Schockwellen
Der tapfere Mond beschwerte sich nicht darüber, zwei Reiter über die Berge tragen zu müssen. Innovindil lenkte den Pegasus, während Drizzt hinter ihr saß, die Arme um ihre Taille geschlungen.
Für Drizzt war Fliegen das erstaunlichste und wunderbarste Erlebnis seines Lebens. Sein Reiseumhang und sein langes weißes Haar wehten im Wind, und er musste die Augen zusammenkneifen, damit sie nicht ununterbrochen tränten.
Obwohl er auf dem Pegasus saß und nicht selbst flog, empfand der Drow ein tiefes Gefühl von Freiheit, als wäre er nicht nur den Fesseln der Erde entflohen, sondern der Sterblichkeit selbst.
Zu Beginn des Fluges hatte er versucht, mit Innovindil zu sprechen, aber der Wind war zu laut, so dass sie schreien mussten, um sich verständlich zu machen.
Daher lehnte Drizzt sich nun einfach zurück und genoss das Rauschen der Luft und die Kühle vor dem Morgengrauen.
Sie waren auf dem Weg nach Süden, weit hinter dem Hauptteil von König Oboulds Armee. Es fiel Drizzt schwer, in diese Richtung zu ziehen, obwohl die Freude über den Ritt auf dem geflügelten Pferd ein wenig gegen seine Ängste half. Sie wussten nicht, was sie vorfinden würden, wenn sie nach Mithril-Halle kamen. Hatte Obould die Zwerge schon in die Berge getrieben? Würden Drizzt und Innovindil in diesem Fall überhaupt noch eine Möglichkeit finden, sich zu Bruenors Sippe zu schleichen? Hatten sich die Zwerge den Eindringlingen gestellt, und würden Drizzt und Innovindil über ein Schlachtfeld voller Ork-Leichen fliegen müssen? Trotz so vieler offener Möglichkeiten gelang es Drizzt, sich von allem zurückzuziehen und einfach das Fliegen zu genießen.
Rechts von dem Paar und ihrem Reittier lag die weiche Dunkelheit vor der Dämmerung, aber links, im Osten, hatte der Himmel schon das hellere Blau des Morgens und den rosafarbenen Rand, den die sich nähernde Sonne warf. Drizzt sah ehrfürchtig zu, wie die rot glühende Sonne sich über den Horizont schob und sich das erste Licht im Osten zeigte.
»Wunderschön«, murmelte er, obwohl er wusste, dass Innovindil ihn nicht hören konnte.
Von seiner erhöhten Position aus folgte Drizzt mit Blicken dem heller werdenden Morgen, der sich nach Westen ausbreitete. Dann drehte er sich um, um einen letzten Blick auf die verschwindende Nacht zu werfen.
Und dann war es hell, plötzlich und überall gleichzeitig! Nein, das war nicht das Tageslicht, erkannte Drizzt, sondern eine orangefarbene Flamme, die hoch in die Luft sprang, ein so gewaltiges Feuer, dass es die Landschaft vor ihm sofort erhellte. Das Feuer flackerte so hoch hinauf, dass die beiden Elfen auf dem Pegasus den Hals recken mussten, um den höchsten Punkt sehen zu können, Mond scharrte in der Luft und wieherte, und Innovindil, ebenso verstört, lenkte das Tier zum Boden hinab.
»Was ist da passiert?«, rief sie.
Drizzt wollte das Gleiche fragen, aber dann erreichte sie die heiße Welle der Explosion, drosch mit ihrem Wind auf sie ein und hätte beinahe beide Reiter vom Pegasus gerissen. Der Wind trieb Staub und kleines Geröll von der Explosion weg, und alle drei, Elf, Drow und Pegasus, mussten die Augen zusammenkneifen.
Sie gingen rasch tiefer, denn Mond wollte nun unbedingt landen. Innovindil hielt sich fest und lenkte den Pegasus geschickt, aber Drizzt nutzte die Gelegenheit, einen Blick auf das Gelände zu werfen, das von dem sich rasch auflösenden Feuerball beleuchtet wurde, und bemerkte den Schwarm von kleinen Gestalten. In diesem kurzen Augenblick sah der Drow das weit entfernte Schlachtfeld, erkannte den Hang, der zum Rand des Tals der Hüter führte, und wusste sofort, dass sich die Zwerge in einer verzweifelten Situation befanden.
»Was ist da passiert?«, fragte Innovindil abermals, als sie festen Boden erreicht hatten. »Haben sie einen Drachen aufgeweckt?«
Drizzt konnte ihr nicht antworten, denn er hatte in seinem ganzen Leben noch keine solche Explosion gesehen. Er musste sofort an Harkle Harpell denken, einen sehr exzentrischen und gefährlichen Zauberer, und an Harkles Familie, bei der es sich ebenfalls um verrückte Magier handelte. Waren die Harpells nach Mithril-Halle gekommen, um zu helfen, und hatten neue und unbeherrschbare Magie mitgebracht?
Aber Drizzt konnte nur raten, und daher hatte er keine wirkliche Antwort auf Innovindils fragende Blicke.
»Was haben sie getan?«, fragte die Elfenfrau.
Drizzt schüttelte den Kopf und sagte dann nur: »Gehen wir hin und sehen wir nach.«
Die Ork-Reihen wurden zu Boden gedrückt wie hohes Gras von einem Sturmwind. Auch diejenigen, die das Glück hatten, dem fliegenden Schutt zu entkommen, gingen zu Boden, von den Füßen gerissen durch eine Druckwelle, die sie nie für möglich gehalten hätten. Urlgen fiel ebenfalls hin, aber der stolze, starke Ork schrie nicht vor Angst und duckte sich auch nicht. Er kam sofort wieder auf die Beine, gegen die Hitze und die letzten Wellen der Explosion, und ließ den Blick über das Schlachtfeld schweifen.
Dort sah er die betäubten Orks und Zwerge liegen. Der hoch gewachsene Ork schüttelte ungläubig und verwirrt den Kopf. Er schaute hinüber zu dem explodierten Kamm und sah einen Riesen hin und her rennen, mit den Armen um sich schlagend und ganz und gar von Flammen überzogen.
Als das Leben aufs Schlachtfeld und in die Orks rings um Urlgen zurückkehrte, hörte er Schreckensschreie und Kreischen, und erst jetzt erkannte er die wahre Gefahr dieser schrecklichen Explosion. Er hatte sicher einige Leute verloren, und die Riesen an seiner Flanke waren tot, aber die wirkliche Gefahr lag weit oberhalb der Position des Ork-Kommandanten, wo sich die Zwerge rasch wieder formierten und einen vernichtenden Angriff gegen seine verwirrten Streitkräfte begannen.
Urlgen schüttelte den Kopf und dachte: So hatten wir das nicht geplant!
Die Schreie nach Rückzug, nach Flucht, hallten rings um ihn wider, und einen Augenblick lang hätte der Ork-Anführer beinahe nachgegeben und seinen Kriegern befohlen davonzurennen. Beinahe, denn dann dachte er an das größere Ganze und den Sieg, den sein Vater im gleichen Augenblick im Südwesten erkämpfte. Urlgen hatte vorgehabt, die Zwerge noch ein wenig länger weich zu kochen und die Riesen und seine ursprüngliche Streitmacht einzusetzen, um das Schlachtfeld zu formen, ohne dass die Zwerge entkommen konnten. Dann wollte er die zusätzlichen Soldaten in den Kampf werfen, die sein Vater ihm gegeben hatte, und die Zwerge überwältigen.
Das alles hatte sich im Augenblick der schrecklichen Explosion verändert. Mit einem Brüllen, das selbst über den Lärm der fliehenden Orks hinweg zu hören war, verlangte Urlgen Aufmerksamkeit. Er rannte parallel zum Schlachtfeld, fing fliehende Orks ab und schickte sie wieder in den Kampf – durch reine Willenskraft und durch Drohungen.
Und die ganze Zeit brüllte er nach den Reserven, die er bislang vor den Zwergen verborgen hatte, und befahl seiner gesamten Streitmacht den letzten, alles entscheidenden Angriff.
»Tötet sie alle!«, schrie er.
Als der Schwarm sich langsam drehte, um den angreifenden Zwergen entgegenzutreten, hob Urlgen die Fäuste in den stachelbesetzen Handschuhen und stürzte sich zum ersten Mal selbst in die Schlacht. Er wusste, für ihn ging es jetzt um alles oder nichts. Wenn er jetzt keinen großen Sieg davontrug, war alles verloren. Er würde bis an sein Ende unter dem Mantel seines ruhmreichen Vaters festsitzen – immer vorausgesetzt, sein ruhmreicher Vater ließ ihn am Leben.
Banak Starkamboss schnappte nach Luft, als er sah, wie die Ork-Horde sich umdrehte und zurückkam. Seine Jungs hatten bei Nanfoodles Explosion viel besser abgeschnitten, und der ganze untere Teil des Abhangs war von Ork-Leichen übersät. Aber die Orks waren zahlenmäßig immer noch weit überlegen, denn nun stürmte eine zweite Gruppe hinter den ursprünglichen Angreifern hervor.
Banak knurrte. Nach dieser wirkungsvollen Explosion hatte er vorgehabt, auszubrechen und mit dem Kampf zu beginnen, der die Orks aus Mithril-Halle vertreiben würde.
»Schlagt hart zu und zieht euch dann zurück, um die Front zu halten«, rief Banak seinen Kommandanten in der Nähe zu.
Als er beobachtete, wie die Orks von unten angriffen, kam es ihm jedoch so vor, als hätte dieser Vormarsch einen anderen Unterton, ein anderes Ziel, eine andere Intensität als die vorherigen. Dem Zwergenveteran war sofort klar, dass seine Feinde diesmal nicht vorhatten, zuzuschlagen und wieder davonzurennen. Der alte Zwerg biss sich auf die Unterlippe und dachte über die Schlagkraft der Orks und seine eigenen Möglichkeiten nach.
»Los, kommt schon«, murmelte er. Er baute sich breitbeinig auf, entschlossen, nicht von der Stelle zu weichen. Diese Entschlossenheit verschwand allerdings schlagartig, als Späher aus dem Westen entlang der Frontlinie schrien, dass auch im Südwesten, am Westrand des Tals der Hüter, gekämpft wurde.
Banak fand eine Stelle, von der aus er eine bessere Sicht auf die Region hatte, und spähte im heller werdenden Licht nach Südwesten. Als er erkannte, welches Ausmaß der Kampf und das gegnerische Heer hatten, wäre er beinahe umgefallen.
»Bei Moradin, gebt bloß nicht auf«, flüsterte der alte Zwerg erschrocken.
Er blickte wieder nach Norden, wo die Auswirkungen von Nanfoodles Explosion ein Ende gefunden hatten, wo die Masse der Orks auf ihn zuströmte und die Zwerge wieder in ihre Verteidigungspositionen trieb. Dann schaute er zurück nach Südwesten und lauschte den lauter werdenden Kampfgeräuschen.
Sofort begriff er, was die Orks vorhatten.
Sofort erkannte er die Gefahr.
Mit einem entschlossenen Grunzen zwang sich der Kommandant, die Zerstörung auf dem westlichen Gebirgskamm zu betrachten. Der Plan der Orks war gut koordiniert und zielte nicht nur darauf ab, Boden zu gewinnen, sondern die Zwerge bis zum letzten Krieger niederzumetzeln. Nanfoodles Explosion allein hatte ihnen ein wenig Luft verschafft, ein wenig Zeit – vielleicht genug zur Flucht.
»Moradin sei mit dir, Kleiner«, sagte Banak zu dem Gnom, der viel zu weit entfernt war, um ihn zu hören.
Die Kampfgeräusche im Südwesten wurden plötzlich und dramatisch lauter, und Banak warf einen Blick zurück und sah, dass sich den Feinden auch eine Horde Riesen angeschlossen hatte.
»Moradin sei mit uns allen«, flüsterte der Zwerg.
Die Hauptfront der Zwerge brach und zog sich zurück wie befohlen, und alle rannten zu ihren Verteidigungsstellungen weiter oben am Hang. Pfeile und Hämmer flogen über sie hinweg und verlangsamten die Orks, die bei jedem Schritt an ihren Fersen klebten.
Aber viele Zwerge rannten nicht schnell genug. Einige waren bereits tot, getroffen von Ork-Speeren oder dem fliegenden Schutt von Nanfoodles gewaltiger Explosion. Und viele andere, weit über hundert, lagen blutüberströmt am Boden.
Allerdings bluteten sie nicht aus Wunden, sondern aus zerrissenen Wasserschläuchen. Thibbledorf Pwent, seine Knochenbrecher und eine erhebliche Anzahl neuer Rekruten hatten sich in der Verwirrung der Explosion mit »Blut« bespritzt und »tot« zu Boden geworfen. Einige, wie Pwent selbst, betonten die »Wunden« durch strategisch platzierte, zerbrochene Waffen. Nun lagen sie dort, vollkommen reglos, während Horden von Orks an ihnen vorbeistürmten und manchmal sogar auf sie traten.
Pwent öffnete ein Auge und verbiss sich ein Lächeln.
Dann sprang er auf und stieß einen stachelbesetzten Handschuh direkt ins Gesicht des nächstbesten Orks. Er brüllte so laut er konnte, und sofort sprangen die Knochenbrecher auf wie ein einziger Mann, direkt inmitten des verwirrten Feinds.
»Verschafft unseren Leuten Zeit!«, schrie der Anführer, und die Knochenbrecher taten genau das, stürzten sich auf die Feinde, schlugen und schnitten wild um sich, rissen Orks um und wälzten sich über sie, wobei ihre mit scharfen Kanten versehenen Rüstungen ihre Opfer in eine blutige Masse verwandelten.
Thibbledorf Pwent stand in der Mitte und führte den Kampf mehr durch sein Beispiel als durch Worte an. Es gab keinen allgemeinen Plan. Das Letzte, was Pwent wollte, war eine Atmosphäre von Koordination und Vorhersehbarkeit.
Er wollte Chaos!
Schlichtes, wunderschönes Chaos – die Berufung und Freude der Knochenbrecher.