt, stirbt der Junge«, keuchte er. Ich spürte seinen zischenden Atem an meinem Ohr. Auf der Suche nach einem Fluchtweg bewegte er sich langsam rückwärts und zog mich dabei mit sich.

Die fünf Gefährten fächerten wortlos aus und kreisten uns ein. Nikal hob das Schwert an meine Kehle und drohte: »Ich spaße nicht!« Ich zweifelte keine Sekunde an seinen Worten.

»Ran«, befahl Quinn ruhig. Die große, rotblonde Frau stand einige Schritte entfernt vor uns, entspannt und offenbar völlig unbewaffnet. Mir war schleierhaft, wie sie von dort, wo sie stand, irgend etwas ausrichten wollte, ohne daß Nikal mir vorher sein Schwert durch den Hals jagte.

Nikal ließ sie nicht aus den Augen und bemerkte deshalb nicht, daß Akim und Galen sich von beiden Seiten langsam und schrittweise an uns heranschoben. Die Riesin griff mit einer kreuzenden Bewegung nach ihren beiden breiten Lederarmbändern und riß sie ab. Ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können, als aus ihren Handgelenken die langen, tödlichen Peitschenstränge schossen, mit denen sie damals unseren Angreifern die Hälse gebrochen hatte. Zwei von ihnen schlangen sich blitzschnell um Nikals Arm und entwaffneten ihn. Er kreischte vor Entsetzen und Ekel und stieß mich in seiner Panik von sich. Hektisch versuchte er, die Fesseln von sich abzustreifen, aber Ranan umschlang unaufhaltsam seine Arme und den Brustkorb mit ihren seltsamen Gliedmaßen, bis er kaum mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Er schrie wie ein Tier und warf sich zur Seite, aber die riesige Frau hielt ihn erbarmungslos gefesselt.

Jetzt trat Akim hinter ihn und stieß ihm eine fingerlange, blitzende Nadel in den Nacken. Nikal warf den Kopf zurück und schrie in höchster Todesangst. Ich sprang eilig auf und wollte zu ihm, aber Quinn, die das Geschehen regungslos beobachtete, rief scharf: »Haltet den Jungen fest!«

Tom packte fest zu und zerrte mich beiseite. »Sieh lieber nicht hin, Kleiner«, flüsterte er. »Das ist kein schöner Anblick.« Ich sah die schwarzen, dolchähnlichen Krallen an seinen Händen, die sich durch meine Ärmel bohrten und erstarrte vor Entsetzen.

»Laß mich l-los«, keuchte ich. »Was habt ihr mit ihm vor? W-was ...«

Ich mußte mitansehen, wie sich nun Galen Nikal näherte, der zusammengesunken in Ranans Fesseln hing. Er wechselte ein paar leise Worte mit dem kleinen Heiler, der nickte und zurücktrat. Galen legte seine Hände an Nikals Schläfen. Einige Atemzüge lang regte sich keiner von beiden. Dann versteifte Nikal sich plötzlich in Ranans Umklammerung. Seine aufgerissene Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Er öffnete in entsetzlicher Agonie den Mund und schrie mit einer fremden, schrillen Stimme. Dann brach der Schrei plötzlich ab, dünne Blutfäden rannen ihm aus Mund und Nase, der Blick brach, und sein Kopf sank leblos zurück.

Einige Atemzüge lang erstarrte das Bild. Galen und Akim schienen sich mit einem halben Lächeln gegenseitig zu beglückwünschen. Die dünnen Tentakel ringelten sich von dem leblosen Körper los und zogen sich wieder in Ranans weiße Arme zurück. Nikal landete wie eine zerbrochene Puppe zu ihren Füßen und starrte mit leeren Augen blicklos in den Himmel.

Jetzt erst rührte sich Quinn und trat zu der erstarrten Gruppe. Sie blieb neben dem Toten stehen und blickte gelassen auf ihn nieder.

»Gut«, sagte sie mit kühler Befriedigung in ihrer heiseren Stimme. »Das hätten wir, es wurde auch wirklich Zeit. Tom, schaff den Jungen weg. Omelli wartet.«

Toms Krallen zogen sich in die Finger zurück, und sein Griff lockerte sich für einen Augenblick. Ich wand mich aus seinen Armen und stürmte davon. Vor Angst und Entsetzen schluchzend schlug ich mich durch das peitschende Unterholz, Rufe und Flüche hinter mir lassend, und prallte hart gegen eine schweigend dastehende düstere Gestalt.

»Julian!« stöhnte ich. »Julian, sie h-haben ihn umgebracht! Und ich bin daran schuld!«