Tim Nebel: Scienceficktion

»Ich bringe euch die Liebe!«

 

»Ich bringe euch das Licht!«

 

»Ich bringe euch das Leben!«

 

»Haltet’s Maul und verpisst euch! Und eure Scheiß- Alliteration könnt ihr auch gleich wieder mitnehmen.«

 

Die Drei ziehen beleidigt ab und ich bin wieder alleine. Ich hoffe, sie kommen so schnell nicht wieder. Das Telefon klingelt:

 

»Bist du noch wach?«

 

»Nein, ich schlafe schon und du halluzinierst, dass ich mit dir spreche.«

 

Was für eine Nacht! Was ist bloß los mit der Welt? Alleine am Vollmond kann es nicht liegen.

 

»Idiot! Was machst du gerade?«

 

»Ich habe gerade die drei Weisen aus dem Morgenland vertrieben, die als blinde Passagiere auf dem letzten Trip angereist kamen und jetzt will ich ein paar Stunden schreiben, bevor ich kotze, mich erschieße oder vielleicht einfach nur schlafen gehe.«

 

»Willst du ficken?«

 

»Nein danke. Ist lieb gemeint, aber ich möchte lieber alleine sein. Die Deadline für den Artikel ist in drei Tagen.«

 

»Das ist nicht lieb gemeint. Ich bin geil und will deinen Schwanz tief in meiner Muschi spüren. Du bist mir im Augenblick ziemlich egal. Von mir aus kannst du mich auch von hinten nehmen und das Notebook auf meinen Rücken stellen, falls du beim Stoßen schreiben kannst. Ich will spüren, wie du mich stößt und dann dein Sperma in mich spritzt. Das dürfte doch nicht zu viel verlangt sein?!«

 

Sie klingt beleidigt. Fast könnte ich meinen, sie hätte ihre Tage, aber dann will sie für gewöhnlich nichts weniger als ficken. Um ihr Gemüt vor Schaden zu bewahren, werde ich ihr also diesen Gefallen tun.

 

»Ok, dann komm’ meinetwegen vorbei.«

 

»Oh Shit! Auf was für einem Zeug bist du denn da gewesen?!«

 

»Was meinst du?«

 

»Ich meine das da!«

 

Sie zeigt mit einem Finger auf den Bildschirm des Rechners, den ich zwar nicht auf ihren Rücken gestellt, aber in Erwartung eines nur kurzen Zwischenspiels nicht heruntergefahren habe. Jetzt sind wir hoffentlich fertig und sie hat das Schlafzimmer in Richtung des Badezimmers verlassen, wobei sie durch die zum Arbeitszimmer umfunktionierte Diele laufen musste. Auf dem Rückweg hat sie einen Blick auf den Bildschirm geworfen und einige Zeilen gelesen, die sie die Frage über Art oder Qualität der von mir kürzlich konsumierten Substanzen stellen lassen.

 

»Du bist doch Wissenschaftler?«

 

Der Zweifel in ihrer Stimme ist unüberhörbar und meine Verneinung ihrer Frage trifft nicht den Kern ihrer Bedenken:

 

»Nein, ich bin Philosoph. Du weißt, wie wichtig mir dieser scheinbar kleine Unterschied ist.«

 

»Mit Wissenschaftler meine ich, dass du sicherlich ernst genommen werden möchtest. Und das da auf dem Bildschirm scheint meiner Meinung nach dieser Absicht ein ganz klein wenig zuwider zu laufen.«

 

»Was stört dich daran?«

 

»Ich bin ja nur ein Laie auf diesem Gebiet, aber den ersten Zeilen nach zu urteilen, ist Nietzsches Geburt der Tragöde – ein Meisterwerk logisch zwingender, empirisch fundierter Wissenschaft – dagegen.«

 

Das ist hart – Nietzsche hat es nicht verdient und kann sich nicht mehr dagegen wehren, als Kronzeuge der Wissenschaft missbraucht zu werden. Sie beginnt mit betont gespielter Begeisterung vorzulesen:

 

»Wenn man bedenkt, dass gemäß vieler Mythen die Erschaffung der Welt nicht das absichtsvolle Resultat eines rationalen göttlichen Planes war, sondern als unbeabsichtigte Folge einer ekstatischen, kosmischen Vereinigung beschrieben wird, dann ist die Frage erlaubt, ja sogar zwingend notwendig, welcher Nutzen der Wissenschaft hinsichtlich ihres sich selbst gegebenen Ziels noch innewohnt.

 

Zumindest muss der Gedanke erlaubt sein, das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis aus den sterilen Laboratorien und Studierzimmern zu befreien und eine neuerliche Vereinigung von sinnlicher Lust, Wissen und Wahrheit in Betracht zu stehen, in deren Folge eine Neubestimmung des Verhältnisses dieser Bereiche stehen wird …

 

Oh Mann, das meinst du doch hoffentlich nicht ernst? Ich glaube, im Bett bist du besser als am Schreibtisch.«

 

»Naja, an der Formulierung werde ich noch etwas arbeiten müssen.«

 

Inzwischen hat sie weitergelesen und ist bei meiner zugegeben etwas überspitzten These angelangt:

 

»So lautet die Forderung: Lest weiter im Buch der Natur, doch schlagt eine neue Seite auf. Verlasst die trägen Kapitel über Vernunft und Verstand und fordert die Herausgabe des indizierten Teiles, der in den Giftschränken der rationalistischen Inquisition schlummert. Lest über die bisher bekannten Grenzen hinaus und wendet euch den Abschnitten zu, die mit Sperma und Blut auf zarte Haut geschrieben wurden und … Das kannst du doch nicht ernst meinen!!!?«

 

Das schüchtern hoffende Fragezeichen schließt sich kaum merklich an die drei aufgebrachten Ausrufezeichen an.

 

»Ich dachte eben, ich bringe mal etwas anderes.«

 

»Du schreibst hier, die Weltformel könnte unter Umständen in einem drogeninduzierten Porno gefunden werden?!«

 

Frage und Ausruf verschmelzen in ungläubiger Indifferenz.

 

»Das ist keine Behauptung, immerhin habe ich das im Konjunktiv geschrieben.«

 

»Dir ist echt nicht zu helfen. In welchem Magazin soll dieser Artikel denn erscheinen? Oder soll ich fragen, welcher Name deinen akademischen Grabstein zieren wird?«

 

»Das ist eine ganz neue Sache, die wir gemeinsam aufbauen wollen. Es gibt noch nicht einmal einen endgültigen Namen. Heutzutage ist das gar nicht so leicht. Die Konkurrenz am Markt ist groß. Da muss schon ein griffiger Titel her.«

 

»Na dann macht mal eine Marktanalyse. Findet vorher aber noch heraus, ob eure Zielgruppe eher auf Esoterik oder auf Porno steht.

 

Wissenschaftliche Kreise würde ich meiden. Ich wünsche dir alles Gute! Und: Ich rate dir zu einem Pseudonym.«

 

Sie zieht sich an und geht. Wie undankbar: Kaum hat sie ihren Fick, zieht sie ab, anstatt mir aus der von ihr diagnostizierten misslichen Lage zu helfen. In ihrem Blick liegt eine Mischung aus Mitleid und Unverständnis. Den Kuss zum Abschied deutet sie nur an. Die Tür fallt ins Schloss. Ich bin wieder alleine.

 

Ich ziehe meinen Morgenmantel über und setze mich wieder an den Schreibtisch, wo das Notebook als verschwiegener Zeuge des Geschehenen auf mich wartet. Ich versuche, ihre Einwände oder Bedenken zu verstehen. Ich zünde mir einen Joint an und beginne zögerlich weiterzuschreiben. Irgendwie ist die Sache noch nicht rund. Es fehlt ein richtiger Knalleffekt. Sowas in der Preisklasse von cogito ergo sum – mindestens! Mir kommt ein neuer Gedanke, der zwar nicht neu ist, den ich aber noch gut unterbringen kann, um dem Ganzen – mit etwas Namedropping verbunden – doch einen etwas intellektuelleren Touch zu verleihen: Die Grenzen zwischen Kunst, Philosophie und Wissenschaft sind fließend. Die Wahrheit darüber liegt im Auge eines in seine jeweilige Kultur eingebetteten Betrachters. Et cetera bla bla. Vielleicht kann ich da nachher wieder einen Bogen zum Ficken schlagen. Sex sells und Ficken kommt immer gut an. Mal schauen. Das Telefon klingelt:

 

»Bist du noch wach?«

 

»Ja.«

 

Ich würde gerne weitersprechen, aber in dem Moment öffnet sich mitten im Nichts des Raumes ein Fenster, aus dem die drei Weisen heraus grinsen. Sie rufen im Chor:

 

»Liebe! Licht! Leben! Liebe! Licht! Leben! Liebe! Licht! Leben!«

 

Dann lösen sie sich wieder auf.

 

»Hast du das eben gehört?«

 

»Was?«

 

»Ach, nicht so wichtig.«

 

»So langsam mache ich mir Sorgen um dich. Du arbeitest zu viel. Vielleicht solltest du mal etwas kürzer treten. Am besten rufst du sofort deine liebe kleine Freundin an, bittest sie zu dir her, ihr fickt bis morgen Mittag und dann geht’s dir gleich wieder viel besser. Du wirst sehen, das entspannt und erweitert obendrein das Bewusstsein.«

 

Ich ziehe am Joint. Wow, das Zeug haut echt rein!

 

»Aber …«

 

»Keine Widerrede!«

 

Er legt auf. Ich will nicht ficken. Aber das kann ich nicht schreiben.

 

Ficken kommt gut an, Nicht-Ficken interessiert keinen.

 

»Liebe! Licht! Leben!«

 

Wieder höre ich die Worte, doch nirgends im Zimmer ist einer der drei heiligen Typen zu entdecken. Ich suche die ganze Wohnung ab.

 

Nichts. Ich bin alleine und die Worte kommen diesmal offensichtlich direkt aus meinem Kopf. Ich spreche und höre mit meinem Kopf, ohne den Umweg über die Stimme oder das Gehör zu nehmen. Es spricht aus mir. Ich gehe in die Küche, um ein Glas Wasser zu holen. Dann sind sie plötzlich wieder da. Sie stehen vor dem Schreibtisch und werfen ungläubige Blicke auf den Bildschirm.

 

Einer der drei beginnt zu sprechen:

 

»Also so kann das ja mal gar nicht funktionieren.«

 

»Wie meinen?«

 

»Ich meine: Wir drei haben jetzt alle so um die zweitausend Jahre hinter uns und ich sage dir, was du da schreibst, ist völliger Quatsch!!!«

 

»Ich wäre euch ja für Hilfe dankbar, aber geht’s vielleicht etwas genauer?«

 

»Hör’ mal zu, mein Junge. Mein Schwanz hat jetzt schon über tausend Mösen und fast genauso viele Ärsche von innen gesehen und glaube mir: Erleuchtung findest du in keiner noch so dunklen Höhle, selbst wenn die Lippen noch so mystisch orakeln.«

 

»Aber was ist mit den ganzen spirituellen Sex-Techniken? Tantra? Kamasutra? Sadomasochismus? Soll das etwa alles nur Scharlatanerie sein?«

 

Ich blicke auf mein Bücherregal, wo ich in Kürze wohl wieder sehr viel Platz haben werde. Er antwortet:

 

»So ist es: Alles Lug und Trug!«

 

»Und was ist mit Drogen? Pilze, Hanf, Opium und all die ganzen Gaben von Mutter Natur?«

 

»Teufelszeug! Nicht mehr und nicht weniger. Geschaffen, um die Menschen zu blenden und zu verwirren. Luzifer …«

 

Ich falle ihm ins Wort und vollende den Satz auf meine Weise:

 

»… bringt das Licht.«

 

Er errötet. Ich habe einen wunden Punkt entdeckt und werde nicht mehr locker lassen:

 

»Sei ehrlich, alter Mann! Das Licht, das ihr bringen wollt, ist doch sicherlich keine alte Fackel oder gar eine Taschenlampe! Was verheimlichst du mir? Warum seid ihr überhaupt gekommen? Schließlich habe ich euch nicht gerufen.«

 

Verlegen sieht er zu Boden und tritt von einem Fuß auf den anderen. Durch sein langes Gewandt hindurch kratzt er sich an seinem Gemächt, bevor er mir wie zur Versöhnung die Hand reichen will.

 

Aus verständlichen Gründen weiche ich aus.

 

»Na schön, ich war eben nicht ganz aufrichtig zu dir.«

 

»Nicht ganz aufrichtig – das scheint mir etwas untertrieben.«

 

Er kratzt sich am kahlen Kopf. Dabei fällt mir auf, dass die beiden anderen keinerlei Interesse an uns zeigen. Stattdessen haben sie es sich mit einer großen Tüte vor meinem Rechner bequem gemacht und spielen Solitär. Er fährt fort:

 

»Eigentlich ist es ganz einfach: Wir sehen dir schon seit einigen Tagen aus unserer Paralleldimension über die Schultern und dein Artikel interessiert uns sehr. Du hast sehr gute Ansätze, mit denen du die Menschen vielleicht sogar überzeugen kannst. Die Macht deiner Worte ist nicht zu unterschätzen. Aber jeder noch so unscheinbare Dämon wird erkennen, dass das alles nur Kopfgeburten sind. Deine schlimmsten Drogenerfahrungen scheinen sich darauf zu beschränken, nach 20 Uhr noch eine Tasse Schwarztee zu trinken – immerhin ohne Milch! Natürlich sehe ich hier das ganze Dope herumliegen, aber nach dämonischen Maßstäben bist du ein Teetrinker. Sogar eher Kamille als Pfefferminz. Wir machen dir also ein Angebot: Du bekommst eine zeitlose Nacht mit drei Jungfrauen, drei erfahrenen Gespielinnen, unbegrenzt Drogen und darfst uns drei Fragen stellen, die wir dir nach bestem Wissen und Gewissen beantworten werden. Danach wirst du deinen Artikel schreiben können.«

 

»Und was wollt ihr dafür?«

 

»Euch dabei zusehen, wie ihr’s treibt.«

 

»Seid ihr die Typen aus der Bibel?«

 

Der Alte lächelt mitleidig, bevor er langsam den Kopf schüttelt.

 

»Wir kommen von viel weiter her.«

 

»Macht ihr sowas öfter?«

 

»Leider nicht oft genug.«

 

Die Nacht ist so verrückt, dass mir das Angebot noch das vernünftigste Ereignis zu sein scheint. Also willige ich ein, stelle meine erste Frage und vernehme die Antwort des Alten.

 

Und dann beginne ich zu schreiben. Ich schreibe und schreibe wie von Sinnen was mir in den Sinn kommt und dann verliere ich plötzlich die Besinnung, werde zu reiner, sinnlicher Wahrnehmung.

 

(Die drei Alten spielen in vorfreudiger Erregung mit sich selbst, ich spiele mit Worten. Beides ist nicht völlig befriedigend.) Wie gelähmt, aber mit offenen Augen, liege ich auf meinem Bett und beobachte die Veränderungen, die im Zimmer vor sich gehen. Ich schwöre, es sind unglaubliche Dinge, aber das Unglaublichste: Meine Topfpflanzen verwandeln sich in jene bezaubernde Frauen, die der Alte mir eben noch versprochen hatte. Meine Lähmung verschwindet. Sie reichen mir Haschisch und Opium, das sie aus ihren Rippen ernten und mit jedem Mal, mit dem ich eine von ihnen erkenne, erkenne ich mehr. In ihren Augen brennt Wissen, ihre Mösen sind Höhlen, nach denen Platon sich gesehnt hätte und von ihren Lippen orakeln die geheimsten Mysterien. Ihre Körper sind mit kosmischer Energie benetzt, die sie auf mich übertragen.

 

Ich sehe Licht am Ende des Tunnels.

 

Es ist eine sehr lange Nacht. Aber ich will die Einzelheiten für mich behalten. Klar, stimmt schon: Sex sells, Ficken kommt immer gut an und so weiter und so fort. Aber ich bin ein ernsthafter Philosoph, kein Schreiber von Wichsvorlagen!

 

Irgendwann stelle ich die zweite Frage und alles um mich herum wird schwarz. Ich bin allein.

 

Wir liegen nebeneinander im Bett. Mein Schädel dröhnt, aber ich fühle mich gut. Mein Körper ist entspannt und mein Bewusstsein scheint irgendwie erweitert. Als ich die Augen öffne sehe ich, dass sie mein Manuskript liest. Habe ich es inzwischen fertig geschrieben? Ist mir eine Pointe eingefallen? Was hat ihren Sinneswandel herbeigeführt? Wann ist sie zurückgekommen? Ihre Stimme ist so verführerisch, selbst wenn sie Skepsis ausdrückt. Ich will sie augenblicklich ficken, aber sie hat vermeintlich Wichtigeres zu fragen:

 

»Glaubst du daran? Meinst du, das könnte stimmen?«

 

»Das ist mir eigentlich egal.«

 

»Glaubst du an irgendetwas?«

 

»Weiß nicht.«

 

»Du tust mir leid.«

 

Noch immer schwirren die Worte durch meinen Kopf: Liebe! Licht! Leben! Jetzt weiß ich es; ich bin der Lösung näher als dies jemals zuvor ein menschliches Wesen auch nur annähernd gewesen war. Ich muss den Dreien nur noch eine Frage stellen. Die dritte und letzte, die mir noch zusteht. Ich rufe in die Stille der Apartment-Nacht:

 

»Kommt zurück! Ihr heiligen Gnome, ich brauche eure Hilfe.«

 

Angestrengt lausche ich in die Dunkelheit, aber ich höre nichts außer dem Atmen der Frau neben mir und den sich entfernenden Hufschlägen der Kamele im Wüstensand meiner Imagination. Auf der Straße unter dem Fenster wird eine Katze angefahren. In den letzten Augenblicken ihres Sterbens ist sie zugleich tot und lebendig. Es liegt im Auge des Betrachters. Sie schreit in Angst und Schmerz. Ich schreie in Angst und Verzweiflung:

 

»Ihr Schweine! Ihr Schweine! Warum habt ihr mich verlassen?«

 

Dann ist es still. Und die Nacht ist immer jung.