Halluzinogene
Wenn Gott LSD nimmt, sieht er dann Menschen?
Steven Wright, US-Komiker
Das menschliche Gehirn lässt sich so leicht und gern von allem Möglichen verwirren, dass man es der Evolution hoch anrechnen muss, dass sie uns in die Lage versetzt hat, wenigstens ab und zu Kraftfahrzeuge zu führen. Schließlich gibt sich die Natur alle Mühe, unsere Umwelt mit optischen Täuschungen und chemischen Stoffen anzureichern, die unsere Wahrnehmung aus der Kurve tragen. Tauchen dabei weiße Mäuse auf, wo nach allgemeiner Übereinkunft keine sind, nennt man das eine Halluzination. Halluzinogene (also «Halluzinationen erzeugende Substanzen») tragen daher ihren Namen nicht ganz zu Recht, da sie lediglich die Wahrnehmung des Vorhandenen verändern, indem sie etwa statt anwesender weißer Mäuse farbige auf den Plan treten lassen. Einige Experten plädieren deshalb für die Umbenennung dieser Stoffe in «Psychedelika» (also «die Seele offenbarende Substanzen»), aber solange nicht geklärt ist, ob die Seele wirklich ein Fell und vier Beine hat, bleiben wir erst mal bei der Bezeichnung «Halluzinogene».
Solche Substanzen kommen nicht nur in mehreren hundert Pflanzen und vielen Pilzen, sondern auch in einigen Kröten- und Fischarten vor – immerhin sind bisher keine halluzinogenen Steine bekannt geworden. Neben den klassischen Halluzinogenen wie LSD, Psilocybin und Meskalin gibt es eine Vielzahl von natürlichen und synthetischen Stoffen, die auf unterschiedlichen pharmakologischen Wegen eine relativ ähnliche Wirkung entfalten: Zu den körperlichen Folgen gehören Schwindel, Schwäche, Benommenheit und Sehstörungen. Die Wahrnehmung verändert sich, auf Farben und Formen ist kein Verlass mehr, und es können sich Synästhesien einstellen, also die Wahrnehmung farbiger Töne oder viereckiger Gerüche. Hinzu kommt das Gefühl zu träumen, eine teils drastisch veränderte Zeitwahrnehmung und im Extremfall der Eindruck, die ganze Persönlichkeit löse sich auf wie ein Zuckerwürfel im Kaffee.
Obwohl Halluzinogene zum Teil seit vielen Jahrhunderten in Religion und Freizeit im Einsatz sind, wissen wir nicht viel darüber, was sie mit dem Gehirn anstellen. Bekannt ist, dass sie allesamt an Rezeptoren für Neurotransmitter im Gehirn andocken. Neurotransmitter sind Botenstoffe, mit denen der Spalt zwischen den Ausläufern zweier Nervenzellen überbrückt wird. Anstelle dieser Botenstoffe schalten sich die Halluzinogene ein und benehmen sich wie pflichtvergessene Postboten, die jeden Brief öffnen und mit verstellter Handschrift ganz andere Dinge hineinschreiben. Seit den 1970er Jahren sind einige Fortschritte in der Identifikation der zuständigen Rezeptoren gemacht worden, aber wie es durch diesen Vorgang zu den beschriebenen Wirkungen auf das Gehirn kommt, ist nicht besonders gründlich erforscht.
Interessant an den Halluzinogenen ist jedoch nicht nur, dass wir wenig über sie wissen, sondern auch, warum das so ist. Nachdem Albert Hofmann 1943 versehentlich das LSD entdeckt hatte, folgten zwei fruchtbare Jahrzehnte, in denen einige tausend wissenschaftliche Veröffentlichungen über die Wirkungsweise und die therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten der Halluzinogene erschienen. Ab Mitte der 1960er Jahre verschlechterte sich der Ruf dieser Substanzen in der Presse drastisch, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass sich ihr Konsum zum Massenphänomen auswuchs und die durchschnittliche auf der Straße erhältliche LSD-Dosis damals etwa zehnmal so hoch lag wie heute. Die Konsumenten wurden daher häufig einem unerwarteten psychischen Vollwaschgang einschließlich Schleudern unterzogen. US-Politiker vermuteten zudem einen Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Drogenkonsum und den neuen Gewohnheiten ihrer Staatsbürger, die plötzlich lange Haare tragen, Flaggen verbrennen und homosexuell sein wollten.
Im Laufe der 1960er Jahre wurden die gebräuchlichsten Halluzinogene zunächst in den USA immer strenger reguliert und 1970 schließlich ganz verboten; die meisten westlichen Länder zogen mal mehr, mal weniger freiwillig nach. Fachleute mussten sich entscheiden, ob sie auf Kosten der wissenschaftlichen Karriere weiter an den Halluzinogenen forschen oder lieber unauffällig das Thema wechseln wollten. Wahlweise konnte man es auch halten wie die US-Psychiater Jerome Levine und Arnold M. Ludwig, deren Studien in den 1960er Jahren LSD-freundliche, nach dem Wandel der öffentlichen Meinung aber LSD-kritische Ergebnisse erbrachten. Bis Mitte der 1990er Jahre wurden kaum Genehmigungen für neue Studien erteilt, erst dann kam wieder etwas Schwung in die Halluzinogenforschung. Heute gilt als gesichert, dass die gebräuchlichen Halluzinogene weder zu Organschäden noch zu körperlicher oder psychischer Abhängigkeit führen.
Diese schwierige Situation erklärt auch, warum in den letzten Jahrzehnten so wenig am Menschen und so viel an Ratten geforscht wurde. Das ist zwar vermutlich weniger anstrengend, als Halluzinogen-Experimente am Menschen durchzuführen, weil die Ratten dabei nicht die ganze Zeit herumkichern und über Gott reden wollen. Dafür können Ratten aber auch keine Auskunft über die Art der Drogenwirkung geben. Für die meisten heute bekannten synthetischen Halluzinogene existieren nur genauere Angaben zur Wirkungsweise, weil ihr Entdecker, der US-Chemiker Alexander Shulgin, sie in einer langen Reihe von Selbstversuchen getestet und beschrieben hat.
Übrigens nehmen Labortiere im Unterschied zu vielen Menschen nicht gern Halluzinogene ein, wenn man ihnen die Wahl lässt – und das, obwohl sie vor Drogen ohne halluzinogene Wirkung wie Kokain, Heroin, Amphetaminen, Nikotin und Alkohol nicht zurückschrecken. Man braucht, so die Vermutung, ein hochentwickeltes Gehirn, um das unterhaltsam zu finden, was Halluzinogene im Kopf anstellen. Den Ratten verdanken wir jedenfalls einige neue Erkenntnisse über die beteiligten Rezeptoren. Viele halluzinogene Substanzen ähneln in ihrer Struktur offenbar dem Serotonin, einem der wichtigsten Nervenbotenstoffe im Gehirn. Es gibt zahlreiche verschiedene Serotonin-Rezeptoren, wobei die halluzinogene Wirkung wahrscheinlich vor allem durch Aktivierung des sogenannten Serotonin-2A-Rezeptors zustande kommt. Irritierend ist dabei, dass speziell LSD diesen Rezeptor ziemlich unbeeindruckt lässt, trotzdem aber schon in kleinster Dosierung dramatische Wahrnehmungsveränderungen auslöst und erheblich stärker wirkt als andere Halluzinogene. Daher sind vermutlich noch andere Rezeptoren im Spiel, darunter solche für den Nervenbotenstoff Dopamin.
Leser, die jetzt nicht so ganz nachvollziehen können, wie diese Vorgänge an Rezeptoren dazu führen, dass das Gehirn vom normalen Wachbewusstsein in einen anderen Bewusstseinszustand umschaltet, befinden sich in guter Gesellschaft, denn das geht Fachleuten nicht wesentlich anders. In den letzten Jahren sind aber gewisse Fortschritte zu verzeichnen: Neueren Studien zufolge wirken Halluzinogene vor allem auf das Stirnhirn und den Thalamus, das «Tor zur Wahrnehmung». Stirnhirn und Thalamus gelten als die wahrscheinlichsten Orte, an denen aus äußeren Reizen Bewusstsein gemacht und Realität konstruiert wird, wobei man davon ausgeht, dass es keinen klar umrissenen «Sitz» des Bewusstseins im Gehirn gibt. Eine Erklärung lautet, dass Halluzinogene den Thalamus daran hindern, die auf uns einströmenden Informationen vorzusortieren. Alle Wahrnehmungen dringen jetzt weitgehend ungefiltert ins Stirnhirn vor und benehmen sich dort wie ein Sack Flöhe. Eine 2002 erschienene Studie der University of Utah (überraschenderweise aus dem Fachbereich Mathematik) deutet darauf hin, dass geometrische visuelle Halluzinationen wie Schachbrettmuster, Spinnweben, Tunnels und Spiralen durch die Verwirrung einer spezifischen Gehirnregion entstehen könnten, die ansonsten für die Verarbeitung von Kanten und Umrissen zuständig ist. Auch die Veränderungen der Zeitwahrnehmung werfen interessante Fragen auf, denn wie Zeit im menschlichen Gehirn wahrgenommen und verarbeitet wird, ist alles andere als abschließend erforscht, ob mit oder ohne Drogen. Klar ist jedenfalls, dass die von halluzinogenen Substanzen am stärksten beeinflussten Regionen im Gehirn gleichzeitig die sind, für die sich Bewusstseinsforscher am meisten interessieren. Falls es gelänge, mehr darüber herauszufinden, wie Halluzinogene in die Schaltkreise unseres Gehirns eingreifen, wäre man vermutlich einer Antwort auf die Frage näher, wie aus Gehirnzuständen Bewusstsein werden kann.
Allerdings halten keineswegs alle Fachleute es für selbstverständlich, dass das Bewusstsein durch das Zusammenspiel verschiedener Bereiche eines puddingartigen grauen Organs entsteht. Womöglich ist das Gehirn nur eine Art Fernseher und das Bewusstsein das außerhalb und unabhängig von diesem Empfangsgerät existierende Fernsehprogramm? Zudem darf auch hier die obligatorische Alien-Theorie nicht fehlen: Dem Ethnopharmakologen und Philosophen Terence McKenna zufolge sollten wir nicht darauf hoffen, dass außerirdisches →Leben ausgerechnet mit Hilfe der von uns dafür vorgesehenen technischen Mittel Kontakt zu uns aufnimmt. Vielmehr handelt es sich, so McKenna, beim Psilocybinpilz um eine außerirdische Bewusstseinsform, die im Kontakt mit Planetenoberflächen ein Myzel-Netzwerk ausbildet, sich aber durch den Rest der Galaxie in Form von Sporen verbreitet. Wer mit Außerirdischen sprechen will, braucht daher kein teures Radioteleskop, sondern nur ein paar Fruchtkörper dieses Myzels im Tee.
Auch wenn man solche Vorstellungen für Hippiekram hält, darf man sich die Frage stellen, warum Menschen unter dem Einfluss halluzinogener Substanzen so häufig von den gleichen Ideen heimgesucht werden, die man aus den großen Religionen kennt: die mystische Einheit mit Gott und dem Universum, das menschliche Dasein als Illusion. Kommt der Mensch grundsätzlich immer nur auf dieselben paar Ideen? Oder entspringen Religion und Drogenideen denselben Prozessen im Gehirn? Der Neurowissenschaftler und Verhaltensbiologe Roland Griffiths sagt über eine 2006 an der Johns-Hopkins-Universität durchgeführte Studie über spirituelle Erlebnisse unter dem Einfluss von Psilocybin: «Wir haben dazu noch keine Daten erhoben, aber es gibt gute Gründe für die Annahme, dass tiefen religiösen Erfahrungen ähnliche Mechanismen zugrunde liegen, unabhängig davon, wie diese Erfahrungen zustande kommen (etwa durch Fasten, Meditation, Kontrolle der Atmung, Schlafentzug, Nahtoderfahrungen, Infektionskrankheiten oder psychoaktive Substanzen wie Psilocybin). Die Neurologie des Religionsempfindens heißt heute Neurotheologie und macht als neues Forschungsgebiet von sich reden.» Der US-Psychiatrieprofessor und ehemalige stellvertretende Direktor des Office of National Drug Control Policy (ONDCP), Herbert Kleber, rechtfertigte diese Studie übrigens folgendermaßen vor der Presse: Man habe früher die Jugend nicht durch wissenschaftliche Veröffentlichungen auf dumme Ideen bringen wollen, im Internetzeitalter sei aber so viel Information über Drogen und ihre Verwendung verfügbar, dass eine Studie mehr oder weniger kaum großen Schaden anrichten könne.
Ein Glück, dass es das Internet gibt. Der Pharmakologe David E. Nichols, der am Heffter Research Institute den medizinischen Nutzen der Halluzinogene erforscht, kündigte 1998 an: «So viel ist sicher: Wenn es uns gelingt, unserer Forschung weiterhin die Finanzierung zu erhalten, stehen uns die spannendsten Entwicklungen in der medizinischen Chemie psychedelischer Substanzen noch bevor.» An freiwilligen Versuchspersonen für diese Forschung herrscht jedenfalls kein Mangel. Und das ist auch gut so, denn man muss schließlich auch an die Laborratten denken, die – im Unterschied zu über zwei Dritteln der Versuchspersonen in Roland Griffiths’ Studie – hinterher höchst selten angeben, ein Halluzinogenexperiment habe zu den fünf bedeutsamsten Ereignissen in ihrem Leben gehört.