11

Ich erwachte in aller Frühe und wußte für kurze Zeit nicht, wo ich war. Dann kehrte meine Erinnerung an den gestrigen Tag zurück, und plötzlich war ich von Tatendrang erfüllt. Ich sprang aus dem Bett, gönnte mir eine flüchtige Wäsche und stieg in meine neuen Kleider. Sie paßten wie angegossen. Ich blickte an mir herunter und betrachtete wohlgefällig meine ungewohnte Erscheinung. Jacke und Hose bestanden aus einem weichen dunklen Wollstoff, und das Hemd trug sogar eine bescheidene Andeutung von Spitzen am Kragen und an den Manschetten. Ich band mein Haar zurück und trat auf den Gang. Heute gelang es mir glücklicherweise, ohne längere Umwege zum Speisesaal zu finden. Ich ließ mir ein kräftiges Frühstück schmecken – die Verpflegung der Dienerschaft hier in der Kronenburg war wirklich königlich zu nennen – und suchte mir dann den Weg zur Schreibstube.

Meister Rowald nickte mir freundlich zu und wies auf den Platz, den ich auch gestern innegehabt hatte. Mein Nachbar war noch nicht da, ich hatte mich also anscheinend an meinem ersten richtigen Arbeitstag nicht verspätet. Mit Eifer machte ich mich ans Werk. Die zu kopierenden Schriftstücke besaßen nicht mehr Reiz als die vom vergangenen Nachmittag, aber ich trug es mit Fassung. Gewissenhaft schnitt ich mir einen frischen Gänsekiel zurecht, linierte mit der Nadel das gelbliche Papier und bedankte mich im Geiste bei Julian und seiner Geduld, mit der er einem zappeligen Schüler diese nützlichen Fertigkeiten beigebracht hatte.

Meister Rowald machte seine Runde durch die Schreibstube und blieb neben mir stehen. Ich sah fragend auf – und er nickte mir aufmunternd zu. »Schön, sehr schön«, murmelte er und ging weiter. Das sollten auch die einzigen Worte bleiben, die er für die nächsten Tage an mich richtete. In der Schreibstube wurde wenig gesprochen. In dieser Umgebung konnte ich sogar für einige Stunden meine eigene Stummheit vergessen.

Die wurde mir erstmals wieder schmerzlich ins Bewußtsein gerufen, als ich abends im Speisesaal saß und eine Suppe löffelte. Drei meiner Kollegen traten an meinen Tisch und fragten, ob sie sich zu mir setzen dürften. Ich nickte und machte eine einladende Handbewegung. Eine Zeitlang aßen wir schweigend, dann wandte sich mein freundlicher Pultnachbar zu mir und sagte höflich: »Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt: mein Name ist Bartold, und diese beiden sind Jord und Massim.« Die Vorgestellten nickten mir lächelnd zu; groß, blond und massig der eine, der andere klein und fast vollständig kahl. Bartold, dunkelhäutig wie ein Olysser, sah mich erwartungsvoll an, und ich tauchte seufzend einen Finger in meine Suppe und schrieb Elloran auf den Tisch. Drei Augenpaare starrten erst gebannt auf den mit kleinen Nudeln und einem Zwiebelstückchen garnierten Schriftzug und dann betreten auf mich.

»Oh«, sagte Bartold betroffen. Danach herrschte eine peinliche Schweigeminute, bevor alle drei gleichzeitig zu sprechen begannen. Ich löffelte meine Suppe weiter und bemühte mich um eine nüchterne Miene. Die drei Schreiber taten zwar unbefangen, aber ihr Unbehagen war deutlich zu spüren. Schon bald ging ihre Unterhaltung über mich hinweg, als wäre ich ein am Tisch vergessenes Kleidungsstück. Mir war der Appetit vergangen. Ich nahm meinen halbgeleerten Napf und stand auf. Drei flüchtige, erstaunte Blicke trafen mich, und ich nickte einen Gruß. Ich verließ den heißen, lauten Saal und verspürte das dringende Bedürfnis nach etwas frischerer Luft. Vielleicht konnte ich den kleinen Innenhof ausfindig machen, auf den meine Kammer hinausblickte. Ich trat aus dem Gebäude und versuchte, mich zu orientieren. Wenn ich um diese Ecke hier ging und durch jene Tür dort wieder in das Haus hinein ... Ich stiefelte los, meinen Atem als weißen Hauch vor dem Mund. Die trübe Luft roch nach Schnee. Auf dem Vorhof war wenig Betrieb, bei diesem feuchtkalten Wetter hielten sich die Burgbewohner anscheinend lieber drinnen auf.

Ich erreichte die Tür, durch die ich in den Innenhof zu gelangen glaubte und öffnete sie. Wieder stand ich in dem Trakt des Gebäudes, in den ich mich schon einmal bei der Suche nach meinem Zimmer verlaufen hatte. Weiche Teppiche in dunklen, satten Farbtönen lagen auf dem Steinboden, und helle Stoffe bespannten die Wände. Ich zögerte am Eingang, unsicher, ob es mir erlaubt war, hier einzutreten. Vor mir öffnete sich eine Tür, und ich blickte auf den Rücken eines in einen grauen Mantel gekleideten Mannes, der sich von jemandem verabschiedete. Er drehte sich um, und ich erkannte den Kammerherrn. Er sah mich verwirrt an und schien darüber nachzugrübeln, woher er mich kannte. Dann schloß er die Tür und humpelte auf mich zu. Ich wich einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen, aber er blieb vor mir stehen und sah zu mir auf.

»Wolltest du zu mir, junger Mann?« fragte er. Ich verneinte überrascht. Er ging zur Tür hinaus in den Hof und bedeutete mir, ihm zu folgen. Gehorsam trottete ich neben ihm her auf den Palas zu. »Und, hast du dich schon etwas eingelebt?« Er schien fest entschlossen, Konversation zu betreiben. Fast verzweifelt nickte ich wieder. »Meister Rowald ist sehr zufrieden mit dir«, fuhr er fort. »Wärest du daran interessiert, eine feste Anstellung als Schreiber der Krone zu erhalten?« Wir erreichten die Freitreppe, und ich blieb stehen. Milde erstaunt drehte Karas sich zu mir um und hob fragend eine Augenbraue. Ich sah in sein rundes, liebenswürdiges Gesicht und mußte unwillkürlich lächeln. Er lächelte zurück und begann, die endlos hohe Treppe zu erklimmen. Da der Aufstieg seinem lahmen Bein sichtlich Schmerzen bereitete, ergriff ich ihn unaufgefordert am Ellbogen und half ihm. Er sagte nichts, aber als wir oben angelangt waren, tätschelte er kurz meine stützende Hand, bevor ich sie hastig und verlegen zurückzog. Er wischte sich heftig nach Luft ringend mit einem zarten Tüchlein den Schweiß vom geröteten Gesicht; sein Atem ging schwer und mühsam.

Unseren weiteren Weg legten wir sehr viel langsamer und schweigend zurück. So fand ich genügend Muße, mich gründlich umzusehen. Das prächtige Äußere der Burg fand hier im Inneren des Palas seine Entsprechung. Der Boden der Großen Halle, die wir durchquerten, war spiegelnder rötlicher Marmor aus S'aavara, und die hohen Säulen, die das Dach trugen, bestanden aus schwarzem olyssischen Glimmergranit. Die Halle war festlich geschmückt. Von ihrer im Dämmerlicht unsichtbaren Decke hingen rundum die Banner der Edlen des Reiches. Ich suchte nach dem Wappen der Herrin von Kerel Nor und fand es links neben dem leeren Thronsitz: Ein gelber Falke auf dunkelrotem Grund, in den Fängen drei Weizenähren und einen silbernen Fisch. Das Banner war gesenkt, zum Zeichen, daß die Hand der Krone zur Zeit nicht bei Hofe weilte.

Ich mußte wohl doch etwas zu auffällig auf das Banner meiner Großmutter geblickt haben, denn Karas blieb stehen und sah ebenfalls dorthin. »Das Wappen der Herrin von Kerel Nor«, erklärte er überflüssigerweise und wischte sich, offensichtlich dankbar für die Pause, wieder mit seinem albernen, kleinen Tüchlein über die fülligen Wangen und den feisten Nacken. Sein Atem hatte sich inzwischen beruhigt, und er setzte zu weiteren Erklärungen an. »Rechts vom Thron siehst du das Banner der linken Hand der Krone: das der Obersten Maga, Meisterin über alle Zauberer in diesem Teil der Welt.«

Ich sah staunend hin: Das schwer und steif herabhängende Tuch war von tiefster mitternächtlicher Schwärze, ohne jedes Zeichen darauf, das die makellose Fläche unterbrochen hätte. Es warf einen drohenden Schatten auf den schlichten, dunklen Thron, auf dessen violetten Polstern wie vergessen ein schmaler eiserner Stirnreif lag.

Karas setzte sich wieder in Bewegung. Ich folgte ihm hinaus aus der Großen Halle. Nach einigen Minuten kamen wir in einen weniger prächtig ausgestatteten Teil des Palas. Dort öffnete der Kammerherr einladend eine Tür und ließ mich eintreten. Der Raum, in den wir gelangten, war klein und gemütlich, seine Einrichtung erschien mir nach all dem Glanz des Palas sogar ein wenig schäbig. Offensichtlich hatte Karas mich in seine Privatgemächer geführt.

Er entledigte sich nun leise ächzend seines Mantels und des schlichten Wamses und stand in seiner ganzen Körperfülle nur in dünnem Hemd und Hose vor mir. »Mach es dir bequem, Elloran, ich bin gleich wieder bei dir«, befahl er und verschwand durch eine andere Tür in einen Nebenraum. Ich hockte mich steif auf die Kante eines gepolsterten Stuhles neben dem kleinen Tisch und bemerkte mit Unbehagen, daß dieser vielbeschäftigte Kammerherr der Krone sich sogar meinen Namen gemerkt hatte. Was folgte wohl nun? Würde ich meine Anstellung bei Hofe etwa durch Liebesdienste zu bezahlen haben? Ich wappnete mich für diese Möglichkeit, fest entschlossen, dem Kammerherrn nicht zu Gefallen zu sein, auch wenn das bedeutete, wieder ins Arbeitshaus zurückkehren zu müssen.

Karas trat wieder ein, die rundliche Figur in einen abgetragenen, dunklen Schlafrock gehüllt. Sein Hinken war deutlicher als zuvor, und er wirkte erschöpft. Aus einem kleinen Schränkchen holte er einen Krug und zwei Becher heraus. Er reichte mir einen der gefüllten Becher und trank mir mit einem Zwinkern zu, bevor er sich auf einen durchgesessenen kleinen Diwan sinken ließ. Ich probierte einen kleinen Schluck von dem schweren, dunklen Wein und nickte anerkennend. Bei aller äußerlichen Bescheidenheit legte der Kammerherr offensichtlich doch Wert auf Luxus, was die leiblichen Genüsse betraf – was man ihm ja auch durchaus ansah. Genüßlich und für einen Augenblick sogar entspannt leerte ich meinen Becher. Der Kammerherr trank schweigend und ließ mich dabei nicht aus den Augen. Dann griff er nach dem Krug und schenkte uns beiden nach. Unsicher erwiderte ich seinen Blick und erwartete jeden Augenblick ein eindeutiges Angebot.

Aber er überraschte mich erneut. Er stellte seinen Becher beiseite und schob einige Bögen Papier und Schreibzeug zu mir hinüber. »Kannst du auch nach Diktat schreiben?« fragte er. Ich atmete erleichtert auf und nickte, ein wenig beschämt wegen meines offenbar grundlosen Verdachtes. Der Kammerherr lehnte sich in die Kissen zurück und schloß für eine Weile die Augen. Dann begann er in flottem Tempo zu diktieren: einen Brief an Veelora Rhiantochter, Herrin von Kerel Nor, Hand der Krone und zur Zeit Sonderbotschafterin der Kronstaaten am Hof Seiner Erhabenheit des maior T'jana von S'aavara.

Sollte ich ihm eröffnen, daß ich der Enkel der Frau war, an die er schrieb? Meine Feder stockte für einen Augenblick. Er schien es zu bemerken, denn er öffnete seine Augen, um mir einen fragenden Blick zuzuwerfen. Ich sah ihn hilflos an und senkte dann meinen Blick, um weiterzuschreiben. Nur zu gut erinnerte ich mich an das höhnische Lachen des Wachoffiziers, der mich ins Arbeitshaus geschickt hatte. Ich konnte kaum damit rechnen, bei einem Kammerherrn der Krone auf größere Leichtgläubigkeit zu stoßen, auch wenn meine so unglaubwürdig klingende Geschichte völlig der Wahrheit entsprach.

Karas diktierte mir einen langen, in persönlichem Ton gehaltenen Brief, in dem die Besorgnis der Krone über die angespannte Lage mehr als deutlich wurde. Die Krone beschwor ihre Botschafterin, alles in ihren Kräften Stehende zu versuchen, um den drohenden Krieg abzuwenden und gab ihr zu diesem Zweck ausdrücklich vollständig freie Hand. Mir schwindelte vor der Macht, die meine Großmutter in Händen hielt. Mir war nie zuvor so deutlich bewußt geworden, was es hieß, die rechte Hand eines der mächtigsten Herrscher dieser Welt zu sein.

Nach den formellen Grußzeilen der Krone schloß Karas noch ein weiteres Schreiben in seinem eigenen Namen an, und ich stellte, während ich es niederschrieb, fest, daß er und Veelora sich wohl recht nahestehen mußten.

» ... höre also einmal auf deinen alten Karas, liebste Veela, und sieh zu, daß du mit heiler Haut hierher zurückkehrst. Es grüßt dich in alter Verbundenheit, dein ...« Er ließ sich meine Feder geben und unterzeichnete schwungvoll. 

Dann stieß er die Feder in das Tintenfäßchen zurück, legte den zweiten Brief beiseite und griff nach einer Stange Siegellack. Er erhitzte ihn über einer Kerze und ließ etwas davon auf das zusammengefaltete Schreiben der Krone tropfen. Dann zog er den Siegelring von seinem kleinen Finger und drückte ihn in den heißen Lack. Ich sah den Verrichtungen gebannt zu. Inzwischen dämmerte mir, daß dieser kleine, dicke Mann in der Hierarchie des Hofes an recht hoher Stelle stehen mußte: Er diktierte Briefe im Namen der Krone und trug das persönliche Siegel der Krone am Finger.

Karas blickte auf und sah mich nachdenklich an. Dann griff er wieder nach dem zweiten Schreiben und schob es zu mir hinüber. Ich erwartete einen Nachsatz, aber er mußte wohl noch darüber nachdenken. Schwerfällig stand er auf und hinkte an mir vorbei zum Fenster. Er öffnete es einen Spalt und zog die schweren Vorhänge vor. Dann, noch immer mit dem Rücken zu mir, sagte er: »Möchtest du nicht auch noch ein paar Zeilen hinzufügen?« Ich saß wie erstarrt. Er kam zurück zum Tisch, wobei er mir flüchtig eine weich gepolsterte Hand auf den Rücken legte, und füllte dann erneut unsere Becher. Er hob den seinen hoch und trank mir zu. Seine wässrigen Augen blinzelten verschmitzt.

»Meister Rowald hat mir einen Brief gezeigt, den ein Junge aus dem Arbeitshaus der domna Veelora senden wollte.« Ich hatte nicht mit Spott gerechnet und war selbst überrascht, wie sehr er mich damit traf. Blutrot übergossen stand ich auf und verbeugte mich steif, um zu gehen.

»Ach, setz dich um Himmels willen, setz dich wieder hin!« befahl er mit einem ungeduldigen kleinen Winken. »Du hast doch deinen Wein noch gar nicht ausgetrunken.«

Notgedrungen nahm ich wieder Platz. Er trank einen kleinen Schluck und ließ mich nicht aus den Augen. Warum starrte er mich nur die ganze Zeit so an? Kam jetzt vielleicht doch noch die Szene auf mich zu, die ich vorhin befürchtet hatte? Ich schluckte nervös mein Getränk herunter und schielte nach der Tür.

»Du bist Veeloras raulikanischer Enkel, der Junge aus Salvok, richtig?« Mein Kopf fuhr herum, und mein Mund klappte auf. Er sah mich noch immer unverwandt an. »Sie hat allerdings nie erwähnt, daß er stumm ist«, setzte er nachdenklich hinzu. Eine lange, unbehagliche Pause folgte, in der ich ihn mit verzweifelter Hoffnung ansah. Karas saß völlig entspannt da, das Doppelkinn auf die Brust gesenkt. Seine Augen waren geschlossen, er schien eingenickt zu sein. Der Becher in seiner Hand neigte sich bedenklich zur Seite, und etwas von dem Wein schwappte heraus. Dann plötzlich öffnete er die Augen wieder, setzte sich entschlossen auf und stellte den Becher mit einem heftigen Knall ab.

»Also, Elloran, du bleibst einstweilen in der Schreibstube. Bei unserer Personalknappheit brauchen wir jede Hilfe, die wir bekommen können, gerade in dieser angespannten Lage. Aber du wirst in den Palas umziehen, ich lasse dir ein Zimmer hier in meiner Nähe zuweisen. Du bekommst angemessene Kleidung und ein gutes Taschengeld zusätzlich zu deinem Schreiberlohn, und deine Mahlzeiten nimmst du künftig mit den andern Höflingen ein. Das ist das mindeste, was ich für Veeloras Enkel tun kann.«

Ich starrte ihn fassungslos an. Was konnte diesen Mann bewogen haben, mir so ohne weiteres Glauben zu schenken? Er stand auf und legte mir seine weiche Hand auf die Schulter. Ich erhob mich verlegen. Er blinzelte mit so etwas wie Rührung in seinen Augen zu mir auf.

»Du siehst deiner Großmutter ein wenig ähnlich«, sagte er wie zur Erklärung. Dann hob er die Hand, um ein Gähnen zu verdecken, und schob mich zur Tür. »Ich möchte, daß wir morgen ein kleines Abendessen zusammen einnehmen.« Er gähnte wieder, daß ihm das Wasser in die Augen schoß. »Ich schicke dir einen Diener, der dich abholt. Bis dahin ist auch dein neues Quartier bereit, bring also deine Sachen mit. Gute Nacht, mein Junge.« Er schloß die Tür hinter mir, und ich stand überrascht in dem dämmrigen Gang. Den Rückweg mußte ich so selbstverständlich wie eine Brieftaube gefunden haben, denn die Gedanken, die durch meinen weinbenebelten Kopf schwirrten, beschäftigten sich mit allem anderen, nur nicht damit, wohin ich meine Füße setzte.

Endlich in meinem Zimmer angelangt, ließ ich mich auf das schmale Bett fallen und atmete tief durch. Mit einer solchen Entwicklung hatte ich im Traum nicht gerechnet. Ich fühlte mich euphorisch und angenehm betrunken. Der Kammerherr erkannte mich als Enkel der Herrin von Kerel Nor an und nahm mich unter seine Fittiche! Was wollte ich eigentlich mehr? Morgen abend würde ich sogar mit ihm speisen. Sicher konnte er mir auch dabei helfen, diese Leonie zu finden, die mir laut Julian meine Sprache wiedergeben würde! Mit lauter angenehmen Gedanken über eine glanzvolle Zukunft bei Hofe schlief ich schließlich ein.

Tief in der Nacht erwachte ich, weil sich jemand in meinem Zimmer befand. Ich hatte nicht bemerkt, daß die Tür sich geöffnet hatte, aber ich spürte deutlich eine fremde Gegenwart in meiner Nähe. Schlaftrunken und erschreckt richtete ich mich auf und erblickte eine weißschimmernde, große Gestalt, die reglos und schweigend am Fußende meines Bettes stand und mich ansah. Als sie sah, daß ich wach war, kam sie näher und trat dabei in das weiche Mondlicht der hoch am Himmel stehenden Großen Schwester, das durch mein kleines Fenster fiel. Ich atmete heftig ein, und griff nach ihr, um mich zu vergewissern, daß sie wirklich in Fleisch und Blut vor mir stand, aber sie wich meiner Hand aus. Ihr rotes Haar leuchtete wie eine Flamme, und ihre Augen waren Pfützen der Nacht in dem bleichen, stillen Gesicht. Verzweifelt versuchte ich, meiner Kehle Worte zu entringen; flehend sah ich sie an. Sie schien ebenso mit Stummheit geschlagen zu sein wie ich. Der Ausdruck ihres Gesichtes war eigenartig leer und unbewohnt. Sie wirkte wie eine Schlafwandlerin oder eine Geisteskranke. Ich schwang die Beine aus dem Bett, fest entschlossen, sie zu berühren. Sie wich an die Wand zurück und hob abwehrend ihre schmalen Hände. Eine in schimmernde Schwärze gekleidete Gestalt trat plötzlich zwischen uns. Sie hüllte die weiße Erscheinung vor mir in fließende Dunkelheit und wandte sich mit ihr zur Tür. »Es ist noch zu früh, Elloran«, flüsterte die schwarze Gestalt tonlos. »Sei geduldig.«

Ich fand mich bei trübem Tageslicht auf meinem Bett wieder: mit pochendem Kopf und vor Trockenheit scheuernden Augenlidern und einem Mund so ausgedörrt wie eine Wasserlache in sommerlicher Mittagsglut. Mit möglichst sparsamen Bewegungen, um mein anscheinend lose durch den Schädel schwappendes Hirn zu schonen, zog ich mich an und wankte in den Speisesaal der Dienerschaft – zum wahrscheinlich letzten Mal, wie mir mit plötzlichem Triumph bewußt wurde. An diesem Morgen begnügte ich mich zum Frühstück mit einer Portion salzigem Maisbrei und einem großen Becher Kräutertee, der wehmütige Erinnerungen an Jemaina in mir wachrief.

Der Tag verging wie im Nebel. Meister Rowalds Blick ruhte dann und wann sanft verwundert auf mir, aber er sprach mich nicht an. Ich kopierte die üblichen langweiligen Depeschen und Aktennotizen und versuchte, meine Ungeduld zu zügeln. Die mittägliche Pause verbrachte ich nicht im Speisesaal, sondern zog mich mit einer Handvoll Nüsse und Sämereien in eine Fensternische des menschenleeren Obergeschosses zurück und blickte, während ich Erdnüsse knackte und Sonnenblumenkerne schälte, träumerisch auf einen der unzähligen Höfe dieses verwinkelten Baus hinunter.

Der Nachmittag dehnte sich wie eine einsame Nachtwache. Endlich gab Meister Rowald uns das Zeichen zum Beenden unserer Arbeit. Ich reinigte in ungeduldiger Hast meine Schreibwerkzeuge. An der Tür hüstelte jemand, und ich erblickte das mißgelaunte Gesicht des Lakaien, der mich auch an meinem ersten Tag zu meinem Quartier geführt hatte.

»Ich habe Anweisung, den Schreiber Elloran zum Kammerherrn zu bringen«, näselte er, als Rowald ihn fragend ansah. Ich hörte, wie meine Kollegen zu tuscheln begannen und verbiß mir ein zufriedenes Grinsen. Ich räumte meine Federn fort und stand auf. Der Lakai hielt mir mit verkniffenem Gesicht die Tür auf, und ich schritt hocherhobenen Hauptes hindurch. Wir gingen an meiner Kammer vorbei, wo ich mein schmales Bündel aufnahm und ohne Abschiedsblick den kleinen Raum für immer verließ.

Das schlichte Quartier des Kammerherrn war gedämpft beleuchtet und leer. Der Lakai ließ mich eintreten und schritt dann an mir vorbei zu der zweiten, in einen Nebenraum führenden Tür, an die er leise anklopfte. Ich sah auf den kleinen Tisch nieder, der festlich mit edlem Geschirr gedeckt war. Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Unbehaglich rief ich mir im Geiste all die kleinen, zufällig wirkenden Gesten zurück, mit denen mich der Kammerherr gestern abend immer wieder berührt hatte. Ich atmete tief und zitternd ein und entschied, die Sache auf mich zukommen zu lassen. Vielleicht war dies der bescheidene Preis, den ich für seine Protektion zu zahlen hatte.

Der Lakai trat zu mir und zog meinen Sessel zurück. Nachdem ich mich gesetzt hatte, schenkte er hell funkelnden, grünen Wein aus einer geschliffenen Karaffe in zwei ebenso kostbare Kristallgläser und zog sich schweigend neben die Eingangstür zurück. Die innere Türe öffnete sich, und der Kammerherr trat ein. Ich wußte nicht genau, was ich eigentlich erwartet hatte, aber zu meiner Erleichterung trug er seine ganz gewöhnliche Kleidung: eine schlichte dunkelgraue Hose mit blendend weißen Strümpfen darunter, ein weitärmeliges Hemd mit geöffnetem Kragen und eine silbergraue lange Weste, die sich über seinem runden Bauch leicht spannte. Als einziger Schmuck seiner unauffälligen Erscheinung saß ihm der schwarz-goldene Siegelring der Krone an der Hand und – was mir zum ersten Mal auffiel – ein kleiner Reif aus dünnem Silberdraht in seinem linken Ohrläppchen.

Höflich stand ich auf, als er eintrat. Er winkte mir, ich möge mich wieder setzen, und nickte dem Lakaien auffordernd zu, der sich knapp verbeugte und lautlos den Raum verließ. Karas setzte sich mir gegenüber und hob mir das Weinglas entgegen. Ich erwiderte den Salut und nippte an dem kühlen Getränk. Karas hielt das Glas genießerisch an seine Nase und atmete mit halbgeschlossenen Augen den Duft des Weines ein, bevor er mit gespitztem Mund einen kleinen Schluck davon nahm.

»Ein Geschenk der Götter«, sagte er gedämpft. »Das ist Schneewein aus dem höchsten Norden von Nisgard. Auf der ganzen Welt gibt es davon vielleicht vier oder fünf Fässer – und drei von ihnen befinden sich hier, in der Kronenburg, im Königlichen Weinkeller. Genieße ihn also mit angemessener Andacht, mein lieber Junge!« Das tat ich. In meinem Leben hatte ich noch nie ein solches Aroma gekostet: die Göttin selbst würde nichts Besseres zu ihrer Erfrischung finden können als diesen süß-herben, pfirsichduftenden, leicht prickelnden Trank. Vor Wonne seufzend, trank ich erneut davon.

Karas beobachtete mich wohlwollend. Er legte eine Hand auf meine und fragte: »Bist du zufrieden, mein Kind?« Ich nickte mit leiser Verlegenheit. Lautlos öffnete sich die Tür, und der Lakai trat ein als Vorhut einer Schar von Köchen und Küchenhelfern mit Tabletts voller zugedeckter Schüsseln und Gerätschaften. Karas ließ hastig meine Hand los und winkte seinem Diener zu, er möge beginnen.

In den nächsten Minuten herrschte emsige Geschäftigkeit in dem kleinen Raum. Weißgekleidete Gestalten wirbelten um uns herum, und der Tisch belud sich in Windeseile mit allerlei köstlich riechenden und wunderbar anzusehenden Leckereien. Endlich, als die Tischplatte sich unter der Last all dieser Köstlichkeiten sanft zu biegen begann, winkte der Lakai die Köche hinaus und wartete selbst, während das Zimmer sich leerte, auf weitere Anweisungen seines Herrn. Karas dankte ihm und sagte: »Du kannst uns jetzt allein lassen, Mikel. Wir bedienen uns selbst. Ich läute nach dir, wenn ich etwas benötige.«

Der Lakai verbeugte sich tief und schloß die Tür. Karas blickte auf den Tisch nieder und rieb sich in Vorfreude die Hände. »Es gibt nicht viel, was einem alten Mann wie mir noch Freude macht«, sagte er. »Aber dies hier ist doch eines der schönsten und verläßlichsten Vergnügen.« Er legte mir ein goldbraun geröstetes Täubchen auf den Teller und wies einladend auf die Schüsseln mit dicker Sahne, glasierten Maronen, zart gedünsteten Karotten und was der Genüsse mehr waren. Ich ließ mich nicht zweimal bitten und belud, seinem Beispiel folgend, meinen Teller. Karas aß hingebungsvoll und schweigend und schenkte mir immer wieder mein Glas voll. Endlich – ich hatte schon lange nicht mehr mit ihm mithalten können und naschte nur noch ein wenig an einem köstlichen, sahneüberzogenen Beerenkompott herum – wischte er sich mit einem parfümierten Tuch das Fett von Wangen und Kinn und ließ einen zarten, wohlerzogenen Rülpser hören. Dann seufzte er befriedigt und schob seinen Teller beiseite.

»Wie steht es, möchtest du einen Mokka trinken?« fragte er und griff nach der Klingelschnur. Ich zuckte fragend mit den Schultern. Dieses Getränk war mir nicht bekannt, aber mir sollte alles recht sein, was mich nicht noch mehr benebelte. Der Wein war mir schon wieder heftig zu Kopf gestiegen, und es wurde mir mit einem Mal sehr warm. Karas blickte mich lächelnd an, öffnete dezent die Knöpfe seiner etwas zu engen Weste und schlug vor, ich möge mich doch meiner warmen Jacke entledigen. Dankbar folgte ich seinem Rat und schälte mich aus der Wollhülle. Der Diener Mikel trat leise ein und wartete.

»Mikel, laß doch bitte abräumen und richte dem Ersten Koch meinen tiefempfundenen Dank aus. Er hat sich wieder selbst übertroffen. Wenn er uns jetzt noch seinen wunderbaren S'aavaranischen Mokka kredenzen könnte, verleihe ich ihm einen Orden, sage ihm das.« Schweigend ging Mikel hinaus. Kurz darauf schwärmte die Schar der Küchenhilfen wieder herein und räumte die leeren Schüsseln und Teller fort. Die Tür schloß sich hinter ihnen, öffnete sich sofort wieder und gab den Blick frei auf einen hochroten Vollmond von Gesicht, der auf einem riesigen, dicken Körper thronte. Der Koloß trat feierlich ein, strahlend wie ein Lichterkranz, und stellte behutsam ein kleines Tablett mit zwei winzigen Täßchen aus allerfeinstem Porzellan und einer kleinen Silberkanne vor uns ab. Karas stemmte sich schwerfällig auf die Beine und drückte dem Riesen die fleischige Hand.

»Elloran, darf ich dir den Ersten Koch der Krone, Meister Fridor, vorstellen«, sagte er feierlich. Der riesenhafte Koch neigte würdevoll seinen dicken Kopf. »Meister Fridor, ich fühle mich geehrt, daß Ihr uns eigenhändig Euren Mokka serviert. Bitte, waltet Eures Amtes.« Schnaufend ließ Karas sich wieder in den Sessel sinken und beobachtete andächtig die zeremoniellen Vorbereitungen des Koches. Der legte mit seinen fetten Fingern behutsam in jede der winzigen Tassen zwei Klumpen bräunlichen Zuckers und träufelte etwas aus einem kleinen Glasflakon darüber. Dann ergriff er feierlich die silberne Kanne und ließ eine dunkelbraune, stark schäumende und dampfende Flüssigkeit in jede Tasse fließen. Zuletzt gab er vorsichtig mit einem Löffel noch auf jede Tasse eine kleine Haube aus steifer Sahne und stellte die Tassen dann vor uns hin. Er faltete die Hände vor dem Bauch und blickte sehr mit sich zufrieden drein. Karas dankte ihm erneut wortreich, und Koch und Lakai verließen dienernd den Raum.

Karas nahm seine Tasse auf und ließ sich mit ihr in die weichen Polster zurücksinken. Ich roch vorsichtig an dem Gebräu. Es hatte ein starkes, bitteres Aroma, das schon allein durch seinen Geruch den Weindunst aus meinem Kopf vertrieb. Jetzt schien der unverfängliche Teil des Abends beendet, und Karas würde zur Sache kommen. Es war besser, dafür über einen halbwegs klaren Kopf zu verfügen. Ich trank also den bittersüßen, kochendheißen Trank und wartete.

Der Kammerherr tupfte sich mit seinem parfümierten Tuch die erhitzte Stirn ab und bat: »Könntest du bitte ein Fenster öffnen, mein lieber Junge?« Ich gehorchte, und als ich an ihm vorbei zurück zu meinem Platz gehen wollte, griff er nach meinem Arm und hielt mich fest. Er zog mich zu sich herunter und berührte mein Gesicht. In seinen kurzsichtigen Augen standen zu meiner grenzenlosen Überraschung sentimentale Tränen. Er tätschelte unbeholfen meine Wange und ließ mich los. Überrascht setzte ich mich wieder hin und drehte verlegen mein leeres Weinglas in der Hand.

Karas rückte seinen fülligen Leib in eine aufrechte Haltung und schenkte erneut die Gläser voll. »Mikel hat deine Räumlichkeiten vorbereitet«, bemerkte er sachlich. »Du wohnst hier ganz in meiner Nähe. Nun möchte ich dir einen Vorschlag unterbreiten.« Er pausierte und trank. Ich wartete. »Ich brauche sehr dringend wieder einen persönlichen Schreiber und Sekretär. Mein guter alter Evan ist vor einem halben Jahr gestorben, und seitdem bin ich auf Aushilfen angewiesen, was auf die Dauer keine befriedigende Lösung sein kann. Ich habe mit Meister Rowald gesprochen. Er ist wie ich der Meinung, daß du dich dafür eignest. Was meinst du dazu?«

Ich schluckte. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Ich nickte und schüttelte gleich darauf unglücklich den Kopf. Karas sah mich sehr verwundert an. »Was hast du für Einwände?« fragte er mild, aber da war eine gewisse Schärfe unter der sanften Oberfläche zu spüren. Das erinnerte mich wieder daran, nicht den Fehler zu begehen, diesen rundlichen kleinen Mann zu unterschätzen. Ich deutete hastig auf meine Kehle, meinen Mund und machte eine Geste, als schriebe ich etwas auf. Er verstand und lehnte sich ächzend vor, um an seinem Bauch vorbei Feder und Tinte aus der Schublade des kleinen Tisches zu angeln. Er schob mir beides hin und zog dann noch einen Bogen Papier hervor.

Ich beugte mich über das Papier und schrieb: Ich würde Euer gütiges Angebot gerne annehmen, Kammerherr, zuvor aber müßt Ihr mir erlauben, eine Frau namens Leonie aufzusuchen, die hier in der Burg leben soll. Sie kann mir möglicherweise meine Sprache wiedergeben. Ich schob das Blatt zu ihm hinüber. Er las es mit gerunzelter Stirn. Verblüfft blickte er auf, sah mich argwöhnisch an und las die Nachricht dann noch einmal durch, als befürchtete er, sie beim ersten Mal nicht richtig verstanden zu haben. Dann ließ er das Blatt sinken und griff nach seinem Glas. Er stürzte den sündhaft teuren Wein hinunter, als sei es billiger Rotwein aus Olyss und tupfte sich erneut das Gesicht ab.

»Du kennst Leonie?« fragte er und schenkte sich nach. Ich schüttelte den Kopf. Er entspannte sich etwas und lehnte sich wieder zurück. »Woher hast du ihren Namen?« 

Ich hob die Hand, und er gab mir das Papier zurück. Von meinem Lehrer Julian schrieb ich und reichte es ihm hin. Er überflog es. Seine Lippen formten stumm den Namen Julian. Mit spitzen Fingern legte er das Papier auf den Tisch, als wäre es vergiftet, und nahm erneut einen ordentlichen Schluck aus seinem Glas.

»Was ist überhaupt mit deiner Stimme passiert?« fragte er dann. Ich deutete einen Schlag auf den Kopf an, und er nickte. Lange Zeit brütete er stumm vor sich hin. Sein rundes Gesicht wirkte ungewöhnlich ernst. Endlich sah er auf und griff wiederum nach meiner Hand. Ich ließ es mit Unbehagen zu. Er tätschelte sie geistesabwesend und sagte: »Gut, einverstanden. Ich bringe dich morgen zu Leonie. Aber du mußt erlauben, daß ich bei diesem Treffen dabeisein kann.« Er sah mir eindringlich in die Augen. Ich nickte notgedrungen. Es war ja auch gleichgültig, ob Karas dabei war oder nicht; das Wichtigste für mich war, diese Frau aufzusuchen und mir von ihr helfen zu lassen – hoffentlich konnte sie mir helfen!

Des Kammerherrn Gesicht entspannte sich, und er sah auf einmal ungeheuer müde aus. Er ließ meine Hand los, die er die ganze Zeit über liebkost hatte, und zog an der Klingelschnur.

»Es ist spät geworden. Mikel zeigt dir jetzt deine Räume. Ich erwarte dich von nun ab jeden Morgen nach dem dritten Läuten hier in meinem Quartier. Wir frühstücken dann gemeinsam und besprechen dabei, was für den Tag an Arbeit ansteht. Morgen werden wir viel zu tun haben. Schlaf wohl, mein Junge.« Er zog mich an sich und küßte mich auf die Wangen. Dann war ich allein und rieb mir überrascht das Gesicht. Dieser Mensch war mir ein großes Rätsel – aber ich wollte mich nicht beklagen. Was ich bisher über den Kammerherrn erfahren hatte, ließ es mir äußerst wünschenswert erscheinen, sein Protegé zu sein. Als Karas' persönlicher Sekretär würde ich mich wahrhaftig in einer beneidenswerten Stellung befinden.

Der Lakai Mikel trat ein und musterte mich geringschätzig. Ich erhob mich und sah ihn mit meinem hochmütigsten Blick an. Er hielt mir die Tür auf und grinste dreckig. Dann schien seine Miene wieder so steinern wie vorher. Vor Wut kochend, folgte ich ihm durch den Flur bis zu einer Tür unweit der Räume des Kammerherrn. Er stieß sie auf, ich marschierte an ihm vorbei und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

Die beiden Räume, die der Kammerherr mir hatte zuweisen lassen, waren ähnlich klein und bescheiden eingerichtet wie sein eigenes Quartier, aber mir erschienen sie wie der Himmel selbst. Lustvoll ließ ich mich auf einen kleinen Diwan fallen, strich über die weich gepolsterte Lehne und streckte meine Füße auf dem dicken Teppich aus. Das hier war ein wirklich angenehmer Fortschritt seit der harten Pritsche des Arbeitshauses. Zufrieden reckte ich mich und stand auf, um das zweite Zimmer zu begutachten. Ein großes, weiches Bett, ein kleiner Schreibtisch und ein schmaler Schrank für meine Kleider befanden sich darin, das Gestell mit der Waschschüssel stand, von einem Paravent verdeckt, in der Ecke. Ich stieg aus meinen Kleidern, warf sie achtlos zu Boden und füllte Wasser aus der großen Kanne in die Schüssel, um mich flüchtig zu waschen. Dann löschte ich die Kerzen und ließ mich wohlig in die weichen Kissen des Bettes fallen.

Mein Schlaf war tief und traumlos und ließ mich am anderen Morgen frisch und ausgeruht erwachen. Ich hatte glücklicherweise nicht den dicken Kopf vom Vortag, was mir für meinen Dienstantritt als privater Sekretär des Kammerherrn nur sehr recht war. Ich schüttelte meine zerknautschten Kleider aus und schlüpfte wieder hinein, dann bürstete ich mein Haar und band es sorgfältig zurück. Der Tag konnte beginnen.

Voller Tatendrang öffnete ich die Tür und schritt zum Quartier des Kammerherrn. Ich klopfte an und trat ein. Die Tür zum Nebenraum stand halb offen, und ich sah in ein Zimmer, ähnlich eingerichtet wie das meinige. Karas, halb angekleidet, schaute heraus und rief munter: »Auf die Minute pünktlich, das lobe ich mir! Setz dich ruhig hin, ich bin gleich fertig.«

Ich nahm wieder an dem kleinen Tisch Platz, auf dem schon ein üppiges Frühstück auf uns wartete. Ich blickte auf goldenes Rührei, knusprig gebratene, dicke Schinkenscheiben, Brot und Honig, eine silberne Kanne, aus der es verlockend nach heißer Schokolade roch ... Wenn ich mit dem Kammerherrn alle Tage so reichlich und gut frühstücken mußte – von Mahlzeiten wie dem ›kleinen Abendessen‹ des vergangenen Tages ganz zu schweigen – würden mir meine neuen Kleider nicht mehr lange passen, das schien so sicher wie der Sonnenaufgang.

»Schenk uns schon einmal von der Schokolade ein«, rief Karas von nebenan. Ich gehorchte und konnte nicht widerstehen, einen Schluck von der dampfenden Süßigkeit zu probieren. Der Kammerherr trat ein, legte den tiefroten langen Rock, den er über dem Arm trug, auf den Diwan und setzte sich zu mir. Er lächelte mich an und faßte über den Tisch, um mir mit seiner molligen Hand den Schokoladenbart abzuwischen. Dann breitete er die Serviette über seine goldbestickte rote Seidenweste und fragte: »Hast du gut geschlafen, liebes Kind?« Ich nickte und lächelte zurück. Langsam begann ich mich an die merkwürdigen Zärtlichkeiten meines Dienstherren zu gewöhnen, ich war nicht einmal zurückgezuckt, wie es mir gestern noch passiert wäre.

Er aß wie am gestrigen Abend: konzentriert und schweigend. Noch satt von meiner letzten Mahlzeit, pickte ich nur ein wenig an dem lockeren Rührei herum. Endlich schob er seinen Teller fort und tupfte sich die Lippen ab. Er lehnte sich zurück und hob die Tasse an seinen Mund.

»Wir haben heute zwei unangenehme Besprechungen vor uns«, sagte er. »Du wirst nicht beiden beiwohnen müssen, aber ich möchte dich bitten, in deiner freien Zeit meinen Schneider aufzusuchen, damit er dir neue Kleider anmißt. Ich kann Veeloras Enkel doch nicht in geliehenen Lumpen umherlaufen lassen, das würde sie mir nie verzeihen!« Seine lächelnden Augen verschwanden fast in den Polstern seiner Wangen. Ich bedeutete ihm meinen überwältigten Dank, aber er winkte ab. »Es bereitet mir Freude, lieber Junge. Nun gut, ich denke, wir beginnen unseren Arbeitstag. Die Besprechung mit dem Gesandten der Inseln ist für den frühen Mittag angesetzt. Ich muß vorher noch einige Papiere zusammensuchen und mir die Notizen deines Vorgängers über mein letztes Zusammentreffen mit dem Edlen Gioanî von Rhûn durchlesen. Aber dafür ist Zeit genug. Ich denke, wir können vorher noch bei Leonie vorbeischauen und fragen, ob sie Zeit für dich hat.«

Er beugte sich stöhnend aus dem Sitz, um nach seinem Stock zu angeln, der etwas außerhalb seiner Reichweite neben dem Sessel zu Boden gefallen war. Ich reagierte nicht schnell genug, um ihm helfen zu können, hatte mich aber sofort auch selbst vorgelehnt und sah nur deshalb sein ungeduldiges Fingerschnippen, und wie der Stock einen kleinen Satz machte und folgsam in seine Hand sprang. Hastig richtete ich mich wieder auf und blickte angestrengt zum Fenster hinaus, während Karas sich aus dem Sessel wuchtete und seine erstaunlich prunkvollen Kleider zurechtrückte. Er ordnete sorgfältig den weichen Fall seines blütenweißen Jabots und die Spitzenmanschetten, die üppig über seine Hände rieselten und warf mir einen ernüchterten Blick zu. Ich nahm seinen langen, aufwendig bestickten und mit kostbaren Steinen besetzten Samtrock auf und half ihm hinein. Dann traten wir auf den Gang und wandten uns nach links, zu der Treppe, die zu den oberen Geschossen führte.

»Der Gesandte der Inseln ist ein sehr auf Etikette bedachter Mann«, erklärte Karas, während wir uns der Treppe näherten. »Er würde es als groben Affront betrachten, wenn ich zu dieser Unterredung weniger aufwendig gekleidet erschiene, als er es seinem Stand entsprechend erwartet. Also ...« Er wies mit einer verdrossenen Handbewegung auf sein aufgeputztes Äußeres. Ich grinste. Kammerherr Karas fühlte sich sichtlich unwohl in seinen schönen Kleidern.

Wir waren am Fuß der Treppe angelangt. Karas blickte gequält an ihr hoch. Diesmal wartete ich nicht ab, sondern bot ihm sofort meinen Arm. Er stützte sich dankend darauf, und wir begannen, die Stufen zu erklimmen. Auf dem Treppenabsatz machten wir eine Verschnaufpause, bis Karas wieder einigermaßen bei Atem war und bewältigten dann den Rest des Aufstieges. Das obere Geschoß glich dem darunterliegenden wie ein Apfel dem anderen. Der Kammerherr wandte sich nach rechts und hinkte mir voraus, während ich mich noch umsah. Eilig schloß ich auf und folgte ihm um mehrere Ecken und durch einen offenen, überdachten Wehrgang in einen offenbar älteren Teil des Gebäudes. Hier waren die rohen Steinmauern nicht mehr verdeckt. Die riesigen Granitplatten des Bodens waren zu einem großen Teil gebrochen und beschädigt. Wir gelangten an eine Tür aus rissigem, altersdunklem Holz. Karas wischte sich übers Gesicht und klopfte heftig an.

»Kommt herein«, erklang gedämpft eine melodische Stimme. Der Kammerherr drückte die schwere Tür auf und ließ mich eintreten. Die dunklen Vorhänge an den Fenstern des Gemaches waren vorgezogen, und es herrschte Dämmerlicht. Ich konnte mit Mühe die Umrisse einiger Möbelstücke ausmachen und hörte das sanfte Gurren von Tauben und weichen Flügelschlag. Ein schwerer, süßer Duft lag in der warmen Luft.

Karas räusperte sich unbehaglich und rief: »Leonie! Wie wäre es mit etwas mehr Licht?« Eine Frau lachte weich gurrend wie eine der Tauben, und unsichtbare Hände zogen die Vorhänge zurück. Ich blinzelte in der plötzlichen Helligkeit, aus der sich jetzt in allen Einzelheiten das Bild einer großen, eindrucksvollen Statue schälte, die reglos vor uns neben dem Fenster stand. Ich starrte sie staunend an: Eine Frauenfigur, aus schwärzestem Ebenholz gearbeitet und in fließende weiße Gewänder gehüllt; um den schmalen, schönen Kopf mit den erstaunlichsten goldenen Augen schwebte wie eine Aureole eine dichte Wolke von weißem Haar. Auf der Schulter der Statue saß ein schwarzweißer Rabe.

Die Figur hob graziös eine schmale, seltsam langgliedrige Hand und reichte sie dem Kammerherrn zum Gruß. Ich löste mich aus meiner Erstarrung und errötete wegen meines ungebührlichen Starrens. Leonie – denn um die mußte es sich wohl handeln – blickte mich aus ihren fremdartigen Augen freundlich an und bot auch mir ihre kühle Hand. Dann wies sie auf zwei Polsterstühle und ließ sich selbst anmutig auf ein Sofa sinken.

»Was kann ich für dich tun, Karas?« fragte sie und strich zärtlich über das Gefieder des Vogels. Ich ertappte mich dabei, daß ich sie schon wieder anstarrte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ein menschliches Wesen eine derart dunkle Haut haben konnte – sie war sogar noch um etliche Schattierungen schwärzer als die Jemainas, die mir schon immer unglaublich dunkel erschienen war.

Karas räusperte sich wieder und sagte: »Es geht um meinen jungen Freund hier, Leonie. Er ist Veeloras Enkel und hat durch einen Unfall seine Sprache verloren. Sein ... sein Lehrer Julian hat ihm geraten, dich aufzusuchen.« Ich unterbrach meine Betrachtung Leonies und des kleinen Raben, der verblüffend Magramanir ähnelte, und warf dem Kammerherrn einen argwöhnischen Blick zu. In seiner scheinbar harmlosen Erklärung hatte ein drohender Unterton mitgeschwungen, der mich verwunderte.

Leonie lächelte mit halbgeschlossenen Augen und hörte auf, den Raben zu kraulen. Sie wandte mir ihr schönes Gesicht zu und legte ihre langen, dunklen Finger um meinen Kopf. Aus nächster Nähe konnte ich die unzähligen kleinen Fältchen und Runzeln sehen, die ihr Gesicht durchzogen. Sie mußte weitaus älter sein, als ich auf den ersten Blick vermutet hatte. Ihre goldenen Vogelaugen bohrten sich ohne zu blinzeln in meine, und ich bemühte mich, dem Blick standzuhalten. Endlich ließ sie mich los und stand in einer fließenden Bewegung auf. Sie trat wortlos an ein kleines Schränkchen, öffnete es und holte eine winzige Phiole mit einer blutrot schillernden Flüssigkeit hervor. Karas rutschte unbehaglich auf die Sesselkante und fragte: »Was hast du vor?« Sie sah ihn schweigend an. Ich konnte ein stummes Duell zwischen den beiden beobachten. Dann entspannte sich Leonies Gesicht, und sie lächelte dünn.

»Keine Angst, Kammerherr, deinem Schützling geschieht nichts. Er wird nur tief und fest schlafen, damit ich genauer untersuchen kann, worin seine Sprachlosigkeit begründet liegt.« Sie reichte mir die Phiole und bedeutete mir, ihren Inhalt hinunterzuschlucken. Ich warf einen unsicheren Blick auf meinen Dienstherren, und er nickte mir aufmunternd zu.

»Tu, was sie sagt, mein Kind. Sie wird dir nicht schaden, das verspreche ich dir.« Leonie lächelte spöttisch über die unverhüllte Drohung in seiner Stimme. Ich setzte die Phiole an. Die dicke, rote Flüssigkeit rann scharf und brennend meine Kehle hinunter, und ich fühlte fast augenblicklich meine Glieder schwer werden und meine Augenlider herabsinken. Ich fiel in den Sessel zurück und konnte kein Glied mehr rühren. Dennoch war mein Gehör so scharf und mein Hirn so hellwach wie zuvor.

»War das nötig?« fragte Karas scharf.

Leonie lachte leise und antwortete: »Ich hatte eine Ahnung, daß du mit mir sprechen willst, ohne daß der Junge zuhört. Also, Karas?«

»Was für ein Spiel spielst du, alte Frau?«

»Nun, dasselbe wie du, alter Mann«, antwortete sie. »Oder willst du etwa leugnen, daß du den Jungen für deine Zwecke mißbrauchen willst, genau wie alle anderen?« Lange Zeit herrschte unheilvolle Stille, und so sehr ich meine Ohren auch anstrengte, vernahm ich nichts als das Gurren der Tauben und Karas' angestrengten Atem.

»Du wirst dem Jungen nicht schaden«, sagte er schließlich mühsam. »Er ist mir zu wichtig und auch zu lieb ...«

»Ach, Karas«, unterbrach ihn die Frau ungeduldig. »Versuche nicht, ausgerechnet mir den sentimentalen alten Narren vorzuspielen! Der bist du so wenig wie ich. Wenn es darauf ankäme, würdest du diesen Jungen kaltblütig dem Wohl der Krone opfern, das weißt du genausogut wie ich!«

»Der Krone?« spuckte der Kammerherr aus. »Die Krone! Ich wollte, ich könnte sie mir endlich vom Halse schaffen, die Krone, lieber heute als morgen!« Sein Atem ging schwer und heftig nach diesem erschreckenden Ausbruch.

Leonie sagte amüsiert: »Solch harsche Worte von ihrem angeblich loyalsten Diener! Karas, du überraschst mich doch immer wieder.«

»Die Krone ist eine harte Herrin«, flüsterte der Kammerherr. Beide schwiegen, als sei dem nichts mehr hinzuzufügen.

»Kannst du dem Jungen helfen?« brach Karas endlich die Stille.

»Ich denke schon. Es bleibt mir ja auch kaum etwas anderes übrig, Julian erwartet es schließlich von mir.«

»Julian«, sagte Karas – und es klang wie ein Fluch. Leonie lachte. Ich hörte, wie der Kammerherr seinen Stock auf den Boden stellte und aufstand. »Ich brauche Elloran gegen Mittag. Sieh zu, daß du bis dahin mit dem fertig bist, was du zu tun hast.« Seine Stimme klang hart und bestimmt. »Er findet mich in meinem Arbeitszimmer, sag ihm das!« Unregelmäßige Schritte entfernten sich, und eine Tür klappte. Der Kammerherr war grußlos gegangen und hatte mich mit dieser Frau alleingelassen. Ich fühlte ihre Gegenwart in meiner unmittelbaren Nähe, Hände hoben meinen Kopf an und bittere Flüssigkeit träufelte in meinen Mund. Ich hustete und schüttelte abwehrend den Kopf. Mein Blick klärte sich und das Leben kehrte in meine Glieder zurück. Ich sah in Leonies starre Vogelaugen. Unverhohlenes Vergnügen stand darin.

»Na, hast du alles gut verstanden?« fragte sie und half mir in eine aufrechte Haltung. Ich nickte schwach und schickte einen fragenden Blick in ihr Gesicht. Die Winkel ihres schönen, vollen Mundes kräuselten sich spöttisch. »Ich fand, du hättest ein Recht darauf zu erfahren, was dich hier erwartet. Hüte dich, Elloran, alle in dieser Burg spielen das spiel, manche offen und viele versteckt. Und du – du bist wahrscheinlich die reizvollste Figur dabei.« Sie lachte über mein Gesicht und fügte hinzu: »Natürlich gehöre auch ich zu den Spielern: also vertraue mir besser nicht! Ich lüge ohnehin, wenn ich nur den Mund aufmache.«

An diesem Paradoxon ließ sie mich nun eine Weile herumknabbern und kramte unterdessen in einer großen Truhe. Ich hörte ihren befriedigten Seufzer und sah, wie sie einen kleinen, silbernen Spiegel aus einem dünnen, roten Tuch wickelte. Sie kam damit zu mir und setzte sich mir gegenüber. Ich verdrehte die Augen. Spiegelmagie! Wenn das Julian sehen könnte! Leonie sah mich spöttisch an und wandte dann den Kopf, um den Raben auf ihrer Schulter anzusprechen.

»Geh jetzt. Du weißt, daß ich mir nicht gerne bei der Arbeit zusehen lasse.« Der Vogel spreizte beleidigt seine Flügel, gehorchte aber. Mit einem schrillen Krächzen flog er elegant durch den schmalen Fensterspalt und war fort. Leonie lächelte wieder und murmelte: »Er hält ohnehin nichts davon.« Ich wußte genau, wen sie meinte. Sie hielt mir den Spiegel vor, und ich sah widerwillig hinein. Fast erschreckte mich der Anblick. Ich hatte seit meiner Abreise aus Salvok keinen Spiegel mehr zu Gesicht bekommen und war überrascht über das, was ich erblickte. Das Kind, das ich bis zu meiner Erkrankung im letzten Winter gewesen war, war fast verschwunden, ein junger Erwachsener schien mich anzublicken – aber war es ein Mann oder eine Frau? Beides und nichts von beidem; es war seltsam und ein wenig unheimlich. Hinter meinem Gesicht tauchte nun nebelhaft ein zweites, unbestreitbar weibliches auf, das mir über die Schulter zu blicken schien. Es war das Gesicht meiner Traumschwester, aber wieder hatte es den leeren, fast schwachsinnigen Ausdruck, den es auch bei seiner letzten Erscheinung gezeigt hatte. Ich bemerkte, daß Leonie beunruhigt an mir vorbeiblickte. Sie gab mir den Spiegel in die Hand und stand auf. Ich konnte im Glas sehen, wie sie zu der Gestalt trat und ihr sanft den Schleier vor das blasse Gesicht zog. Dann nahm sie sie bei den Schultern und führte sie aus dem Gemach. Ich hätte mich allzu gerne umgedreht, aber das Gewicht des kleinen Spiegels bannte mich unnachgiebig in meinen Sitz.

Die Zauberin kam zurück und nahm den Spiegel wieder aus meinen erstarrten Händen. »Sieh weiter hinein«, sagte sie leise. »Konzentriere dich jetzt auf den Klang deiner Stimme, wie du ihn zuletzt gehört hast. Siehst du etwas erscheinen?« Ich lauschte nach innen und hörte, wie ich mit Quinn sprach und mich von dem Schimmel Frost verabschiedete. Am Rande meines Blickfeldes flatterte etwas. Ich versuchte, es genauer zu betrachten. Ein kleiner brauner Vogel, eine Singdrossel, flatterte heftig von innen gegen das Glas des Spiegels und trachtete verzweifelt danach herauszukommen. Leonie nahm den Spiegel und drehte ihn behutsam zu sich hin. Auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln.

»Da haben wir sie ja«, murmelte sie und trug den Spiegel zum Tisch. Sie legte ihn vorsichtig ab, mit dem Glas nach oben, und breitete das rote Tuch darüber. Dann legte sie ihre Hände darauf und schloß die Augen. Unter ihren schlanken Fingern begann die Seide zu rascheln und sich zitternd aufzuwölben. Sie griff sanft darunter und holte den unscheinbaren kleinen Vogel hervor. Er saß stumm, mit angstvoll bebenden Flügeln und klopfender Kehle in ihrer Hand. Besänftigend strich sie ihm über das Gefieder, bevor sie ihn in ein leeres Bauer sperrte. Dann schlug sie den Spiegel sorgfältig wieder ein und legte ihn in die Truhe zurück. Ich sah sie gebannt an, als sie jetzt wieder auf mich zukam.

»Das war der erste Schritt, Elloran«, sagte sie und half mir auf. »Jetzt werde ich diesen Vogel wieder das Singen lehren, und das ist eine mühsame Angelegenheit. Du wirst mir dabei helfen müssen, damit wir Erfolg haben.« Ich nickte dankbar und erleichtert. Sie begleitete mich zur Tür und sagte, während sie sie öffnete: »Komm morgen wieder zu mir. Und, Elloran«, ich drehte mich noch einmal um. »Denk an das, was ich dir gesagt habe.« Leise schloß sich die Tür.