Menschengrößen
You can’t teach height.
Frank Layden, ehemaliger Basketball-Trainer
Menschen sind bei der Geburt winzig klein und erreichen schon nach wenigen Lebensjahren eine Größe, die es kaum noch erlaubt, sich vorzustellen, dass das Kind einst komplett im Bauch der Mutter Platz hatte. Nach etwa zwanzig Jahren dann ist bei den meisten von uns eine Gesamthöhe von anderthalb bis zwei Metern geschafft. Der dazwischen ablaufende Wachstumsprozess verläuft schleichend und ist daher nur indirekt an den Strichen an der Küchentür zu beobachten. Vieles am Wachstum ist unbekannt und nicht genau verstanden. Hier aber soll es vor allem um die Frage gehen, was am Ende die Größe des Menschen bestimmt. Warum sind manche kleiner und andere größer?
Wichtig für die endgültige Größe eines Menschen sind seine genetischen Anlagen, die beim Zusammenbau von neuen Kindern fest installiert werden. Das Erbgut ist vor allem bei der Betrachtung von Einzelfällen von Bedeutung – kleine Eltern setzen selten große Kinder in die Welt und große Eltern selten kleine. Mittelt man jedoch über ganze Völker, so verschwinden solche individuellen Unterschiede weitestgehend. Inwieweit die durchschnittliche Körpergröße in einer großen Bevölkerungsgruppe von den Genen unabhängig ist, kann man zum Beispiel überprüfen, indem man zwei Probandengruppen vergleicht, die zwar ähnliche mittlere genetische Voraussetzungen aufweisen, aber längere Zeit rigoros voneinander getrennt waren. Eine solche Trennung wurde, ohne Absprache mit der Wissenschaftswelt, über vierzig Jahre in Deutschland aufrechterhalten. Das Ergebnis dieses «Experiments»: Die Menschen in der DDR waren am Ende im Mittel etwa einen Zentimeter kleiner als die im Westen Deutschlands. Noch drastischer fallen die Unterschiede zwischen Nord- und Südkorea aus. Daniel Schwekendiek von der Universität Tübingen fand heraus, dass sechsjährige Jungen in Nordkorea im Jahr 1997 mehr als 15 Zentimeter kleiner waren als ihre Altersgenossen in Südkorea. Weil Nord- und Südkoreaner sich aber innerhalb einiger Jahrzehnte nicht genetisch auseinanderentwickelt haben können, müssen andere Einflüsse für diese Unterschiede verantwortlich sein. Das Erbgut, so wird heute meist angenommen, legt nur die Obergrenze des Wachstums fest. Wie weit man dann tatsächlich in die Höhe schießt, wird auf andere Art und Weise bestimmt.
Menschen wachsen wie alle Lebewesen nur, wenn man ihnen Dinge zuführt, aus denen sie neue Zellen bauen können: Eiweiße, Kohlenhydrate, Fette, außerdem größere Mengen Luft und Wasser und zudem noch eine lange Liste von sonstigen Stoffen. Dass die Zusammensetzung und Menge der Nahrung Auswirkungen auf die mittlere Körpergröße hat, steht heute außer Frage. Ernährung ist aber bei weitem nicht der einzige Faktor. Krankheiten zum Beispiel hemmen das Wachstum, weil das Kind seine Kraft zu ihrer Bekämpfung einsetzt und kaum noch Energie zum Größerwerden zur Verfügung hat. Deshalb spielt offenbar die Krankheitsvorsorge eine Rolle, also Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen und regelmäßige Überwachung der Gesundheit der Kinder. Weiterhin scheint die Größe der Menschen von so schwer messbaren Dingen wie Zuneigung, Geborgenheit und Glück abzuhängen. Maria Colwell, ein in den 1960er Jahren geborenes englisches Mädchen, hörte, so sagt man, jeweils mit dem Wachsen auf, wenn man sie zu ihren Eltern ließ, weil es ihr dort schlecht erging. Brachte man sie ins Krankenhaus, wurde sie umgehend größer. Andere Kinder wie Oskar Matzerath sind überzeugt davon, dass Großwerden sich nicht lohnt, und auch Pippi Langstrumpf beschwor die erbsenförmigen Kindergötter: «Liebe kleine Krummelus, niemals will ich werden gruß!» Beide existieren jedoch nur in Büchern, weswegen ihre Meinung wohl nicht allzu viel Gewicht hat.
Offenbar wird die endgültige Körpergröße also von einer Ansammlung schwer fassbarer Faktoren bestimmt, die man in ihrer Gesamtheit als «biologischen Lebensstandard» bezeichnet. Nochmal zur Erinnerung: Dies gilt nur, wenn man über große Bevölkerungsgruppen mittelt, weswegen es meist unangebracht ist, sich bei seinen Eltern über unzureichende Nahrungszufuhr zu beklagen, nur weil man sich zu klein vorkommt.
Die Fachleute für das Zusammenspiel zwischen Menschengrößen und Lebensstandard, zum Beispiel John Komlos von der Universität München oder der Amerikaner Richard Steckel, nennen sich «Auxologen». Ihr Ziel ist es nicht nur, die Ursachen des Wachstums herauszufinden, sondern, wenn das einmal bekannt ist, die Körpergrößen als Indikator für die Lebensqualität des Menschen zu verwenden. Das ist eine wichtige Aufgabe, denn um Glück und Wohlstand der Menschheit zu vermehren, muss man zunächst einen Weg finden, diese schwer messbaren Größen zu erfassen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden solche schwammigen Konzepte wie «gesamtgesellschaftliches Wohlbefinden» aus Mangel an Alternativen vorwiegend mit Hilfe von Daten aus der Wirtschaftsforschung erfasst. Man ging einfach davon aus, dass es den Menschen insgesamt besser gehen würde, wenn das Bruttosozialprodukt zunimmt. Leider hängen für die Lebensqualität ausgesprochen wichtige Faktoren wie die Verbrechensrate, die Sicherheit des Arbeitsplatzes oder die Nähe zum Schwimmbad nur sehr indirekt von reinen Wirtschaftsdaten ab. Daher wäre es wünschenswert, das Wohlbefinden der Menschheit mit besseren, objektiveren Maßstäben zu messen, zum Beispiel mit Hilfe der Körpergrößen. Ein wichtiger Vorteil: Sie sind leicht erfassbar, auch bei Leuten, die schon seit Jahrhunderten tot sind.
In vielen Fällen ist der Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Größe der Menschen unstrittig. So steigt die mittlere Körpergröße in den meisten Ländern der sogenannten Ersten Welt seit der Industrialisierung stetig an. Der durchschnittliche Europäer ist heute etwa zwanzig Zentimeter größer als vor 150 Jahren. Andererseits sinkt die mittlere Körpergröße spürbar in Zeiten von Krieg und Vertreibung, zum Beispiel während des amerikanischen Bürgerkriegs. Auch soziale Unterschiede machen sich bemerkbar: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die 14-jährigen Jungen aus der Unterschicht etwa einen Kopf kleiner als Gleichaltrige aus wohlhabenden Familien. Schwarzafrikaner im reichen Nordamerika sind deutlich größer als ihre ehemaligen Landsleute in Afrika. Schließlich lässt sich das mangelnde Wachstum der Kinder in Nordkorea recht eindeutig auf Hungersnöte und wirtschaftlichen Zusammenbruch zurückführen. Heute leben die größten Menschen in Holland und Skandinavien – Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen und umfassender sozialer Absicherung.
Aber es gibt wichtige Ausnahmen, die verdeutlichen, wie viele verschiedene Dinge beim Wachstum der Menschen zusammenspielen. Ein Beispiel ist das sogenannte Antebellum-Paradoxon: In der Frühphase der Industrialisierung im 19. Jahrhundert stieg das Pro-Kopf-Einkommen zwar deutlich an, die Menschen jedoch schrumpften, und zwar in allen bisher untersuchten Ländern. Wie ist das zu erklären? Warum tun die Menschen das? Man gibt ihnen mehr Geld, Eisenbahnen, moderne Fabriken – bessere Lebensqualität, möchte man meinen –, und sie werden zum Dank kleiner? An möglichen Erklärungen mangelt es keineswegs. Der Wirtschaftshistoriker Jörg Baten untersuchte das Phänomen anhand von Daten aus dem Münsterland. Dort war die Einführung der Eisenbahn schuld am Rückgang der Körpergrößen, allerdings nur in ländlichen Gegenden in direkter Umgebung der Großstadt. Der Grund: Produkte wie Milch und Eier konnten plötzlich auf dem lukrativen Markt in der Stadt verkauft werden, wodurch sich die Ernährungssituation auf dem Land verschlechterte. Gerade das Eiweiß der Kuhmilch ist von besonderer Bedeutung für den Wachstumsprozess. In manchen Gegenden findet man gar einen klaren Zusammenhang zwischen Körpergröße und Anzahl der Kühe pro Einwohner. Obwohl Eisenbahn und Kühe die Lebensqualität erhöhen, verursacht ihr Zusammenwirken unter Umständen ein Schrumpfen der Menschen.
Wie dieses Beispiel zeigt, können die Ursachen für die letztlich erreichte Größe der Menschen überaus komplex sein. Aus diesem Grund rufen Kritiker der Auxologie, zum Beispiel die amerikanische Ökonomin Mary Eschelbach Hansen, zu großer Vorsicht bei der vorschnellen Interpretation von Körpergrößen auf. Nicht in jeder Situation ist der Zusammenhang zwischen Lebensqualität und Körpergröße eindeutig und leicht durchschaubar. Manchmal hängt alles von scheinbar Nebensächlichem ab – zum Beispiel von Zügen und Kühen.
Hier nun eines der größten Rätsel der Auxologie: Die Europäer haben die Amerikaner überholt. Mitte des 19. Jahrhunderts waren Nordamerikaner im Durchschnitt sechs Zentimeter größer als Europäer. Das Land war weit, die Möglichkeiten unbegrenzt, Nahrung im Überfluss vorhanden und ernsthafte Krankheiten Mangelware. Selbst schwarze Sklaven gerieten zu dieser Zeit deutlich größer als das europäische Bürgertum. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Während in Europa seit zweihundert Jahren die Durchschnittsgrößen kontinuierlich ansteigen, hörten die Amerikaner einfach auf zu wachsen. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs betrug der Unterschied immer noch fünf Zentimeter, aber Mitte des 20. Jahrhunderts wuchsen die Europäer den Amerikanern über den Kopf. Heute sind Europäer im Mittel mehrere Zentimeter größer als US-Amerikaner. Die längsten Europäer, Holländer und Skandinavier, überragen die Amerikaner sogar um mehr als sieben Zentimeter. Und das, obwohl die Amerikaner seit etwa einem Jahrhundert die reichsten Menschen des Planeten sind.
Wo also ist hier der versprochene Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Körpergrößen? Wenn es nicht das Geld ist, was ist es dann, das Europäer zu so ungebremstem körperlichem Wachstum ermuntert und Amerikaner nicht? John Komlos und Richard Steckel haben zahlreiche Erklärungsmöglichkeiten getestet und die meisten davon widerlegt. Die heute bevorzugte Theorie sieht die Ursachen für die Stagnation der Amerikaner in größerer sozialer Ungleichheit, geringerer sozialer Sicherheit und schlechter Gesundheitsversorgung. Holland zum Beispiel, wo die Männer im Durchschnitt über 1,80 Meter in die Höhe ragen und wo man außerdem gern Kuhmilch trinkt, hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, insbesondere für Schwangere und Kleinkinder. Allgemein ist in Europa der Zugang zu Gesundheitsleistungen gerechter geregelt als in den USA; der Anteil der nicht krankenversicherten Menschen ist deutlich geringer, der Unterschied zwischen Arm und Reich kleiner.
Aber wenn soziale Ungleichheit die Lösung wäre, müsste es dann nicht irgendwo in Amerika eine Gruppe von Menschen geben, die den allgemeinen Trend nicht mitmacht, sondern weiterwächst? Irgendeine Bevölkerungsgruppe wird sich doch die besten Krankenhäuser, die fähigsten Ärzte, die teuersten Lebensmittel und die meisten Kindermädchen leisten können. Man sollte außerdem erwarten, dass die Größenunterschiede zwischen Armen und Reichen im Laufe der Jahre ansteigen. All dies lässt sich leider nicht belegen. Es sieht so aus, als hätten alle Bevölkerungsschichten in den USA, reich und arm, schwarz und weiß, gebildet und ungebildet, vor einigen Jahrzehnten aufgehört zu wachsen. Es muss irgendeinen Faktor geben, der die Amerikaner am Wachsen hindert und der bisher übersehen wurde.
Ungeklärt ist außerdem, wie groß die Menschen überhaupt werden können. Irgendwo liegen genetische und vermutlich auch physikalische Grenzen des Wachstums, denn ein Mensch ist nun mal keine Giraffe. Aus Norwegen, auch ein Land der modernen Riesen, stammen erste Hinweise auf eine optimale, «gesunde» Körpergröße: Die Sterblichkeit der Norweger nimmt mit zunehmender Körpergröße ab, erreicht ungefähr bei 1,90 ein Minimum und steigt danach wieder an. Demzufolge würde man statistisch gesehen am längsten leben, wenn man relativ groß, aber nicht riesig ist. Sehr große Menschen erkranken beispielsweise häufiger an Krebs, und sie stoßen sich häufiger den Kopf am Türrahmen. Die gesunde Obergrenze ist bisher allerdings nirgendwo auch nur annähernd erreicht – vorerst kann der mittlere Holländer unbesorgt weiterwachsen.
Nehmen wir zum Schluss vereinfachend an, dass Menschen, die ein gesünderes Leben führen, größer werden – nochmal erinnert, nur im Durchschnitt. Selbst dann stellt sich die Frage, ob es auch ein schöneres Leben ist. Im 5./6. Jahrhundert waren die Menschen im rückständigen Bayern groß, gesund und langlebig; trotzdem hätten es vermutlich viele von ihnen vorgezogen, ein paar hundert Jahre vorher in Rom zu leben, wo es viel interessanter war und auch deutlich mehr unterhaltsame Gladiatorenkämpfe stattfanden – obwohl die Körpergrößen dort stagnierten. Wie man also die tatsächliche Lebensqualität (und nicht «nur» den biologischen Lebensstandard) misst, darüber sollte man vielleicht nochmal nachdenken.