16

Die Achtwoche des Kornsommers schlich vorüber, und ich schickte mich ergeben in meine Einzelhaft. Es hätte mir Erleichterung gebracht, wenn ich mich wenigstens hin und wieder hätte ein wenig betrinken können, aber Karas hatte strikte Anweisungen gegeben, was das betraf. Ich bekam zu den Mahlzeiten einen kleinen Becher Wein serviert, aber keinen Schluck darüber hinaus. Also fuhr ich mangels anderer Betätigung hartnäckig damit fort, mich für einen Geliebten zu mästen, den ich wahrscheinlich nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Karas hatte seine fruchtlosen Besuche bei mir eingestellt. Wie meine Schwester mir berichtete, hatte Leonie ihn mehrmals vergebens gebeten, mich besuchen zu dürfen. Karas mußte sie kalt und böse abgewiesen haben: Solange sein Enkel nicht geruhe, mit ihm zu sprechen, sähe er keine Notwendigkeit, andere Besucher zu ihm zu vorzulassen.

Ich zuckte zaghaft mit den Achseln und nahm ein Stück Kuchen vom Tisch. Meine Schwester sah mir neugierig zu, wie ich kaute und schluckte und nach dem nächsten Stück griff und fragte: »Sag, ist das alles, was dir einfällt? Schlafen und dich vollstopfen? Du gleichst allmählich ganz erstaunlich einem gemästeten Schwein, lieber Bruder.«

Und wenn schon. Wen kümmerte das? Ich steckte gleichgültig ein weiteres Kuchenstück in den Mund. »Du hast übrigens eine neue Wache vor der Tür«, bemerkte sie fröhlich. »Was Nettes, Junges. Unterhalte dich doch mal mit ihr.«

Ich stöhnte und sagte unwirsch: »Laß mich endlich mit deinem Geschwätz in Ruhe. Merkst du eigentlich nicht, wie sehr du mir auf die Nerven gehst?«

Sie kicherte und klatschte mir mit der Hand auf den Bauch. »Bin schon weg«, rief sie munter. »War wie immer nett, sich mit dir zu unterhalten, alter Sauertopf!« Sie stob durch die Tür und streifte dabei die Frau, die davor stand, am Ärmel. Die zuckte zusammen und drehte sich verstört um.

»Jenka!« rief ich heillos überrascht. »Du b-bist zurück?« Sie blickte mich ungläubig an, die Augen in ihrem dunklen Gesicht wurden tellergroß.

»Du meine Güte, Elloran! Wie siehst du denn aus? Du platzt ja aus allen Nähten!« japste sie entsetzt.

Ich wurde blutrot. »D-das ist ja wohl ganz und g-gar meine Sache!« erwiderte ich patzig. Sie schlug beschämt die Augen nieder.

»Du hast recht, tut mir leid.« Sie schloß die Tür hinter sich und sagte verlegen: »Dumme Sache mit dem Stubenarrest, Elloran. Der Kammerherr hat sogar deine Großmutter deswegen zurückgerufen. Wir sind seit gestern wieder hier.« Ich verdrehte die Augen und jammerte leise. Jetzt stand mir auch noch mit Sicherheit ein Gespräch mit Veelora bevor! Jenka sah mich mitfühlend an.

»Kann ich irgendwas für dich tun, Ell?« fragte sie gedämpft. »Ich darf dich hier nicht rauslassen, aber vielleicht könnte ich – jemandem eine Nachricht überbringen oder so.« Sie blinzelte verschwörerisch. Ich schloß für eine Sekunde die Augen. Sollte es so einfach sein?

»W-würdest du das wirklich tun?« fragte ich atemlos. Sie nickte entschlossen. »W-würdest du ihn auch z-zu mir lassen?« bohrte ich. Sie zögerte. »Jenka!« rief ich beschwörend. Sie biß die Zähne zusammen und nickte wieder. Ihr Gesicht wirkte unglücklich. Ich schrie vor Freude auf und zog sie an mich. Sie legte kurz eine Hand auf mein Gesicht und blickte noch unglücklicher drein. Ich beachtete es nicht, ließ sie los und riß Papier und Feder aus der Schublade. Hastig kritzelte ich ein paar Zeilen auf das Papier, faltete es zusammen und hielt es Jenka hin. Sie nahm den Brief und steckte ihn in ihre Uniformjacke.

»D-danke«, stammelte ich. »Du w-weißt nicht, was das für mich bedeutet!« Sie nickte wortlos und ging hinaus. Der Schlüssel knirschte im Schloß. Zum ersten Mal segnete ich dieses Geräusch. Dann lauschte ich ihren sich entfernenden Schritten und schlug die Hände vor den Mund. Bei der Göttin, ich mußte mich ein wenig herrichten! Meine Haare waren schon lange nicht mehr gewaschen worden, und die Kleider, die ich trug, waren fleckig und rochen nach Schweiß. Ich wühlte ungestüm in meinem Schrank herum. Verdammt, da mußte doch noch irgend etwas anderes sein, das mir halbwegs paßte! Ein weites Hemd, das ging so gerade über die Hüften, aber die Hose – ach egal! Ich ließ sie eben ein Stück offen und zog das Hemd darüber – wenn alles nach Plan verlief, würde ich ohnehin nicht lange in meinen Kleidern stecken!

Der Nachmittag schlich vorbei wie eine Schneckenprozession. Jenka kehrte irgendwann zurück und meldete, daß sie die Nachricht abgegeben hatte. Wie ich erwartet hatte, war vor Cescos Gemächern keine Wache aufgestellt. Karas wagte es nicht, einem offiziellen Gast von den Inseln einen Soldaten vor die Tür zu stellen. Wahrscheinlich hatte er statt dessen seinen Erzieher gebeten, ein Auge auf den Prinzen zu werfen. Das machte mir wenig Sorgen, Cesco hatte in der Vergangenheit häufig genug seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt, seinem Aufpasser zu entwischen.

Komm vor dem dritten Wachwechsel, mein über alles Geliebter! hatte ich ihm geschrieben. Dann war Jenka noch im Dienst, und morgens, wenn sie die Nachtwache abgelöst hatte, konnte sie den Prinzen wieder hinauslassen. Meine Ungeduld wuchs ins Unermeßliche. Das Abendessen wurde serviert, aber ich brachte keinen Bissen herunter. Es wurde dämmrig draußen, die Sonne versank, und endlich, als ich schon dachte, er hätte es nicht geschafft, klopfte es sacht an meine Tür. Ich riß sie auf und unterdrückte noch rechtzeitig einen Freudenschrei. Ich packte Cesco am Handgelenk und zerrte ihn ins Zimmer.

»D-danke, Jen!« brachte ich noch heraus, ehe ich die Tür zuwarf und in den Armen meines strahlenden Prinzen lag. Wir fielen übereinander her wie zwei Verhungernde über ein Festessen, stumm und unbeherrscht. Erst als der erste, wütende Hunger gestillt war, begannen wir flüsternd miteinander zu sprechen.

»Ich soll zurück in Rhûn«, wisperte Cesco. »Kammerherr sehr furios. Wütig mit mir gesprecht. Nur noch mit stitutori aus câmra darfe. Dich nix seh, mî Ellorran!« Er schob seine Haare aus dem Gesicht und richtete sich auf die Ellbogen. Er betrachtete mich gründlich und strahlte vor Freude. »Du bêl geword, mî amor. So rrund und grass', ai!« Er kniff schmerzhaft in die weichen Fleischpolster auf meinen Hüften und stöhnte vor Wonne. Ich umklammerte ihn und wir rollten übereinander. »Ah, aspett' ein Augenblickîn!« sagte er atemlos und drückte mich von sich fort. »Hab Bringsel für dir!« Er sprang auf und lief zu einem Bündel, das er beim Hereinkommen achtlos neben der Tür abgelegt hatte. Er legte es zwischen uns aufs Bett und befahl: »Offen mach, Ellorran!«

Ich grinste, denn ich hatte es darin schon gluckern hören. Es war ein Krug vom feinsten roten Dolmianer, schwer und duftend wie ein schwüler Sommerabend. Ich war nicht mehr daran gewöhnt und schnell berauscht. Aber noch weit mehr berauschte mich mein Liebster, der in dieser Nacht genausowenig von mir lassen konnte wie ich von ihm. Viel zu schnell war die Nacht vorbei und der Augenblick gekommen, da ich ihn mit den ersten zaghaften Vogelrufen zur Tür hinauslassen mußte. Wir küßten uns in der offenen Tür noch einmal trunken und leidenschaftlich zum Abschied. Jenka nickte mir zu, und ich lächelte dankbar, erschöpft und benebelt. Ich schleppte mich zurück ins Bett und fiel in die zerwühlten Kissen. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Luftballon, gleichzeitig leicht und zum Zerplatzen gespannt.

»Zufrieden?« fragte meine Schwester.

Ich stöhnte nur und versuchte, meinen Kopf unter dem Kissen zu verbergen. »Geh weg, laß mich in Ruhe«, sagte ich dumpf.

Sie setzte sich bequem auf mein Bett, steckte die bloßen Füße unter meine Decke und sagte: »Im Gegenteil. Ich wollte dir schon lange was zeigen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt dafür gekommen, denke ich.«

»O bitte!« sagte ich gleichgültig. »Du wirst doch nicht gerade jetzt mit mir einen Ausflug unternehmen wollen!« Wir standen in einem zum Innenhof hin offenen Wandelgang der alten Burg. »Was gibt es denn hier so Wichtiges?«

Sie sah sich in aller Ruhe um, musterte die Menschen, die an uns vorbeigingen. So weit ich sehen konnte, waren die Leute mir nicht persönlich bekannt, es schienen die üblichen Höflinge und Edelfrauen, Adligen und Hofbeamten zu sein.

Meine Schwester zupfte mich am Ärmel. »Da!« sagte sie. »Siehst du den Mann da?«

Ich sah mich gelangweilt um. »Ja, sicher«, sagte ich. »Und?« Er kam genau auf uns zu, ein großer, stattlicher Edelmann in der Blüte seiner Jahre, athletisch gebaut und durchaus gutaussehend, obwohl er auch etwas molluskenhaft Schlaffes an sich hatte. Er war auf das Vornehmste gekleidet, und seine gepflegten, weißen Hände waren mit kostbarem Schmuck überladen. Sein Gesicht kam mir seltsam bekannt vor. Ich sah es mir genauer an. Es wirkte ebenmäßig und besaß einen lüsternen, unersättlichen Zug um den Mund, der mich abstieß. Es war das Gesicht eines zügellosen, genußsüchtigen Menschen.

»Siehst du ihn dir gut an?« flüsterte meine Schwester. »Das ist der mächtigste Mann auf dieser Welt. Schau hin, Elloran.«

Ich sah ihm nach. Er wurde von den Edelleuten, an denen er vorbeikam, untertänigst gegrüßt und machte sich selbst kaum die Mühe zurückzugrüßen. Sein Blick ruhte auf einem alten Mann am anderen Ende des Wandelganges, der ihm freudig entgegenkam. Meine Schwester nahm mich beim Arm und zog mich hinter dem Mann her, der jetzt den Älteren freundschaftlich um die Schulter gefaßt hatte und mit ihm hinaus in den Rosengarten schlenderte. »Er hat alles erreicht, was ein Mensch erreichen kann, der nach Macht giert und gewissenlos genug ist, vor nichts zurückzuschrecken, um sie zu erreichen«, erläuterte sie atemlos, während sie mich hinter sich herzerrte. »Er hat irgend etwas an sich, daß die Menschen ihn lieben und ihm vertrauen, und das nutzt er gewissenlos aus. Er hat einen jeden skrupellos beseitigt, der ihm im Weg stand, ob es nun seine eigene Familie war oder ein vollkommen Fremder. Wen er benutzen konnte, hat er benutzt und sich danach seiner entledigt.«

Die beiden Männer vor uns schlenderten über die verschlungenen Gartenwege. Die Rosenhecken dufteten betäubend süß. Wie verhext lauschte ich der Stimme meiner Schwester. »Er hat seine Freunde ermordet und seine Gönner hinrichten lassen; er räumt Menschen aus seinem Weg wie lästiges Ungeziefer, und nun ist er dort, wo er hinwollte: an der Spitze der Macht, unumschränkter Herrscher über den größten Teil der Welt, ein Mann ohne einen Funken Moral und ohne jedes Gewissen. Sieh jetzt hin, Elloran!«

Betäubt sah ich zu, wie der Mann seinen Begleiter zu sich herab auf eine überwucherte Bank zwischen üppigen, dunkelrot blühenden Rosensträuchern zog. Er legte liebevoll seinen Arm um den alten Mann und stieß ihm einen juwelenbesetzten Dolch tief in die Seite. Das Antlitz des anderen erbleichte; fassungslos und noch immer voller Liebe hing sein brechender Blick an dem lächelnden Gesicht seines Mörders. Der sah mit grausamer Befriedigung zu, wie sein Opfer unter Qualen starb, wischte gleichgültig seinen Dolch und die blutigen Hände an einem kostbaren Spitzentuch ab, das er achtlos fallen ließ, und ging mit festem, ruhigem Schritt davon. Die Blutflecke auf dem Tüchlein waren vom gleichen Farbton wie die unzähligen Rosenblätter, zwischen denen es am Boden lag.

Mir wurde so übel, daß ich mich heftig übergeben mußte. »Warum zeigst du mir das?« fragte ich keuchend. »Was soll das b-bedeuten?«

»Was hat er gesagt?« Ein feuchtes Tuch wischte über mein schweißbedecktes Gesicht.

»Ich habe ihn nicht verstanden. Er redet die ganze Zeit über völlig unverständliches Zeug. Ach du liebe Güte, jetzt geht das schon wieder los! Hol die Schüssel ...«

»Komm schon, weiter, wir sind noch nicht fertig!« Sie zerrte mich immer weiter hinter sich her.

»He, können wir nicht mal eine Pause machen? Ich fühle mich schrecklich!«

»Du bist zu fett geworden, Elloran. Du kommst viel zu schnell aus der Puste.«

»Warum zeigst du mir das alles? Was hat das für einen Sinn?«

»Das wirst du schon sehen«, antwortete sie. »Jetzt komm endlich weiter.«

Wir folgten dem Mann durch sein Leben wie durch einen zügellosen, ausschweifenden Bilderbogen der Begierden und widerwärtigsten Lasterhaftigkeiten. Und während der ganzen Zeit, in der ich nicht in der Lage war, meinen widerstrebenden Blick von den Untaten dieser abscheulichen Kreatur zu wenden, flüsterte die Stimme meiner Schwester in mein Ohr: »Dieser Mann hat sein Volk nach und nach ausgeblutet und die Kronstaaten in den greulichsten und längsten Krieg ihrer Geschichte getrieben. Er hätte Krone und Stab in allen Ehren tragen können, denn er ist der rechtmäßige Herrscher, aber er zieht alles, was edel und gut ist, zu sich in den Dreck und tritt noch mit Füßen darauf herum. Er ruht nicht eher, bis alles um ihn herum genauso niedrig und besudelt ist wie er selbst. Sieh gut hin, Elloran!« Ich war gezwungen, ihm weiter zu folgen. Seine perversen Untaten wurden immer monströser, immer unfaßbarer. Die ekelhafte Fäulnis unter der gepflegten, wohlriechenden Oberfläche trat deutlicher und deutlicher zutage. Dieses Monstrum in Menschengestalt kannte keine Güte, keine Liebe, keine edlen Gefühle. Er wollte nur eines: rücksichtslos seine maßlose Gier stillen. Ich hielt den Anblick nicht mehr aus, schloß meine brennenden Augen und flehte meine Schwester an, mich gehen zu lassen.

»Noch nicht, Elloran, wir sind noch nicht fertig«, hörte ich sie erbarmungslos antworten, ehe ich in gnädiges Dunkel fiel.

»Junge, hörst du mich?« Ich stöhnte und warf den Kopf herum, schlug dabei eine weiche Hand fort.

»Er hat zumindest aufgehört, sich zu übergeben«, sagte eine andere Stimme. »Wenn es wirklich Gift war, müßte das Brechmittel es eigentlich herausgetrieben haben. Aber ich bleibe heute nacht noch bei ihm, es ist wahrscheinlich noch nicht ganz ausgestanden.«

Die weiche Hand kam wieder und lag sacht auf meiner verschwitzten Stirn. »Meine Schuld«, sagte die erste Stimme verloren. »Alles meine Schuld.«

»Dummes Zeug«, fuhr ihn jemand anderes an. »Du hast völlig richtig gehandelt, Karas. Der Junge ist verrottet; verfault und verdorben bis ins Mark. Wir hätten ihn zu seinen Eltern zurückschicken sollen!«

»Nein, nein, das stimmt nicht, Vee! Der Junge – er ist in falsche Gesellschaft geraten. Ich habe es nicht schnell genug unterbunden, ich dachte, es täte ihm gut, sich ein wenig auszutoben. Aber er ist nicht schlecht, wirklich nicht!«

»Ach, Karas«, sagte die andere zärtlich. »Du bist ein hoffnungsloser Fall. Was sollen wir nun tun? Alles, wofür wir all die Jahre gearbeitet haben ...« Die Stimmen verloren sich im Dunkeln.

»So, weiter jetzt, mein Schatz«, sagte meine Schwester munter. »Keine Angst, du hast es fast geschafft. Wir sehen uns nun das Ende an.«

Das Dunkel hob sich, und ich fand mich in einem überheizten, prunkvollen Gemach wieder. Der Mann wandte mir den Rücken zu und starrte regungslos auf ein Schreiben in seiner Hand. Ein kostbarer, reich verzierter Schlafrock, zerdrückt und besudelt, umhüllte nachlässig seinen unförmig fetten Leib. Bleiche, schwammige Hände zerknüllten krampfhaft das Papier und griffen mit bebenden Fingern nach einem weingefüllten Pokal. Er leerte ihn hastig, ohne darauf zu achten, daß ein Teil des Inhaltes auf seinen Schlafrock und das spitzenbesetzte Hemd darunter lief und den unzähligen alten frische Flecken hinzufügte. Dann füllte er den Pokal erneut und wählte sorgfältig einen der Pfirsiche aus der silbernen Schale auf dem Tisch. Er drehte sich um und gab jemandem hinter mir einen barschen Befehl. Ich konnte seine Stimme nicht hören, aber dafür sah ich ihn deutlicher denn je. Sein Gesicht schien feist und aufgedunsen, jede seiner Taten spiegelte sich deutlich in den schlaffen, fleischigen Zügen. Diese von Ausschweifungen und Gemeinheit gezeichneten Züge boten jetzt nur noch die traurige Parodie eines menschlichen Antlitzes.

Mit abstoßender Gier grub er seine Zähne in den Pfirsich und verzehrte ihn mit wenigen Bissen. Der klebrige Saft lief an seinen fleischigen Wangen herunter und tropfte über sein fettes Kinn. Jetzt öffnete sich hinter mir eine Tür. Tückischer Glanz trat in seine blutunterlaufenen Augen. Achtlos ließ er den Pfirsichkern zu Boden fallen, wischte sich über den Mund und griff wieder nach dem Pokal. Den Wein hinunterstürzend, winkte er ungeduldig die eintretende Person näher.

»Sieh hin, Elloran«, wisperte die Stimme. »Das ist der Captain seiner Leibwache und seine rechte Hand, eine ihm seit Jahren treu ergebene Frau. Sie hat ihn einst geliebt, und jetzt hat sie sich mit seinen Feinden gegen ihn verbündet. Es wurde ihm soeben zugetragen. Sieh gut hin.«

Ich tat, wie mir geheißen wurde. Jenka! schrie ich auf. Sie war es, als erwachsene Frau, nicht mehr jung, mit einem Anflug von Bitterkeit im Gesicht, der nicht zu ihr paßte; aber dennoch war es unverkennbar meine liebste Freundin, mit ihren dunklen, kraftvollen Zügen und dem ausdrucksvollen, herben Mund. Sie sah dem Mann gelassen ins Gesicht. Er ging ruhelos auf und ab und erregte sich anscheinend immer mehr. Sie antwortete gelassen auf seine bohrenden Fragen und heftigen Vorhaltungen. Ich sah es an ihrem Blick: Er würde sie nicht brechen können. Das erkannte wohl auch er, denn mit einer Behendigkeit, die ich diesem unförmig aufgeblähten Körper nicht zugetraut hätte, warf er sich auf sie, um sie zu erstechen, genau wie er vor Jahren seinen Getreuen im Rosengarten ermordet hatte und danach noch viele, allzuviele andere.

Doch Jenka war vorbereitet. Sie glitt geschmeidig zur Seite und nach einem kurzen Handgemenge steckte der Dolch tief in seiner eigenen Brust. Er öffnete den Mund in unsäglicher Agonie. In seinen sich trübenden Augen stand Unglauben. ›Nein!‹ schien er tonlos zu schreien. ›Doch nicht ich!‹ Seine schwammigen Hände krallten sich den bestickten Tischüberwurf und rissen ihn samt Weinkaraffe und Obstschale hinunter. Er starb unter gräßlichen Zuckungen und lag blicklos und starr auf seinem kostbaren Teppich. Die zerdrückten Pfirsiche spiegelten sich dunkel glühend in den Lachen, zu denen sich der Wein und sein Blut vermischt hatten. Jenka aber stand neben ihm und blickte mit einem Gesicht voller Haß und Trauer auf die Leiche des mächtigsten Mannes nieder.

»Und jetzt sieh gut hin«, flüsterte meine Schwester und drehte sanft mein Gesicht der abstoßenden Fratze des Toten zu. Ihre kühlen Hände strichen über meine Augenlider, und ein Schleier hob sich. Ich erkannte ihn nun endlich und schrie, schrie von unsäglichem Ekel geschüttelt, bis meine Stimme versagte.

»Bei allen Geistern, was hat er?«

»Er wird tobsüchtig! Haltet ihn doch um Himmels willen fest, er verletzt sich noch selber!«

»Ich hole die Oberste Maga.« Eilige Schritte, Hände, die mich festhielten und ruhig zu stellen versuchten. Stimmen, die durcheinanderschrien. Und über all dem das Gesicht, das gräßliche Gesicht, das alles andere in meinem Blickfeld verdeckte. Ich riß meine Hände aus den klammernden Griffen und fuhr mir kreischend und schluchzend mit den Nägeln ins Gesicht, um das Bild aus meinen Augen zu löschen.

»Nun haltet doch seine Hände fest! Er versucht sich die Augen auszukratzen!« Hastige Schritte, eine zuschlagende Tür, erleichterte Ausrufe.

»Domna, endlich! Wir können ihn nicht mehr bändigen.«

»Geht alle hinaus, laßt mich mit ihm allein!« Lange, kühle Hände an den Schläfen, auf den Augen. Das Bild verblaßte, versank. Etwas Weiches, Kühlendes legte sich auf meine Lider.

»Kind, das war sehr gefährlich«, flüsterte Leonie. »Du hättest das nicht auf eigene Faust unternehmen dürfen.«

»Er überlebt es schon.« Die klare, kalte Stimme meiner Schwester. »Er ist ziemlich hart im Nehmen, Leonie.«

»Du weißt nicht, was du da getan hast«, seufzte die Maga mit papiertrockener Stimme. »Es kann sein, daß er hiernach nicht mehr leben will.« Schweigen.

»Wäre das so schlimm? Er ist doch ...«

»Halt den Mund! Du dummes Kind! Begreifst du denn gar nichts? Wenn Elloran jetzt stirbt, hat er das spiel gewonnen.«

»Oh!« flüsterte meine Schwester.

»Es sollte mich nicht wundern, wenn das Gift von ihm kam. War es in dem Wein?«

»Nein, ich glaube nicht. Wäre dann Cesco nicht auch krank geworden?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Leonie nachdenklich. Sie ließ meine Hände los, die sie umklammert hatte und stand auf. Ich spürte, wie sie zur Tür ging. »Ich glaube, ich weiß, was ihm jetzt noch helfen könnte. Bleib hier bei ihm, Kleines.«

»Ich bin doch immer bei ihm«, sagte meine Schwester sanft.

»Sie machen mit dir, was sie wollen, merkst du das nicht?« Ein Schnabel pickte zärtlich in mein Ohrläppchen. »Sie wollen nicht, daß du fortgehst, weil sie dich dann nicht mehr herumschubsen können. Tanze nur immer schön nach ihrer Pfeife, dann bleibst du auch ihr lieber, lieber Junge. Willst du das? Sieh dir doch an, was passiert, wenn du einmal gegen ihren Willen handelst. Arrest, als hättest du ein Verbrechen begangen! Und warum? Nur weil du jemanden liebst, der deinen Großeltern nicht in den Kram paßt! Wenn du bleibst, wirst du für immer ihre Marionette sein. Zupf, Zupf, Zupf an den Fäden, und die Puppe tanzt. Nach ihrer Musik, nach Leonies Musik, nach jedermanns Musik, nur nicht nach der deinen! Ist es das, was du aus deinem Leben machen willst?« Höhnisches Krächzen und ein Flügelschlag, der meine Wange traf. Ich jammerte leise und warf mich herum.

»Warum hat er die Augen verbunden?« Geschickte Finger schälten das Weiche, Warme von meinen Lidern. Schnalzen, ein erschreckter Ausruf.

»Du lieber Himmel, wie ist das denn passiert?«

»Das hat er sich selbst beigebracht, sagte die Heilerin. Scheint aber gutgegangen zu sein, das sind keine ernsthaften Verletzungen.«

»Was für ein Gift war das eigentlich?«

»Wenn ich das wüßte ... Ich wollte, Jemaina wäre hier. Das war immer eines ihrer Spezialgebiete. So. Jetzt laß mal sehen.«

Luftzug an meinem bloßen Körper, unangenehm kühl. Heftiges Einatmen. »Maddoc!«

»Ja, interessant, nicht?« Hände auf meinem Leib, fest, sachlich, untersuchend.

»Interessant? Das ist entsetzlich! Der Junge hatte eine Haut wie Samt und Seide, und jetzt sieh dir das an. Das ist doch eine Schande!«

»Jetzt übertreib nicht so, Tom. Das hier, das sieht aus, als wäre er dir in die Klauen gefallen; schau mal, diese Narbe.«

»Du weißt genau, daß ich nie ...«

»Ja, ja. Hilf mir lieber mal, ihn auf die Seite zu drehen. Holla!« Ein Pfiff. »Die hier ist schon alt, aber das da werde ich wohl besser behandeln, sonst entzündet es sich noch. Und dieser Bluterguß sieht böse aus – hoffentlich hat er keine inneren Verletzungen davongetragen, das ist eine üble Stelle. So, du kannst ihn jetzt loslassen.«

Wärme. Dunkelheit. Murmelnde Stimmen. Eine neue Stimme, Gänsehaut. Klagen. Wieder Hände, kalt. An meinem Ohr, an meinem Handgelenk. Lange, endlos lange. Stimme in meinem Kopf, sanft, freundlich. Stimmen an meinem Ohr.

»Er hat die Augen geöffnet.«

Helligkeit. Geblendet. Schmerz. Ein unbewegtes Gesicht. Augen ohne Farbe, kalt. Gehen an mir vorbei, sehen meine Schwester an.

»Vielleicht kann das Mädchen uns weiterhelfen.«

»Welches Mädchen meinst du, Galen?«

Gesicht kommt näher. Augen bohren sich in meine, farblos und grün und golden und silbergrau und violett ... Schwindel. Hände an meinem Handgelenk, Finger in meiner Handfläche, Finger an meinem Kinn, hinter meinem Ohr.

– Hörst du mich? Im Inneren meines Kopfes.

– Ja.

– Komm zurück. Du bist noch nicht fertig mit dem, was du tun mußt.

– Ich mag nicht mehr. Es tut weh. Sie tun mir weh.

Du hast Hilfe. Du hast Freunde.

– Keine Hilfe. Keine Freunde. Allein.

– Deine Schwester? Dein Vater? Deine Großeltern, dein Geliebter, Tom, die kleine Soldatin ...

– Nein.

Seufzen. »Er wehrt sich.« Kurzes, trockenes Auflachen. »Ich werde mir wohl etwas einfallen lassen müssen, damit ich mein Stiefkind nicht verliere, ehe ich es überhaupt kennengelernt habe.«

»Galen, du redest irre. Erst ein Mädchen, das uns helfen kann und dann dein Stiefkind. Muß ich jetzt auch noch anfangen, mir Sorgen um deinen Geisteszustand zu machen?« 

Keine Antwort. Augen, die mich loslassen und sie ansehen.

»Kannst du etwas für ihn tun? Du bist nicht ganz unschuldig an seinem Zustand.«

»Bei Omellis Holzbein, mit wem redest du?«

Gereizt. »Könntet ihr beiden Idioten mir den Gefallen tun und hinausgehen? Ihr stört.« Türenknallen.

Sanfter. »Also?«

»Weißt du, das ist nicht so einfach. Ich habe ihm etwas gezeigt, das ihn fürchterlich erschreckt hat, und jetzt spielt er die beleidigte Leberwurst.«

»Versuch es wenigstens. Bitte.«

Ihre Hände, seine Hände. Liebe. Freundschaft. Besorgnis. Das Gesicht aus meinem Alptraum ... Schreie, wer schreit da nur so entsetzlich? Bringt ihn doch zum Schweigen, das halte ich nicht aus! Nehmt doch das Gesicht weg. Bitte, nehmt es weg, nehmt es weg, nehmt es weg, nehmt es ...

Laute, schnelle Schritte. »Hier, nehmt den Spiegel.«

Nehmt es weg, nehmt es ... Das Gesicht. Aufgerissene Augen. Schreiender Mund. Konturlos, teigig. Aufgedunsene Haut unter den Augen. Schlaffer, gieriger Mund. Nehmt es weg, nehmt es weg, Nehmt. Es. Weg.

Nein. Nicht das Gesicht aus meinem Alptraum. Mein Gesicht? Mein Gesicht. Mein Gesicht.

Arme um mich. Tröstend. Beruhigend. »Schsch, mein Kind. Schsch. Weine ruhig, das ist gut. Ja, das ist gut. Schschu.« Streichelnde Hände. Leonies Hände, meiner Schwester Hände. Ruhe, Dunkel.

»Danke, Botschafter.«

»Wofür? Erklärt mir lieber, was ihr mit dem armen Kind gemacht habt!«

Dunkel, Stille, Schlaf ...

Ich blinzelte in das helle Sonnenlicht, das auf mein Bett fiel. In dem Sessel neben dem Bett saß jemand, und als meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte ich den schlafenden Tom. Ich stützte mich auf die Ellbogen und wunderte mich über meine Schwäche. Was war passiert? Ich hatte Cesco, meinen wunderbaren Cesco, zur Tür gebracht und mich danach schlafen gelegt. Und dann? Wirre Träume, an die ich mich lieber nicht erinnern wollte. Warum saß Tom hier? Und weshalb fühlte ich mich derart durch die Mangel gedreht? Cesco hatte bestimmt wieder irgendwas in den Wein gemischt, das mich komplett umgehauen hatte. Das sollte ich ihm wirklich abgewöhnen. Ich schwang die Beine aus dem Bett und mußte erst mal einen Augenblick pausieren. Junge, was muß das für ein teuflisches Zeug gewesen sein, mir war vielleicht schwindelig!

Tom schnarchte erschreckt und wachte auf. Sein Blick war verschwommen, klärte sich aber schnell, und er sah mich mit komischem Erstaunen an. »Was tust du da?« fragte er laut. Ich kicherte und versuchte, auf die Beine zu kommen.

»Du stellst v-vielleicht Fragen! Ich stehe aus meinem Bett auf, m-machst du das nie?«

Er sprang hoch und drückte mich wieder zurück.

»Du bleibst gefälligst liegen! Bist du noch zu retten? Maddoc, verdammt! Hilf mir!«

Wir rangen miteinander, und ich schimpfte erbost. Was fiel ihm bloß ein, mich am Aufstehen zu hindern? Das hieß doch nun wirklich, den Stubenarrest ein wenig zu weit zu treiben!

Jetzt kam auch noch Akim hereingestürzt. Er sah aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Er stellte sich in der Tür auf, die Hände in die Seiten gestemmt und sah unserem Ringkampf eine Weile zu.

»Und, amüsiert ihr euch?« fragte er trocken. Ich mußte lachen, und Tom nutzte die Gelegenheit, mich auf die Matratze zu werfen und das Laken über mich zu decken.

»W-warum hast du es nur immer so eilig, mich ins Bett zu bek-kommen?« frotzelte ich und wurde mit einem aufgebrachten Blick belohnt. Akim prustete unterdrückt.

»Halt den Mund, du kleine Kröte, sonst passiert was!« drohte Tom und wandte sich dann heftig um. »Maddoc, hör auf zu gackern und sag Galen Bescheid. Und der Maga, dem Kammerherrn und ...«

» ... dem Rest der Burg, in Ordnung. Am besten gebe ich ein Rundschreiben raus.« Er ging, und ich sah ihm sprachlos nach.

»Sag m-mal, Tom, was ist eigentlich los hier? S-seid ihr übergeschnappt? Ihr müßt doch nicht aller Welt m-melden, daß ich aufstehen will. Ich möchte doch nur frühstücken und ein bißchen die W-Wände anstarren, dann gehe ich ohnehin w-wieder ins Bett.«

Er ließ sich in den Sessel fallen und fing hilflos an zu lachen. Ich schob mich vorsichtig in eine sitzende Haltung und schielte nach der Tür. Wenn hier irgendeine Art von ansteckendem Wahnsinn grassierte, wäre es vielleicht besser, wenn ich – Die Tür flog so heftig auf, daß sie gegen die Wand knallte. Karas platzte herein. Sein Gesicht war fleckig und erregt, und ich begann jetzt ernsthaft, mich zu fürchten. Hinter ihm stand meine Großmutter, und ganz im Hintergrund glaubte ich, auch Jenkas dunkles Gesicht erkannt zu haben. War denn die ganze Burg befallen? Schützend zog ich das Laken um mich und wünschte mir ein Messer oder wenigstens einen kräftigen Knüppel zu meiner Verteidigung.

Der Kammerherr stürzte sich auf mich und packte mich bei den Schultern. Sein keuchender Atem blies mir ins Gesicht. Ich starrte ihn an und wünschte mich ganz weit fort, aber es gelang nicht. Diesen Zauber hatte ich noch nie richtig im Griff gehabt.

»He, he!« rief Akim warnend. »Nun mal sachte, Kammerherr, Ihr macht dem Jungen ja angst!« Karas ließ mich los und fiel auf die Bettkante. Er schlug mit zuckenden Schultern die Hände vors Gesicht. Ich hob eine zögernde Hand und strich ihm vorsichtig über den Rücken. Ich verstand überhaupt nichts, aber im Augenblick schien ich zumindest nicht in Lebensgefahr zu schweben.

Veelora schnaubte und drehte sich zu dem Heiler um. »Wie beurteilt Ihr die Lage?« fragte sie barsch. Er ließ eine Augenbraue emporzucken und grinste sie völlig unerschrocken an. Ich kannte nicht viele Menschen, die das wagten, wenn meine Großmutter in dieser Stimmung war.

»Ich kann nicht viel dazu sagen, aber er wirkt soweit ganz munter. Vielleicht sollten wir ihm was zu essen bringen. Der arme Junge fällt sonst noch ganz vom Fleisch, er hat ja seit über einer Woche nichts zu sich genommen!« Sein spöttischer Ton war mehr als unverschämt, aber der Inhalt seiner Worte ließ mich stutzen.

»Könnte mir vielleicht mal jemand v-verraten, was hier los ist?« rief ich. Meine Stimme klang peinlich schrill in meinen Ohren. Ich hörte Jenka kichern. Dann geriet der Menschenauflauf um mein Bett erneut in Bewegung. Die Oberste Maga pflügte hindurch, den schrecklichen Botschafter der Allianz im Schlepptau. Ich quiekte und kroch unter mein Laken. Das auch noch! Eine starke Hand zog das Tuch weg, und gelbe Augen musterten mich streng.

»Mach nicht so einen Aufstand, Junge«, befahl Leonie. »Galen, das sieht doch ganz gut aus.« Der Botschafter nickte nur und starrte mich gefühllos an. Ich verspürte den Wunsch, allen die Zunge herauszustrecken.

»Hat da nicht eben einer was von ›F-Frühstück‹ gesagt?« jammerte ich kläglich. »Ich verhungere!«

»Wohl kaum«, knurrte des Heilers Stimme aus dem Hintergrund. Ich wurde rot. Leonie wandte sich um und klatschte in die Hände.

»Jetzt alle raus hier. Laßt den Jungen erst mal zu sich kommen. Kammerherr, geht es Euch auch gut?« Karas hatte die Hände sinken lassen und sah mich aus rotgeränderten Augen unverwandt an. Er antwortete nicht. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und fragte leise: »Alles in Ordnung, Karas? Fühlst du dich nicht wohl?«

Er nickte wortlos und lächelte schwach. »Es geht mir gut, Leonie. Danke.« Er stand schwerfällig auf und wandte sich zur Tür. Veelora hatte dort auf ihn gewartet und nahm seinen Arm. Die Tür klappte, alle waren fort. Leonie stand neben mir und sah mich immer noch finster an. Ich erwiderte ihren Blick und fragte unsicher: »Was ist d-denn bloß los, Leonie? Habe ich schon wieder irgendwas angerichtet? Ich erinnere mich n-nicht.« Sie setzte sich neben mich und nahm meine Hand. Ihr Blick ging über meine Schulter hinweg.

»Hat er alles vergessen, Leonie?«

Die Maga schüttelte den Kopf. »Er wird sich erinnern, Kind. Er wird vielleicht noch einige Zeit brauchen, aber er wird sich erinnern.« Sie sah mich ernst an. »Du warst krank, Elloran. Du wärest beinahe gestorben. Es sieht so aus, als hätte jemand versucht, dich zu vergiften.«

»Ach«, sagte ich schwach. Dann raffte ich mich auf und fragte: »W-wer? Wer hat das versucht – und w-warum?« Sie klapste mir auf die Hand und erhob sich.

»Da kommt dein Frühstück, Elloran. Versuche, etwas zu essen, und dann schläfst du besser noch ein wenig.« Sie ging an dem Diener vorbei hinaus.

»Frühstück«, murmelte ich und starrte auf das Tablett nieder. »Und woher weiß ich, daß das nicht vergiftet ist?«

»Sei nicht albern«, sagte meine Schwester schaudernd. »Wer macht sich schon die Mühe und vergiftet sowas?« Sie hatte recht. Irgend jemand schien entschieden zu haben, mich auf Diät zu setzen, wahrscheinlich Akim. Ich trank die dünne Fleischbrühe aus und schob angewidert das trockene Brot beiseite.

»Hör mal, das war doch nicht ernst gemeint, oder?« fragte ich.

»Was, dein Frühstück? Warum, das ist doch sehr vernünftig, wenn ich mir deine Speckrollen so ansehe. Wird dir ganz gut tun, mal ein bißchen abzunehmen.«

»Du weißt genau, wovon ich rede!«

Sie seufzte und verdrehte die Augen. »Nein, natürlich war das nicht ernst gemeint. Du kennst doch Leonie, sie läuft den ganzen Tag nur herum und reißt blöde Witze. Schlaf, Schafskopf!«

Ein Gutes hatte die ganze Affäre schließlich, auch wenn ich immer noch nicht recht glauben konnte, daß ich fast neun Tage lang bewußtlos gewesen war: Mein Besuchsverbot wurde aufgehoben, und ich hatte reichlich Gesellschaft in den folgenden Tagen meiner ›Rekonvaleszenz‹ – wie Akim es nannte. Er weigerte sich, mich aufstehen zu lassen, obwohl ich vor Verzweiflung darüber fast in die Kissen biß. Tom saß manches Mal bei mir und erzählte. Sie hatten versucht, die Stadt zu finden, um dort nach Nikal zu suchen, waren aber kläglich gescheitert.

»Ich glaube nicht, daß es diese verfluchte Stadt überhaupt gibt«, schimpfte er. »Das ist doch unmöglich, eine ganze Stadt, die sich nicht finden lassen will!« Er schien es persönlich zu nehmen. »Wir wollten gerade wieder los, um es noch mal zu versuchen, als das mit dir passierte. Was meinst du, willst du mitkommen, wenn du wieder auf den Beinen bist?« Er sah mich erwartungsvoll an, und ich bekam ein schrecklich schlechtes Gewissen.

»Nik ist nicht mehr in d-der Stadt«, wich ich seiner eigentlichen Frage aus. Er starrte mich groß an.

»Was meinst du damit?«

»Er ist im F-Frühjahr von dort verschwunden. Julian hat es mir g-gesagt.«

»Und wohin?« Ich zuckte mit den Schultern. »Verdammt. Dann sind wir wieder da, wo wir angefangen haben!« Tom sah unglücklich aus. Er stand auf und entschuldigte sich, er müsse mit Galen reden. Ich sah ihm nach und biß mir auf die Lippen.

Am fünften Tag nach meinem Aufwachen aus der Bewußtlosigkeit klopfte es, als ich gerade lustlos auf einer Mundvoll fadem Grünzeug herumkaute. Ich hatte mir schon überlegt, offizielle Beschwerde wegen des Speiseplans einzulegen, aber meine Schwester hatte mich mit gründlicher Grausamkeit davon kuriert. Sie hielt mir schweigend einen großen Handspiegel vor und ich durfte mich darin betrachten. Ich sah mit ihren Augen, weiß der Himmel, wie sie das machte, all das bleiche schwammige Fleisch an meinem Körper, den weichen, schlaffen Bauch, und es ekelte mich heftig vor mir selber. Das schemenhafte Bild eines unbekannten toten Gesichtes schob sich vor mein Auge und jagte mir einen tödlichen Schrecken ein; ich wußte nicht, warum. Also aß ich ergeben das wenige, das mir erlaubt wurde, obwohl ich das Gefühl hatte, dabei langsam zu verhungern.

»Herein.« Ich schluckte das Grünzeug herunter und spülte mit dem bitterem Kräutertee nach. Ein Stock klopfte über den Boden, und ich sah erschreckt auf. In der Tür zum Schlafzimmer stand mein Großvater und zögerte einzutreten. Ich stellte den leeren Teller beiseite und deutete unbeholfen auf den Sessel. Er nickte dankend und setzte sich, den Stock zwischen die Beine geklemmt und die Hände auf dem Knauf gefaltet. Er sah krank aus. Ich räusperte mich verlegen. Unsere letzten Begegnungen waren alle äußerst unerfreulich verlaufen, und ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich nahm ihm immer noch übel, daß er mich von Cesco getrennt hatte, daß er mich in meinem Zimmer einsperrte – aber wie ich ihn so dasitzen sah, tat er mir dennoch leid.

»Wir sollten miteinander reden, Elloran«, sagte er mühsam. Ich nickte stumm.

»Es tut mir leid«, sagten wir gleichzeitig. Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Versteh mich richtig, Elloran. Das, was du dir mit deinen Kumpanen geleistet hast, ist schwer zu verzeihen. Du hättest es besser wissen müssen. Aber ich habe mich dazu verleiten lassen, zu hart zu reagieren. Ich hätte dir eine Chance geben müssen, das habe ich nicht getan. Dafür bitte ich dich um Vergebung.« Er hielt inne und wischte sich über die Stirn. Ich blickte auf meine Hände herab.

»Ich – ich«, ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Daher sagte ich das, was mir zuallererst durch den Kopf schoß. »Ich l-liebe Cesco, Großvater. Ich werde v-verrückt vor Sehnsucht nach ihm. B-bitte, darf ich ihn sehen?« Er kniff die Lippen zusammen.

»Er ist nicht gut für dich, Junge. Sieh dich doch an!«

»Bitte! Ich will ohne ihn nicht l-leben. Er – ich ...« Ich weinte. Er nahm seinen bitteren Blick nicht von meinem Gesicht.

»Gut!« sagte er barsch. »Gut. Ich will dich nicht quälen. Aber du bleibst hier nicht mehr – du wirst nach Salvok zurückkehren, wenn du wieder gesund bist. Deine Großmutter hält es für das beste, und ich bin inzwischen auch ihrer Meinung.« Meine Tränen versiegten vor Schreck. Zurück nach Hause? Wieder Ställe ausmisten? Oder was immer mein Vater sich jetzt ausdenken würde, um mich für mein Ausreißen zu bestrafen? Lieber würde ich sterben! Karas stand auf und blieb noch einen Augenblick vor meinem Bett stehen.

»Willst du mir noch etwas sagen?« fragte er streng. Ich schüttelte den Kopf. Er nickte enttäuscht und ging.

Ich ahnte nicht, unter welchen Umständen ich meinen Großvater das nächste Mal wiedersehen würde, sonst hätte ich ihn um Verzeihung gebeten und ihm gesagt, wie sehr ich ihn liebte. Ich ließ ihn gehen, in Gedanken nur bei meinem Wiedersehen mit Cesco.

Bis dahin sollte allerdings noch einige Zeit vergehen. In der vierten Herbstwoche durfte ich endlich aufstehen und bekam von Akim, der mich streng überwachte, Bewegung verordnet. Also schleppte ich mich jeden Tag zweimal in den Waffenhof und suchte mir eine abgelegene Ecke, um wieder ein wenig besser in Form zu kommen. Meine frühere schlanke, sehnige Gestalt sollte ich nie wieder zurückbekommen, aber zumindest sah ich nicht mehr ganz so aus wie ein feucht gewordener Sack Mehl – eine der drastischen Bezeichnungen, mit denen mich meine liebevolle Schwester bedachte. Jenka hatte sich angeboten, mit mir zu arbeiten, aber ich lehnte es ab. Ich hatte ihr gegenüber ein zu schlechtes Gewissen.

Es war ein schreckliches Gefühl, es mir mit allen verscherzt zu haben, an denen mir lag. Tom war aus naheliegenden Gründen sehr reserviert, wofür ich im Grunde sogar dankbar war, meine Großmutter sprach nicht mehr mit mir, Karas war tödlich enttäuscht, und Jenka hatte jede Berechtigung, mir zu grollen, denn meine Großmutter hätte sie beinahe aus der Garde geworfen, weil sie Cesco in mein Zimmer gelassen hatte. Sie hatte statt dessen saftige Strafdienste aufgebrummt bekommen, dabei war das alles doch allein meine Schuld gewesen. Ich hatte sie ja förmlich gezwungen, mir zu helfen. Lieber mühte ich mich alleine auf dem Waffenhof ab, als ihr in die zu Recht vorwurfsvollen Augen sehen zu müssen.

Julian und Magramanir hatten sich seit unserem Streit im Hof auch nicht mehr blicken lassen, und Leonie – war Leonie. Aus ihr wurde ich immer noch nicht schlauer als zu Beginn unserer Bekanntschaft. Ich war, schlicht gesagt, ziemlich einsam.

Trübsal blasend saß ich zu Beginn des Winters am Fenster und starrte hinaus. Fast ein ganzes Jahr war ich nun auf der Kronenburg, und zum Frühjahr sollte ich zurück nach Salvok. Cesco ließ sich verleugnen, was ich überhaupt nicht begriff. Großvater hatte mir die Erlaubnis gegeben, ihn aufzusuchen, aber sein Erzieher hatte mich an der Tür abgewiesen, mehrmals, mit dem Hinweis, der Prinz sei beschäftigt oder nicht da. Argwohn und Eifersucht schüttelten mich, daß ich am ganzen Leib bebte, wenn ich an ihn dachte. Was hatte ich ihm getan? War es meine Schuld, daß jemand versucht hatte, mich umzubringen? Wahrscheinlich hatte er begonnen, sich zu langweilen und sich einen anderen Liebhaber gesucht. Wenn ich mir ausmalte, wie er mit einem anderen – ich hätte schreien mögen vor Wut und Eifersucht.

Es klopfte, aber ich rührte mich nicht. Ich hatte keine Lust, mich mit Tom zu unterhalten – und jemand anderes konnte es ja kaum sein. Die Tür knarrte leise, und ich sah mich böse um.

»Oh!« entfuhr es mir entgeistert. Weiche Schritte kamen heran, schmale Hände griffen nach meinen und eine vorwurfsvolle Stimme sagte: »Du wieder ganz mâgre! Du malad noch? Ich wieder geh?«

»N-nein, bei allen Geistern! Cesco!« Ich fiel ihm aufschluchzend in die Arme. »Ich h-habe dich so v-vermißt! Warum hast du mich nicht z-zu dir gelassen?«

»Ah«, sagte er unbestimmt. »Jetzt bin ja da, Ellorran.« Er küßte mich und rieb seine Nase an meinem Hals. Dann hob er seine Hand. Um das Gelenk gewunden trug er die Seidenkordel, die ich ihm geschenkt hatte. »Schau, ich trag«, sagte er fast schüchtern. Ich sah ihn liebevoll an. Er grinste lüstern und fragte: »Â letto?« Ich nickte nur atemlos.

Wir standen dieses Mal nicht bei Morgengrauen auf. Wir standen überhaupt nicht auf. Cesco kicherte über mein Frühstück, er lachte herzlich über mein Mittagessen, und er geriet vor Wonne fast aus dem Häuschen über mein Abendessen.

»Du das essen?« kreischte er und hielt mit spitzen Fingern einen Gemüsestengel hoch. »Keine miraccio, du so mâgre! Ist Futter für Kanin, das!« Er schob mir sein Tablett hin, und mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich all die Leckereien sah.

»Danke, n-nein«, lehnte ich höchst bedauernd ab. Er kicherte und hielt mir ein saucentriefendes Stück Braten vor die Nase. »Komm«, lockte er, »mach auf Mund!« Ich stöhnte und schloß die Augen. Er hielt mir die Nase zu und wartete voller Schadenfreude darauf, daß ich nach Luft schnappen mußte. Ich warf mich auf ihn, daß Tablett, Teller, Becher zu Boden polterten, und verschloß seinen bösen Mund mit meinen Lippen. Er schlug nach mir und zerkratzte mir den Rücken. Wir rollten laut kreischend und lachend übereinander und fielen zu guter Letzt beide aus dem Bett. Kichernd klaubte er eine zerdrückte Kartoffel aus meinen Haaren und steckte sie sich in den Mund.

»Ich liebe d-dich, Cesco.« Er grinste und streckte mir die Zunge heraus. Dann räumten wir, so gut es ging, die Lebensmittel vom Bett und stiegen wieder hinein.

Am nächsten Tag entschuldigte er sich, er wolle etwas aus seinen Gemächern holen. Ich stand auf und nutzte die Gelegenheit, um mich gründlich abzuschrubben und endlich mal wieder meine Haare zu waschen. Dann läutete ich nach einem Diener, damit er das Bett frisch bezog.

Cesco kehrte zurück und bemerkte beides mit entzückt gekrauster Nase. Er drückte sein Gesicht an meinen Hals und murmelte: »Du riech gut, Ellorran. Ganz friesch. Nicht stinkerich wie mir!« Er strahlte und stellte einen Krug Wein auf den Boden. Er duftete verlockend. Dann zog er ein Tütchen aus der Tasche und wedelte damit vor meiner Nase herum. »Rat was!« forderte er mit blitzenden Augen. Ich schüttelte ahnungslos den Kopf. Er öffnete es und ließ vorsichtig ein paar gelbe Körnchen auf seine Hand fallen. Er hielt sie mir hin und grinste. »Traumstaube! Ist gut, besser als Glückskraut!« Ich schüttelte mich und lachte.

»Geh w-weg mit dem Zeug. Du reichst mir völlig aus, da brauch ich nicht auch noch s-so was. Aber von dem Wein darfst du mir g-gerne anbieten, Liebster!«

Wir tranken und liebten uns. Irgendwann war die Kanne leer, und Cesco tappte ins Nebenzimmer. Triumphierend eine zweite Kanne schwenkend, kam er wieder herein. Ich ächzte. »Cesco! Ich b-bin schon betrunken g-genug, wir sollten aufhören.«

»Ah, Pap la pap! Du schon viel oft viel mehr trink!« winkte er ab und setzte kurzerhand die Kanne an meinen Mund. Ich erstickte fast daran und griff nach seinen Handgelenken. Er ließ den Krug nicht sinken, und ich schluckte, keuchte und spuckte. Hilflos schlug ich nach ihm und hörte ihn lachen. Ich trank und hustete, der Wein lief über mein Gesicht und meinen Körper. Er hielt mich unbarmherzig fest, und ich schluckte panisch, um nicht im Wein zu ertrinken. Neben mir stand eine hohe, schweigende Gestalt und sah uns an. Mein Blick verschwamm, und Nebel senkten sich um mich.

Ich stand auf der grauen Ebene, seit langer Zeit zum ersten Mal wieder. Vor mir lauerte ein riesiger, vielbeiniger, sich windender Alptraum in Schwarz und Silber. Ich schrie und griff nach meinem Messer. Dieses Wesen kannte ich, es hatte mich schon einmal fast getötet! Es griff mich an, ehe ich das Messer zu fassen bekam. Ich lag unter ihm, versuchte verzweifelt, es mir vom Leib zu halten, aber es war stärker und schneller als ich. Es drückte mir die Kehle ab, mein Atem wurde knapp, ich keuchte und rang nach Luft. Meine blind umhertastenden Finger bekamen etwas Dünnes, Kräftiges zu fassen – eine Kordel. Ich schlang sie schluchzend um den Hals der Kreatur und zog mit meiner letzten Kraft zu. Sie zappelte und schrie schrecklich menschlich, aber ihre Beine ließen mich nicht los. Endlich konnte ich nach meinem Messer greifen und es aus meinem Gürtel reißen. Schreiend und keuchend stach ich zu. Das Monstrum zuckte zurück, ich riß das Messer aus seinem aufgeblähten Leib. Stinkende schwarze Flüssigkeit schoß heraus und besudelte mich von oben bis unten. Schluchzend und würgend vor Ekel stieß ich wieder und wieder mit dem Messer zu, bis das Wesen sich nicht mehr rührte. Seine Beine zuckten noch einmal, ein letzter stinkender Schwall Blut quoll aus seinem aufgerissenen Maul, und seine unzähligen Augen brachen. Ich schnappte heftig nach Luft und hörte im Ohnmächtigwerden ein höhnisches Lachen.

Es hämmerte gegen die Tür. Stimmen riefen. »Sie ist von innen abgeschlossen!«

»Verdammt, dann brecht sie doch auf. Das hat sich angehört, als würde jemand umgebracht!«

Ich schlug die Augen auf und bemühte mich, meinen Blick zu klären. Das Laken war unangenehm feucht und klebrig, wir mußten ziemlich viel von dem Wein verschüttet haben. Stöhnend richtete ich mich auf und murmelte mit schwerer Zunge: »W-was ist denn da d-draußen los, Cesco?« Er antwortete nicht, und ich drehte mich zu ihm.

»Habt ihr gehört? Da hat schon wieder einer gekreischt!« Die Stöße gegen die Tür wurden heftiger. Ich war aus dem Bett gesprungen, beide Hände in höchster Abwehr von mir gestreckt. Ich war blutüberströmt, aber es schien nicht mein eigenes Blut zu sein. Ich schrie wieder, von Ekel und grausamer Panik geschüttelt. Wer hatte das getan? Wer hatte mir das angetan? Was war das nur für ein Alptraum? Ich sank vor dem Bett zu Boden und schluchzte vor Angst und Grauen. Hinter mir gab die Tür nach. Ein Trupp Soldaten stürmte den Raum. Sie hielten in der Tür zur Schlafkammer jäh an und starrten entsetzt auf das Bett.

»O ihr barmherzigen Götter«, flüsterte einer.

»Holt die Herrin! Sofort!« brüllte ein anderer. Zwei näherten sich mir vorsichtig und zogen mich von dem Bett und dem – Ding – darin fort.

»Ach du meine Güte, der ist ja vollgepumpt bis an die Halskrause«, brummte der eine. »Sieh dir mal seine Augen an. Das muß ja ein tolles Zeug gewesen sein!«

»Ja sicher«, fauchte der andere. »Sieh nur mal, was er mit dem hier gemacht hat!« Der erste würgte.

»Was ist hier los?« brüllte die Stimme meiner Großmutter. »O Göttin, nein!« setzte sie schwach hinzu, als sie näherkam. »O nein, das glaube ich nicht!« Sie trat zu der verstümmelten Leiche auf dem Bett und hob vorsichtig den blutverschmierten Kopf an. Um den Hals, tief eingesunken in die dunkelviolett angeschwollene Haut, schnürte sich die schwarz-goldene Seidenkordel, die Karas mir einst gegeben hatte. Ich sah sie und erbrach mich heftig und krampfhaft, bis nur noch bittere Galle kam.

Eine eisenharte Hand packte mich am Arm und zerrte mich schmerzhaft in die Höhe. Veelora schüttelte mich und schlug mich mehrere Male hart ins Gesicht. »Du«, spuckte sie. »Du Unglück meines Lebens! Ich verfluche den Tag, an dem deine Mutter dich in die Welt gesetzt hat!« Sie hob wieder die Hand, und ich legte schützend den Arm vor mein Gesicht. Sie atmete heftig und keuchend aus und stieß mich zu Boden. »Du widerst mich an«, zischte sie. Sie wandte sich zu den Wachen und befahl: »Steckt ihn unter die Pumpe und wascht ihm das Blut ab. Und dann bringt ihn in eine Zelle. Hier sind seine Kleider, nehmt sie mit. O Göttin, schafft ihn mir endlich aus den Augen!«

Sie zerrten mich auf die Füße, einer der beiden warf mir ein Laken um und schob mich zur Tür. Ich war noch immer nicht bei klarem Verstand, hörte aber doch, wie meine Großmutter noch die Anweisung gab, den Kammerherrn zu wecken. Und ihr bitterer Nachsatz klang mir in den Ohren: »Sagt ihm, der Krieg ist nun wohl nicht mehr zu vermeiden.«

Das eisige Wasser der Pumpe vertrieb einen Teil des Nebels aus meinem Kopf, aber ich fühlte mich dennoch, als beobachtete ich alles, was mit mir geschah, wie aus weiter Ferne. Die Gesichter der Männer, die mich in meine Zelle brachten, wirkten starr und unbehaglich, sie mieden meinen Blick. Die Tür schloß sich hinter mir. Ich fiel auf die harte Holzpritsche und legte den Kopf in die Hände. Unter meinen Fingernägeln klebte angetrocknetes Blut, und ich mußte würgen. Aber mein Magen war leer, ich hatte schon alles von mir gegeben. Violette Augen sahen mich vorwurfsvoll an und eine Stimme flüsterte: »Mî Ellorran.« Ein Weinkrampf schüttelte mich, daß ich zu zerbrechen glaubte. Endlich ließen meine Erschöpfung und die Nachwirkung der Droge mich in einen unruhigen Schlaf sinken.

Ich erwachte mit ausgedörrtem Mund, dem schlimmsten Brummschädel, den ich je in meinem Leben gehabt hatte und dem dumpfen, äußerst unangenehmen Gefühl, daß ich besser weitergeschlafen hätte, weil irgend etwas Gräßliches mich erwartete. Ich sah mich verwirrt um, wußte nicht, wo ich war. Der Raum, in dem ich lag, war winzig und kahl; er enthielt an Mobiliar nichts weiter als die Pritsche, auf der ich lag, und eine Waschgelegenheit in der Ecke. Ich quälte mich auf die Beine und wankte zur Tür. Der Steinboden fühlte sich an meinen bloßen Füßen eisig kalt an. Ich suchte vergebens nach einer Türklinke, und drückte dann gegen das dicke Holz. Die Tür bewegte sich nicht, und als ich dagegenklopfte und rief, bekam ich von draußen keine Antwort. Fröstelnd schlug ich die Arme um mich und dachte nach. Was war das letzte, an das ich mich erinnerte? Cesco hatte die zweite Kanne Wein hereingeholt – der Hund, er mußte diesen verdammten Traumstaub hineingemischt haben! Kein Wunder, daß ich mich so elend fühlte. Da war doch noch etwas gewesen, ein grauenhafter Alptraum. Ein spinnenähnliches Monstrum, gegen das ich gekämpft hatte, es schüttelte mich, wenn ich daran dachte. Aber das war doch nicht alles – und wie kam ich überhaupt hierher? Und wo, bei allen bösen Geistern, war dieses ›Hier‹? Stöhnend sank ich auf die Pritsche und fuhr mir durchs Gesicht. Meine Fingernägel waren schmutzig, es sah aus, wie ...

Die Erinnerung traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich konnte nichts anderes tun als schreien. Es war, als könnte ich nie wieder damit aufhören. Ich würde hierbleiben, bis ich starb und schreien, schreien, schreien. Hände schüttelten mich und gaben mir zwei unsanfte Ohrfeigen.

»Elloran, reiß dich zusammen!« ermahnte mich meine Schwester scharf. »Mit deiner Brüllerei änderst du jetzt auch nichts mehr. Himmel, du reitest dich ja von einer Klemme in die nächste! Du dummes Kind!« Sie zog mich an sich und wiegte mich in ihren Armen. »Was machen wir jetzt nur?« murmelte sie. Sie hörte sich an wie Leonie.

Ich hob mein nasses Gesicht von ihrer Schulter und fragte kläglich: »Was geschieht jetzt mit mir? Werden sie mich hinrichten?« Sie schwieg. Ich packte sie an der Schulter. »Bitte, das dürft ihr nicht zulassen! Ich will nicht sterben, ich will nicht!«

Sie löste sanft den Griff meiner klammernden Finger und hielt meine Hand fest. »Leonie versucht, dir zu helfen«, sagte sie mit einem hoffnungslosen Unterton in der Stimme. »Aber sie ist im Augenblick auch in keiner allzu angenehmen Lage. Karas und Veelora glauben, daß sie die Krone verraten hat. Wahrscheinlich kann sie froh sein, daß sie nicht deine Nachbarzelle bewohnt. Aber das wagen sie wohl doch nicht. Noch nicht.« Ich wischte mir die Augen. Leonies Probleme kümmerten mich in meiner Lage eher weniger. Ich war sicher, daß sie mich hinrichten würden. Würden sie mich köpfen lassen oder hängen? Oder – mir lief es kalt über den Rücken – würden sie mich hier einfach verhungern lassen?

»Also wirklich – du denkst immer nur an dich!« schalt meine Schwester. »Hast du auch nur eine Sekunde mal an den Jungen gedacht, den du umgebracht hast? Und daran, was du Veelora und Karas damit angetan hast? Daß du daran Schuld bist, wenn es jetzt doch Krieg gibt? Wirklich, manchmal könnte ich dich ...« Ihre zornige Stimme verklang, sie war fort.

»Geh nicht weg, laß mich nicht allein!« flehte ich jämmerlich. Meine Stimme hallte von den kahlen Wänden wider, ich war allein in der Zelle. Und das blieb ich auch, lange, lange. Essen und Wasser wurden morgens durch eine Klappe in der Tür hereingeschoben, ich sah nie, wer es mir brachte, und niemand sprach je mit mir. Ich lag auf der Pritsche, ich wanderte in der Zelle auf und ab – vier Schritte hin, vier Schritte her – und bereitete mich auf meinen Tod vor. Wenn ich die Augen schloß, sah ich Cescos Gesicht und hörte seine Stimme. Im Laufe der Zeit veränderte sich der Anblick, und ich sah das, was ich in meiner Raserei aus ihm gemacht hatte: Ich sah das Bett vor mir, die blutbespritzten Laken, den einst so schönen und jetzt von Messerstichen, Zähnen und Fingernägeln zerfetzten, verstümmelten Leib meines Geliebten, die büschelweise ausgerissenen Haare, sein dunkel angelaufenes Gesicht mit den blutig herausquellenden Augen und der fast schwarzen Zunge, die aus seinem aufgerissenen Mund hing – ich fand keinen Schlaf mehr. Ruhelos wanderte ich durch die winzige Zelle, und wenn mir die Augen zufielen, riß ich sie wieder auf, kniff mich in den Arm, biß in meine Hand, schlug die Stirn gegen die rauhen Mauersteine; tat alles, um wachzubleiben. Natürlich gelang es mir nicht, aber der Schlaf, der mich überkam, war wenig dazu geeignet, mich zu erfrischen. Schreiend erwachte ich aus meinen Träumen, und alles begann von vorne. Ich begann, den Tod herbeizusehnen: alles erschien mir wünschenswerter als diese endlose Marter.

Ich zählte die Tage nicht mehr. Manchmal erschien es mir, als hätte ich die meiste Zeit meines Lebens eingesperrt verbracht: im Arbeitshaus, in meinem Zimmer, in dieser Zelle. Ich hörte auf herumzulaufen. Ich lag auf der Pritsche, starrte an die Decke und hörte auf zu denken.

»He, du hast Besuch.« Ein Finger stupste mich in die Seite. Ich wandte ungläubig den Kopf. »Rück ein Stück«, sagte sie und setzte sich neben mich. »Also, das hier soll ich dir von Leonie geben.« Ein Brief und ein in Papier gewickeltes Päckchen lagen in meiner Hand. Regungslos starrte ich beides an. Sie seufzte ungeduldig. »Nun mach's schon auf!« forderte sie. Ich wickelte das Papier ab und schrie auf. Voller Ekel schleuderte ich die blutbefleckte Kordel von mir und hielt mir die Augen zu.

»Ach, du machst mich fertig«, stöhnte meine Schwester. Ich hörte sie aufstehen und über den Boden tappen. Dann setzte sie sich wieder zu mir und machte sich an meinen Haaren zu schaffen. Ich wehrte mich; versuchte, ihre Hände fortzuschlagen. Sie gab mir einen festen Klaps und drohte: »Wenn du nicht ruhig hältst, wickele ich dir das Ding um den Hals und ziehe zu! Leonie will, daß du sie trägst – und ich kann dir nur raten, zu tun, was sie verlangt. So, das hält. Jetzt lies den Brief.« Mit zitternden Fingern öffnete ich ihn und entzifferte die wenigen Zeilen. Verständnislos blickte ich meine Schwester an.

»Aber was soll das? Ich verstehe nicht, was sie mir damit sagen will.« Sie stand auf und legte ihre Hände um mein Gesicht.

»Du wirst es bald verstehen«, sagte sie sanft. »Sehr bald.« Sie küßte mich auf den Mund und verschwand. Ich blickte auf den Brief nieder und las ihn erneut.

Mein liebes Kind, las ich, Nikal hält sich in Sturmhaven auf. Sei sehr vorsichtig, sie werden nach dir suchen. Vertraue niemandem. Wenn du deine Sache gut machst, sehen wir uns wieder. Leonie