Die weitere Welt

Shoudra Sternenglanz kehrte ins Licht ihres Lagerfeuers zurück. Die Sceptrana von Mirabar, die auch eine recht geschickte Zauberin war, hatte schon längere Zeit nach bestimmten Wurzeln und Pilzen gesucht, die zu einem neuen Zauber beitragen sollten, den sie erforschte. Im grünen Land südlich des Gräuelpasses hatte sie nun gefunden, was sie suchte, und so große Mengen davon, dass ihr Rock, dessen vorderen Saum sie in den Bund gesteckt hatte, voll davon war.

Sie wollte ihrem Reisegefährten gerade zurufen, er solle ihr einen Sack bringen, als sie ihn erspähte – und dann konnte sie nur noch kichern, denn der kleine Gnom gab eine ziemlich komische Figur ab, wie er dort am Feuer saß und sich die Hände rieb. Er hatte den Umhang fest um sich gewickelt, die Kapuze aufgesetzt und tief ins Gesicht gezogen.

Aber nicht tief genug, um Nanfoodles charakteristischsten Zug zu verbergen: seine lange, gebogene Nase.

»Wenn du dich noch weiter vorbeugst, wirst du dir die Nasenhaare verbrennen«, warnte Shoudra, als sie in den Lichtkreis des Feuers trat.

»Der Wind ist heute Nacht kalt«, erwiderte der Gnom.

»Ja, besonders für diese Jahreszeit«, stimmte Shoudra zu, denn es war immer noch Sommer, obwohl sich der Herbst mit raschen Schritten näherte.

»Und das macht das Reisen nur noch unangenehmer«, murmelte Nanfoodle.

Wieder kicherte Shoudra leise und setzte sich ihm gegenüber. Sie begann, den gerafften Rock zurechtzuzupfen, aber sie hielt inne, als sie bemerkte, dass der Gnom ihre wohlgeformten Beine anstarrte. Das war selbstverständlich vollkommen lächerlich; Shoudra war eine hoch gewachsene Frau, und ihr Bein allein war länger, als Nanfoodle groß war. Dennoch hielt sie die Pose und drehte das Bein sogar noch ein wenig besser in Nanfoodles Blickfeld, und sie sah, wie sein Unterkiefer heruntersackte.

Schließlich blickte der Gnom auf und bemerkte, dass Shoudra ihn mit einem amüsierten Lächeln beobachtete.

Nanfoodle blinzelte mehrmals, räusperte sich und begann, in seinem Umhang herumzusuchen, als hätte er etwas verlegt. Shoudra beobachtete ihn weiterhin, zupfte den Rock endgültig aus dem Bund und legte Wurzeln und Pilze vorsichtig auf den Boden.

»Hasst du das Reisen wirklich so sehr?«, fragte sie einen Augenblick später, während sie ihre Beute nach Größe und Art sortierte. »Findest du es nicht auch irgendwie belebend?«

Nanfoodle verschränkte die Arme und rückte noch dichter ans Feuer. »Belebend?«, wiederholte er ungläubig.

»Hast du denn gar keinen Sinn für Abenteuer, mein guter Nanfoodle?«, fragte Shoudra. »Bist du nach all den Jahren mit Messbechern und Lösungen so zahm geworden, dass du vergessen hast, wie aufregend es ist, einen Goblin in einem Feuerball zu braten?«

Nanfoodle bedachte sie mit einem neugierigen Blick.

»Der Nanfoodle, dem ich vor vielen Jahren in Baldurs Tor begegnet bin, konnte, wenn ich mich recht erinnere, den einen oder anderen Zauber wirken«, bemerkte Shoudra.

»Aber doch sicher nichts so Plumpes wie einen Feuerball!«

Der Gnom tat schon den Gedanken daran mit einem Schaudern ab. »Pah, ein Feuerball! Als Nächstes wirst du mir noch erzählen, wie wunderbar es ist, Blitze zu schleudern. Nein, nein, Shoudra – ich ziehe die Magie des Geistes den Explosionen und dem Brennen der Elementarkräfte vor.«

»Ah ja«, erwiderte Shoudra. »Selbstverständlich. Ich hätte gleich wissen müssen, dass es eine enge Verbindung zwischen Illusionszaubern und Alchemie gibt!«

Nanfoodles Augen wurden sofort riesengroß. Markgraf Elastul von Mirabar, Shoudras Vorgesetzter, hatte ihn eingestellt, damit er seine brillanten Kenntnisse der Alchemie einsetzte, um das minderwertige Erz von Mirabar zu verbessern, damit die Stadt im Handelskrieg gegen Mithril-Halle eine bessere Chance hatte. Der Gnom hatte bei seinen Erfolgsberichten für den Markgrafen viele Male Shoudra Sternenglanz' trockenen Humor ertragen müssen, denn Alchemie war keine exakte Wissenschaft. Zu Nanfoodles Unbehagen waren seine Anstrengungen in Mirabar mehr oder weniger erfolglos geblieben.

Etwas, das ihm Shoudra immer wieder unter die ausgeprägte Nase rieb.

»Was willst du damit andeuten?«, fragte der Gnom nun ruhig.

Shoudra lachte nur und machte sich wieder daran, Pilze zu sortieren.

»Du glaubst überhaupt nicht an die Alchemie, oder?«

»Habe ich daraus je ein Geheimnis gemacht?«

»Aber warst du nicht diejenige, die mich Markgraf Elastul empfohlen hat?«, fragte Nanfoodle. »Ich bin immer davon ausgegangen, dass es Shoudra Sternenglanz war, die ihm von meinem wachsenden Ruhm berichtete.«

»Ich habe nichts für Alchemie übrig«, erklärte Shoudra, »aber das bedeutet nicht, dass ich nichts für Nanfoodle Buswilligan übrig hätte.«

Als der Gnom nicht antwortete, blickte sie auf und sah, dass Nanfoodle sie neugierig anstarrte.

»Wenn Markgraf Elastul ohnehin entschlossen ist, sein Geld für Narrengold auszugeben, warum sollte dann nicht wenigstens ein Teil davon an Nanfoodle gehen?«, fragte Shoudra mit einem schiefen Grinsen.

Der Alchemist nickte, aber seine verdutzte Miene zeigte ihr, dass er immer noch nicht wusste, ob er ihr danken oder sie beschimpfen sollte.

Und das gefiel ihr.

»Wir essen die Vorräte auf, und dennoch werden unsere Bündel immer schwerer«, stellte der Gnom fest und betrachtete dabei missbilligend Shoudras wachsende Sammlung.

»Unsere Bündel?«, erklang die sarkastische Antwort. »Schon ein einzelner Pilz wäre eine Last für den armen kleinen Nanfoodle.« Spielerisch warf sie einen kleinen Pilz mit weißem Schirm über das Feuer hinweg nach dem Gnom. Nanfoodle hob die Hand, um ihn aufzuhalten, aber er lenkte das Geschoss damit nur ab, und es prallte von seiner Hand ab und stieß gegen seine lange Nase, was Shoudra abermals zum Lachen brachte.

Unter mürrischen Blicken und leisem Gemurmel griff Nanfoodle nach dem Pilz, betrachtete ihn einen Augenblick und warf ihn schließlich zurück.

Shoudra hatte bereits die Hände erhoben, um sich zu verteidigen, aber nun kam nicht nur ein Pilz, sondern gleich ein halbes Dutzend auf sie zugeflogen.

»Gut gemacht!«, gratulierte sie, als das echte Wurfgeschoss von ihrer Stirn abprallte und die illusionären Pilze direkt durch sie hindurchgingen. Sie lachte noch lauter.

»Es ist nicht ratsam, Nanfoodles Zorn zu wecken!«, prahlte der Gnom und plusterte sich auf, was den kleinen Umhang um ihn anspannte.

»Ich habe auch ein paar Pilze und Wurzeln hier, mit denen wir unser Abendessen vervollständigen können«, sagte Shoudra. »Wenn du nur genug isst – und das scheint für dich nie ein Problem zu sein –, wird unsere Last geringer werden.«

Nanfoodle setzte zu einer Antwort an, aber Hufschläge ließen ihn innehalten. Sowohl der Gnom als auch Shoudra drehten sich zu der Straße um, die südlich ihres Lagers verlief.

»Der Reiter hat unser Feuer gesehen!«, sagte Nanfoodle erschrocken.

Er zog sich in den Schatten zurück, schien noch tiefer unter seinen Umhang zu kriechen und begann beinahe sofort zu rezitieren und mit den Fingern zu fuchteln.

Shoudra warf ihm einen amüsierten Blick zu, aber dann konzentrierte sie sich auf die Straße. Sie war nicht besonders beunruhigt, denn sie hatte schon ein paar Abenteuer hinter sich und konnte sowohl mit Waffen als auch mit Magie umgehen.

Aber dann schien alles zu verschwimmen, als hätte ein Zauber das Lager verschlungen, und Shoudra stieß einen leisen Schrei aus und setzte dazu an, ins Unterholz zu fliehen.

Sie hielt allerdings gleich wieder inne, denn sie begriff, dass dieser Zauber nicht das Werk eines Feindes war, sondern Nanfoodles Tat. Sie starrte den Gnom wütend an, der ihren Blick unter der Kapuze her erwiderte und von einem Ohr zum anderen grinste. Er legte einen Finger an die Lippen, um ihr Schweigen zu erbitten.

Und schon rückte das Pferd in ihr Blickfeld, ein großer, muskulöser rotbrauner Hengst, auf dem ein hoch gewachsener Mann in einem grauen Schlechtwetterumhang saß. Der Mann zügelte sein Tier und stieg dann mit geübten Bewegungen aus dem Sattel. Er stellte sich vor das Pferd, wischte sich den Staub vom Umhang und verbeugte sich höflich – vor einen Baum ein paar Fuß seitlich von Nanfoodle.

Der Reiter schien um die vierzig zu sein, aber er war gut in Form, und sein schwarzes Haar war nur von wenig Grau durchsetzt. Er trug ein Breitschwert an der linken Hüfte und einen Dolch an der rechten, und als er sich dem angeblichen Gnom nun näherte, lag seine rechte Hand auf dem Griff dieser kleineren Waffe, in einer Position, die für ein ungeübtes Auge nur nach Bequemlichkeit ausgesehen hätte. Eine erfahrene Beobachterin wie Shoudra erkannte jedoch sofort die Verteidigungsbereitschaft in dieser Haltung. Sie konnte aus dem Winkel seines rechten Arms sehen, dass er die Hand sofort drehen, die Waffe ziehen und in einer einzigen fließenden Bewegung werfen könnte.

»Seid gegrüßt, guter Gnom«, sagte der Mann zu dem Baum, und Shoudra musste sich anstrengen, um nicht zu kichern.

Sie schaute zu Nanfoodle hin, der noch breiter grinste und nachdrücklicher versuchte, sie zum Schweigen zu veranlassen. Der Kleine begann abermals, mit den Fingern zu fuchteln.

»Ich bin Galen Firth aus Nesme«, stellte der Mann sich vor.

»Und ich bin Nanfoodle, Erster Alchemist des Markgrafen von Mirabar«, antwortete der Baum durch die Kraft des Illusionszaubers. »Sagt uns bitte, guter Mann, was Ihr in dieser Region tut. Ihr seid weit von zu Hause entfernt.«

»Ebenso wie Ihr«, stellte Galen fest.

»In der Tat, aber es ist unser Lager, in dem Ihr gerade steht«, erwiderte Nanfoodles auserwählter Baum.

Wieder verbeugte sich Galen.

»Ich bringe schlechte Nachrichten aus Nesme«, verkündete er. »Die Sumpfkerle und Trolle haben uns angegriffen. Unsere Situation ist verzweifelt – ich weiß nicht einmal, ob meine Leute der Belagerung noch standhalten.«

»Wir können schnell nach Mirabar zurückkehren!«, erklang eine Stimme von der Seite, Shoudras Stimme, und nun ging sie auf Galen zu.

Nachdem sein Zauber nutzlos geworden war, löste Nanfoodle ihn auf, und Galen Firth blinzelte mehrmals und versuchte angestrengt, sich zu orientieren.

»Ich bin die Sceptrana von Mirabar«, erklärte Shoudra, als Galen sich schließlich auf sie konzentrierte. »Lasst uns sofort nach Mirabar zurückkehren, damit ich Markgraf Elastul überreden kann, Euch seine Wache zu Hilfe zu schicken.«

»Es sind bereits Reiter auf dem Weg zu Eurem Markgrafen«, erklärte Galen, und er blinzelte abermals und sah sich um. »Ich bin nach Mithril-Halle und zum Hof von König Bruenor Heldenhammer geschickt worden.«

Endlich hatte Firth den echten Nanfoodle entdeckt, und er schaute von dem Gnom zu dem Baum, über den Nanfoodle seine Illusion gelegt hatte, als versuchte er immer noch herauszufinden, was geschehen war und warum er sich mit einem Baum unterhalten hatte.

»Das ist auch unser Ziel«, sagte Nanfoodle und trat in den Lichtkreis des Lagerfeuers. »Verzeiht die Illusion, die Euch grüßte, guter Reiter aus Nesme. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

»In der Tat«, sagte Galen. »Besonders, wenn man es mit Illusionisten zu tun hat.«

Nanfoodle grinste und verbeugte sich.

»Euer Pferd ist schweißnass«, stellte Shoudra fest. »Es kann Euch in dieser Nacht nicht mehr viel weiter tragen. Kommt, setzt Euch zu uns, esst mit uns und erzählt uns mehr von Nesme. Wir werden Euch so schnell wie möglich zu König Bruenor begleiten, und ich werde alles tun, was ich kann, um Euch zu unterstützen.«

»Das ist sehr großzügig von Euch, Sceptrana«, erwiderte Galen.

Er führte sein Pferd ein paar Schritte beiseite und band es an.

»Das sind wirklich schlechte Nachrichten«, flüsterte Nanfoodle Shoudra zu, als sie allein am Feuer waren.

»Ich hoffe, der Markgraf ist Nesmes Bitten zugänglicher, als er sich ansonsten in letzter Zeit Fremden gegenüber gezeigt hat«, erwiderte Shoudra.

»König Bruenor wird Hilfe schicken«, erklärte Nanfoodle, und Galen Firth, der wieder zurückgekommen war, hörte das.

»Ich kann nur hoffen, dass König Bruenor ein schlechtes Gedächtnis hat, was Beleidigungen angeht«, sagte Galen, was ihm von beiden neugierige Blicke eintrug.

»Er kam vor ein paar Jahren durch Nesme«, erklärte der Reiter und nahm den angebotenen Platz auf einem umgestürzten Baumstamm neben dem Feuer an. »Ich fürchte, meine Patrouille hat ihn nicht gut behandelt.« Er seufzte und senkte den Blick, aber dann fügte er rasch hinzu: »Es war nicht König Bruenor, der so viel Zweifel und Angst auslöste, sondern sein Reisebegleiter, ein Drow-Elf.«

»Drizzt Do'Urden«, stellte Shoudra fest. »Ja, ich nehme an, dass Bruenors seltsame Freunde viele beunruhigen.«

»Ich hoffe, der Zwerg wird uns das verzeihen«, sagte Galen, »und erkennen, dass es auch in seinem Interesse ist, Nesme in diesen schlechten Zeiten beizustehen.«

»Nach allem, was wir von König Bruenor gehört haben, ist das zu erwarten«, vermutete Nanfoodle, und Shoudra nickte zustimmend.

Galen Firth nickte ebenso, aber seine Miene blieb grimmig.

Es wurde dunkler, und nach Galens Bericht war die Dunkelheit plötzlich viel furchterregender geworden.

»Das hat Knurrbauch wirklich gut gemacht«, sagte Banak Starkamboss zu Catti-brie, als er und ein paar andere über die mit Seilen behängte Klippe hinab ins Tal blickten, wo sich eine beträchtliche Zwergenstreitmacht von Osten nach Westen bewegte.

»Man kann sich auf ihn verlassen«, erklärte Catti-brie.

»Ei, ei!«, stimmte Pikel Felsenschulter zu.

»Nun, ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass das Tal hinter uns gesichert ist«, schloss sich Ivan Felsenschulter an. »Aber ich denke immer noch, dass dieser Gebirgskamm dort drüben ein Problem sein könnte.«

Alle Augen richteten sich nach Nordwesten, als Ivan sie an diesen lang gezogenen Kamm erinnerte, das einzige höher gelegene Gelände in der Nähe, das überhaupt zugänglich schien. »Die Orks sind offenbar mit Riesen verbündet«, fügte Ivan hinzu. »Sie haben vielleicht vor, ein paar dort oben aufzustellen.«

»Auch Riesen könnten uns von da oben nicht erreichen«, erklärte Banak, wie er es schon zuvor bei ihren Strategiebesprechungen getan hatte. »Es ist zu weit weg.«

»Dennoch, es wäre ein guter Platz für sie«, erwiderte Ivan. »Selbst wenn sie nur ein paar Späher dort aufstellen, könnte es ihnen einen guten Blick auf das gesamte Schlachtfeld liefern.«

»Es ist eine gute Position«, stimmte Torgar Hammerschlag zu.

»Sind deine Späher schon von dem Kamm zurückgekehrt?«, fragte Banak.

»Derzeit ist dort oben niemand«, berichtete Torgar. »Meine Jungs sagen, es gibt unter dem Kamm ein ganzes Netz von Höhlen und Gängen. Sie nehmen an, dass einige davon bis ganz oben führen.«

»Wahrscheinlich«, sagte Ivan.

»Lass mich hundert Zwerge mitnehmen«, bot Torgar an, »und ich werde diese Gänge sichern.«

»Und wenn sie rausfinden, dass ihr dort seid?«, fragte Banak. »Diese Orks stürzen sich dann vielleicht mit ganzer Kraft auf euch. Ich habe nicht vor, hundert Krieger zu verlieren.«

»Das wirst du auch nicht«, versicherte ihm Torgar. »Es gibt einen Eingang direkt westlich von hier, ganz in der Nähe des Klippenrands. Wir könnten schnell drin sein und noch schneller wieder draußen, falls das notwendig wird.«

Banak sah erst Ivan fragend an, dann Catti-brie und Wulfgar.

»Catti-brie und ich werden zu diesem Eingang gehen und die Verbindung halten«, schlug Wulfgar vor.

Banak warf einen Blick auf die Verteidigungsanlagen. Sie hatten die Orks zweimal zurückgeschlagen, wobei der zweite Angriff nicht annähernd so entschlossen gewesen war wie der erste. Der Ork-Anführer hatte einfach noch einmal versucht, die Arbeit der Zwerge zu unterbrechen. Banak war recht beeindruckt von dieser für Orks ungewöhnlichen Taktik.

Dennoch, der zweite Angriff hatte die Vorbereitungen der Zwerge kaum gestört, denn Banaks Krieger hatten ihn leicht zurückgeschlagen, und viele hatten nicht einmal aufhören müssen, Steine zu klopfen und aufeinander zu häufen. Das Schlachtfeld war beinahe vorbereitet. Es gab feste Steinwälle, die jeden Ork-Angriff in einen Engpass zwingen würden. Außerdem waren die Ingenieure mit ihren Seilen an der Steilwand so gut wie fertig, und Banak wusste, dass er im Augenblick hundert Zwerge, vielleicht sogar zweihundert, leicht entbehren konnte, ohne seine Kampffähigkeit zu gefährden, denn wenn die Orks nun kamen, würden ohnehin viele Zwerge hinter ihren kämpfenden Verwandten stehen müssen und den ganzen Spaß verpassen.

»Also gut, nimm die Hälfte deiner Leute und feg diese Gänge sauber«, wies Banak Torgar an. »Und sieh dich gut um, was es dort im Norden gibt, sobald du oben auf diesem Kamm angelangt bist, ja?«

»Ich werde dir ein Bild malen«, versprach Torgar mit breitem Grinsen.

»Hi, hi, hi«, sagte Pikel.

»Und wenn sie dich zu heftig angreifen, schaffst du die Jungs wieder raus«, befahl Banak. »Ich möchte König Bruenor nicht gestehen müssen, dass ich all seine neuen Rekruten verloren habe, bevor sie Mithril-Halle auch nur betreten konnten.«

»Du wirst Torgar und die Jungs aus Mirabar nicht an einen Haufen stinkender Orks verlieren!«, erklärte Torgar überzeugt.

»Selbst wenn sie hundert Riesen mitbringen!«, fügte Shingles McRuff, der graubärtige Zwerg neben Torgar, hinzu.

Shingles zwinkerte Banak zu, dann schlug er Torgar freundschaftlich auf die Schulter. Torgars Blick sagte allen, dass die beiden wirklich gute Kameraden waren. Tatsächlich war Shingles schon ein Freund von Torgars Familie gewesen, bevor Torgar seinen ersten Sonnenaufgang über Mirabar gesehen hatte, und das war einige Jahrhunderte her.

Als der Markgraf von Mirabar Torgar so schäbig behandelt hatte, weil er ihm den freundlichen Empfang, den einige von Mirabars Zwergen Bruenor bereitet hatten, übel nahm, war Shingles der Erste gewesen, der sich an Torgars Seite stellte, und der alte Zwerg war auch für den Exodus verantwortlich, der mehr als vierhundert von Mirabars besten Zwergen aus der Stadt und auf die Straße nach Mithril-Halle geführt hatte.

Und dort waren sie nun, weit weg von ihrem alten Zuhause, aber immerhin in Sichtweite ihrer neuen Heimat auf der anderen Seite des Tals der Hüter. Bevor sie auch nur in die Nähe von Mithril-Halle gekommen waren, waren sie der Karawane begegnet, die mit dem verwundeten König Bruenor aus Senkendorf geflohen war. Torgar, Shingles und die Zwerge aus Mirabar hatten in der Nachhut dieser Karawane gekämpft und sich hervorragend geschlagen.

Selbst jetzt, da die Ork-Horden sie von allen Seiten bedrängten, zeigte keiner der Zwerge aus Mirabar die geringste Neigung, wieder in seine alte Stadt im Westen zurückzukehren.

Nicht ein Einziger.

Und bald nach Torgars Gespräch mit Banak schreckte auch kein Einziger davor zurück, sich freiwillig für den gefährlichen Dienst in den unterirdischen Gängen des Gebirgskamms zu melden.

Torgar überließ es Shingles, die zweihundert auszuwählen, die sie begleiten würden.

Den drei Gästen war deutlich anzusehen, dass der Anführer, der vor ihnen auf dem Thron von Mithril-Halle saß, nicht derjenige war, den sie erwartet hatten.

Aber Regis ließ sich von solch offensichtlichen Zweifeln nicht einschüchtern.

»Ich bin der Verwalter von Mithril-Halle«, erklärte er, »und übe dieses Amt im Namen und im Interesse von König Bruenor aus.«

»Und wo ist Euer König?«, fragte Galen Firth ein wenig ungehalten.

»Er erholt sich von schweren Verletzungen«, gab Regis zu und hoffte, dass diese Beschreibung der Wahrheit entsprach. »Er stand bei dem Kampf, von dem Ihr gehört habt, als man Euch durch das Tal führte, in vorderster Front.«

Galen wollte etwas sagen, aber Regis beugte sich vor und setzte eine so strenge Miene auf, wie es bei seinen engelhaften Zügen nur möglich war.

»Ich habe bereits Gerüchte darüber gehört, wer Ihr drei seid, die Ihr hier in solch gefährlichen Zeiten ungebeten – wenn auch sicher nicht unwillkommen! – erscheint. Bevor ich mehr von Euren verständlichen Fragen beantworte, würde ich aber gerne noch einmal von Euch persönlich hören, mit wem ich es zu tun habe und worin Euer Anliegen besteht.«

»Ich bin Galen Firth von den Reitern von Nesme«, sagte Galen, und seine Erwähnung der Reiter ließ eine Spur von Missbilligung über die Züge des Halblings zucken. »Und ich bin hier, um König Bruenor zu bitten, meiner belagerten Stadt Hilfe zu schicken. Die Trolle haben sich aus dem Moor erhoben, und wir werden schwer bedrängt!«

Regis rieb sich das Kinn, dann warf er einen Blick zu den Heldenhammer-Zwergen, die neben dem Thron standen. Nesme war weit entfernt; konnte er es wagen, Krieger aus Bruenors Sippe so weit weg und in solche Gefahr zu schicken? Er nickte Galen zu, denn im Augenblick konnte er nichts weiter für ihn tun.

»Und Ihr seid die Sceptrana von Mirabar«, stellte Regis fest und wandte sich Shoudra zu. »Das hat man mir schon gesagt, und ich erkenne Euch ohnehin, da ich erst vor kurzem zu Besuch in Eurer Stadt war.«

»Eure Handwerksarbeiten sind in Mirabar sehr begehrt, Verwalter Regis«, sagte Shoudra höflich und verbeugte sich tief. »Shoudra Sternenglanz, zu Diensten von Mithril-Halle. Das hier ist mein Assistent Nanfoodle Buswilligan.«

»Zu Diensten von Mithril-Halle?«, wiederholte Regis. »Oder seid Ihr hier, um nach Euren widerspenstigen Zwergen zu sehen?«

Der Gnom neben Shoudra plusterte sich auf, aber die Sceptrana lächelte nur noch strahlender.

»Ich hoffe sehr, dass es Torgar gut geht«, erwiderte sie, als hätte sie der Auszug von Torgar und seinen Leuten kein bisschen gestört.

»Aber Ihr wollt Euch ihm nicht anschließen«, stellte Regis fest.

Shoudra lachte leise über diese scheinbar absurde Vorstellung und sagte: »Ich stimme nicht mit Torgars Ansichten überein, und auch nicht mit denen derer, die ihn aus Mirabar hierher begleitet haben, aber ich war diejenige, die Markgraf Elastul überzeugt hat, dass er die Zwerge gehen lassen muss, wenn sie das wollen. Es war ein trauriger Tag für Mirabar, als Torgar Hammerschlag und seine Leute die Stadt verließen.«

»Und nach Mithril-Halle gingen«, erinnerte Regis sie. »Wo sie wie Brüder aufgenommen wurden – eine Verbindung, die vom ersten Tag an, seit wir Torgar in den Bergen nördlich von hier begegnet sind, durch Kämpfe Seite an Seite gefestigt wurde. Sie gehören jetzt zur Heldenhammer-Sippe. Seid Ihr Euch dessen bewusst?«

»Ja, und obwohl es mir sehr wehtut, akzeptiere ich es«, schloss Shoudra mit einer weiteren Verbeugung.

»Warum seid Ihr dann gekommen?«

»Ich bitte um Verzeihung, Verwalter Regis«, unterbrach Galen Firth, »aber ich bin nicht hier, um mir einen Streit über den Zustand irgendwelcher ausgewanderter Zwerge anzuhören. Meine Stadt wird belagert, meine Anliegen sind dringend.« Einige Zwerge an der Seite des Raums begannen sich zu rühren und sprachen leise miteinander, als Galens Stimme stetig zorniger und lauter wurde. »Könntet Ihr Euer Gespräch mit Sceptrana Shoudra nicht später weiterführen?«

Regis hielt inne und starrte den hoch gewachsenen Mann lange an.

»Ich habe Euch angehört«, erklärte der Halbling, »und ich bedauere die Situation in Nesme zutiefst. Ich habe ebenfalls einige Erfahrung mit diesen Geschöpfen, da ich die Trollmoore auf unserer Suche nach Mithril-Halle durchquert habe.«

Sein Blick zeigte Galen deutlich, dass der Halbling sich sehr gut daran erinnern konnte, wie schäbig die Reiter von Nesme Bruenor und seine Begleiter an jenem lange zurückliegenden Tag behandelt hatten.

»Aber Ihr könnt nicht von mir erwarten, dass ich die Tore von Mithril-Halle weit aufreiße und alle Krieger nach Süden schicke, wenn eine Horde von Orks und Riesen uns im Norden bedrängt«, fuhr Regis fort und warf einen Blick zu den Zwergen.

Zu seiner Freude nickten sie zustimmend. »Wir werden uns sehr bald ausführlich über Eure Situation unterhalten, aber bevor ich diese Audienz beende, möchte ich über die Absichten aller Gäste von Mithril-Halle so genau wie möglich informiert sein, damit ich diese Informationen dem Rat vorlegen kann.«

»Wir müssen schnell handeln!«, erklärte Galen.

»Und ich habe nicht die Macht, Euch zu geben, was Ihr wünscht!«, erwiderte Regis mit lauter Stimme. Er stand vom Thron auf und ging auf dem Podest ein paar Schritte vorwärts. Nun konnte er dem hoch gewachsenen Mann beinahe direkt in die Augen sehen. »Ich bin nicht König Bruenor. Ich bin überhaupt kein König. Ich bin ein Verwalter, ein Berater. Ich werde Eure Situation ausführlich mit Zwergen besprechen, die besser verstehen, was Mithril-Halle tun könnte und was nicht, um Nesme in seiner Not zu helfen, besonders, da auch wir uns in einer Notsituation befinden.«

»Dann habe ich im Augenblick also nichts mehr zu erwarten?«, fragte Galen, der Regis' Blick ohne zu blinzeln erwidert hatte.

»So ist es.«

»Dann bin ich demnach entlassen?«, fragte Galen. »Darf ich annehmen, dass mir Mithril-Halle zumindest Unterkunft für die Nacht gewähren wird?«

Das »zumindest« ließ Regis die Stirn runzeln.

»Selbstverständlich«, sagte er schließlich, obwohl er dabei kaum die Zähne auseinander brachte.

Dann wandte sich der Halbling zur Seite und nickte. Zwei Zwerge traten neben Galen. Der Mann erwiderte das Nicken auf eine Art, die eher schroff als höflich war, und verließ dann den Audienzsaal, wobei seine schweren Stiefel nachdrücklich auf den Steinboden stampften.

»Er hat Angst um seine Stadt, das ist alles«, sagte Shoudra, als Galen außer Hörweite war.

»Ich weiß«, erwiderte Regis. »Und ich kann seine Angst und seine Ungeduld verstehen. Aber ich fürchte, die Heldenhammer-Sippe hält Nesme nicht unbedingt für eine freundlich gesinnte Stadt, denn Nesme hat den Bewohnern von Mithril-Halle in der Vergangenheit nicht viel Freundschaft gezeigt. Als wir vor vielen Jahren auf der Suche nach der Halle waren, sind wir direkt außerhalb der Trollmoore einer Gruppe der Reiter von Nesme begegnet. Sie wurden von einer Bande von Sumpfkerlen schwer bedrängt. Bruenor zögerte nicht, ihnen zu Hilfe zu eilen – ebenso wenig wie Wulfgar oder Drizzt. Wir haben ihnen das Leben gerettet, und man hat uns zum Dank dafür eine deutliche Abfuhr erteilt.«

»Wegen des Drow«, sagte Shoudra.

»Das stimmt.« Regis seufzte. Er zucke die Achseln und lehnte sich zurück. »Das an sich war auch nicht unbedingt ein Problem. Es ist schon häufiger passiert und wird wieder passieren.«

Damit bezog er sich unter anderem auch auf die Behandlung, die der Karawane aus dem Eiswindtal am Tor von Mirabar zuteil geworden war, wo man Drizzt Do'Urden nicht in die Stadt gelassen hatte. Die Frau und der Gnom wechselten einen verlegenen Blick.

»Nachdem wir Mithril-Halle zurückerobert hatten, wurde Siedelstein wieder aufgebaut«, fuhr der Halbling fort. »Von Kriegern aus Uthgardt, nicht von Zwergen.«

»Ich erinnere mich an Berkhtgar den Tapferen und seine Leute«, sagte Shoudra.

»Es war zu Beginn eine viel versprechende Gemeinde«, erklärte Regis. »Wir hofften alle, dass die Barbaren aus dem Eiswindtal hier gut leben könnten. Aber so eng ihre Beziehung zu Mithril-Halle auch war, ihre wichtigsten Handelsgüter – Felle – waren nicht unbedingt von Nutzen für Zwerge, die unter der Erde leben, wo die Temperatur kaum schwankt. Wenn Nesme, die nächste Nachbarstadt, mit Siedelstein eifriger Handel getrieben hätte, würde der Ort heute noch existieren. Stattdessen ist er nur eine weitere verlassene Ruine am Bergpass.«

»Die Bewohner von Nesme führen ein schwieriges Leben«, wandte Shoudra ein. »Sie stehen dort am Rand der Moore beinahe ununterbrochen im Kampf. Tragische Erfahrungen haben sie gelehrt, sich beinahe ausschließlich auf sich selbst zu verlassen. Nicht eine einzige Familie in Nesme blieb von Verlusten verschont. Die meisten haben mit ansehen müssen, wie mindestens einer ihrer Lieben von schrecklichen Trollen verschleppt wurde.«

»Das alles ist wahr«, gab Regis zu. »Und ich verstehe es. Aber ich konnte Galen keine Hilfe versprechen. Nicht jetzt. Nicht, wenn Bruenor dem Tode nahe ist und die Orks vor unseren Toren stehen.«

»Dann bietet ihm Zuflucht an«, schlug Shoudra vor. »Sagt ihm, wenn die Stadt tatsächlich überrannt werden sollte, können die Bewohner nach Mithril-Halle kommen, wo sie Freundschaft, Trost und Zuflucht finden werden.«

Regis nickte, noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, denn genau das hatte er selbst auch im Sinn gehabt.

»Vielleicht können wir auch ein paar Krieger mit nach Nesme schicken«, sagte der Halbling. Er hielt einen Augenblick inne, dann schnaubte er. »Ich bin ein schöner Verwalter – bitte eine Besucherin um Rat!«

Shoudra setzte zu einer Erwiderung an, aber Nanfoodle war schneller: »Die besten Anführer sind jene, die mehr zuhören als reden.«

Das ließ Shoudra und Regis lächeln, aber der Halbling fragte: »Ist das nun ein Zeichen von Weisheit oder von Unsicherheit?«

»Für einen, dessen Handeln großen Einfluss auf das Leben anderer hat, ist das ein und dasselbe«, sagte Nanfoodle.

Regis dachte über diese Bemerkung nach und fand sie tröstlich. Dennoch, der beste Anführer, den Regis je gekannt hatte, war Bruenor Heldenhammer, und der Zwerg hatte bei seinen Entscheidungen nie einen Hauch von Unsicherheit gezeigt, nicht einmal bei den verwegensten.