Leben
Und Gott sprach zu einem Klumpen Schlamm: Steh auf!
Ich, Schlamm, stand auf und sah, wie schön Gott alles hergerichtet hatte.
Ich kann mich nur dann ein winziges bisschen wichtig fühlen, wenn ich an all
den Schlamm denke, der nicht aufstehen und sich umsehen darf.
Ich bekam so viel, der meiste Schlamm so wenig.
Kurt Vonnegut: «Katzenwiege»
Auch heute noch ist vollkommen unklar, wie das Leben auf die Erde kam. Obwohl sich ganze Legionen von Astronomen, Geologen, Chemikern und Biologen mit dieser Frage befassen, sind wir einer Antwort «nicht viel näher als die alten Griechen», wie die Astrophysiker Eric Gaidos und Franck Selsis in einer Zusammenfassung der Lage feststellen. Weil wir nur ein Beispiel für Leben im Universum kennen, nämlich das auf der Erde, muss sich die Forschung zwangsläufig auf diesen einen Spezialfall beschränken. Das ist etwas riskant, denn die Betrachtung eines solchen Spezialfalls kann zu völlig falschen Schlüssen führen, aber es bleibt nichts anderes übrig. Ob wir eine typische Form von Leben sind oder eine eher exotische Entwicklung, sollen künftige Generationen herausfinden.
Es ist noch nicht lange her, da ging man davon aus, dass Leben schon irgendwie spontan aus →Wasser oder Schlamm entstehen würde. Es gab dafür schließlich handfeste Beweise, denn wenn man Abfall und Müll nur eine Weile stehen ließ, kamen scheinbar ganz von alleine Maden und Ratten aus ihm hervor. Die Erfindung des Mikroskops im Jahr 1590 war der Anfang vom Ende dieser schönen, simplen Theorie. Louis Pasteur schlug 1864 den letzten Nagel in ihren Sarg: Sah man sich nämlich die vermeintlich unbelebte Materie etwas genauer an, so stellte sich heraus, dass Leben allgegenwärtig ist – selbst im Abfall.
Die Suche nach dem Ursprung des Lebens auf der Erde ist von doppelter Schwierigkeit. Zunächst muss man herausfinden, wie die Erde kurz nach ihrer Geburt aussah, was bereits nicht leicht ist. Und wenn man das weiß, muss man aus dem, was man auf der leblosen Erde zur Verfügung hat, Leben herstellen, zunächst seine allereinfachsten Bausteine, insbesondere Aminosäuren, die Bestandteile des Eiweißes, und daraus dann primitive Lebensformen. Wie aus diesen in der Folge Pantoffeltierchen und Deutsche Schäferhunde entstehen, ist eine andere Frage, die hier nicht behandelt werden soll.
Wir wissen heute mit großer Sicherheit, dass sich die Erde vor ziemlich genau 4,6 Milliarden Jahren aus einem Schutthaufen bildete, der die Sonne umkreiste – den Resten des Materials, aus dem zuvor die Sonne entstanden war. Aber leider hat niemand die Entwicklung der jungen Erde vernünftig dokumentiert. Alles, was man uns aus den ersten 500 Millionen Jahren hinterließ, ist eine Handvoll alter Steine. Schlimmer noch: Das erste Leben hat überhaupt nichts Brauchbares für uns hinterlassen. Die ältesten Nachweise von Leben sind verschiedene versteinerte Kleinstorganismen, die zwischen 3,5 und 3,8 Milliarden Jahre alt sein dürften – hart umstrittene Zahlen natürlich. Diese Lebewesen und alles, was danach kam, stammen vermutlich von einem «letzten gemeinsamen universalen Vorfahren» («last common universal ancestor», auch LUCA genannt) ab, von dem man lange annahm, dass er vor circa 3,9 Milliarden Jahren die Bühne betrat. Mittlerweile scheint es wahrscheinlicher, dass es bereits vorher losging, auf einer höchst unwohnlichen Erde, die von Kometen und Meteoriten bombardiert wurde und auf der Vulkanausbrüche an der Tagesordnung waren. Es waren die dunklen, wüsten Zeiten der Erdgeschichte, in die man nicht einfach ein Kamerateam von «National Geographic» schicken kann, um bunte Bilder zu erhalten.
Eines weiß man sicher über die frühe, leblose Erde: Es gab noch keinen Sauerstoff; den haben netterweise die ersten Lebewesen für uns produziert. Davon abgesehen ist die Zusammensetzung der Uratmosphäre allerdings umstritten. Seit etwa den 1920er Jahren ist die Vorstellung verbreitet, dass sie im Wesentlichen aus Methan und Ammoniak bestand. Ammoniak riecht ziemlich unangenehm, was nicht gerade dazu beitrug, die frühe Erde zu einem angenehmeren Ort zu machen. Eine solche Atmosphäre hätte jedoch einen entscheidenden Vorteil: Sie bietet günstige Voraussetzungen zur Herstellung von Aminosäuren. Im Jahr 1953 demonstrierte Stanley Miller dies erstmals im Labor. Miller, damals noch Student, versammelte unter Anleitung seines Professors Harold Urey die vermeintliche Uratmosphäre in einem Gefäß, füllte Wasser in ein anderes und ließ beides durch elektrische Entladungen, Blitze also, miteinander wechselwirken. Tatsächlich ergab dieses einfache Kochrezept eine Ursuppe aus Aminosäuren, über deren Geschmack allerdings nichts überliefert ist. Ähnliche Experimente wie Miller und Urey hatte schon 1871 Charles Darwin angestellt, wenn auch nur im Inneren seines Kopfes. Er spekulierte über einen «warmen Teich mit allen möglichen Ammonium- und Phosphorsalzen, Licht, Hitze, Elektrizität», aus dem sich die Bausteine des Lebens formen. Für den Anfang des Lebens braucht man also eine stinkende Atmosphäre, genug Wasser und heftige Gewitter.
Natürlich nur, falls es wirklich Methan und Ammoniak in der Uratmosphäre gab, worüber man sich immer noch nicht einig ist. Aber selbst wenn die Atmosphäre so war, wie sie sich Urey und Miller vorstellten – wo kam das Wasser her? Wasser ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung und Entwicklung von Leben, ohne Wasser kein Urozean und ohne Urozean keine Ursuppe. Wie das Wasser auf die Erde kam, ist allerdings wiederum unbekannt. In einigen Theorien geht man davon aus, dass wasserreiche Himmelskörper, zum Beispiel Meteoriten oder Eiskristalle, die Erde erst relativ spät mit Wasser belieferten. Andere Forscher bauen die Erde aus mehreren kleinen Planetenembryos zusammen, von denen einige Wasser mitbringen. Alle Ansätze sind problematisch. Manchmal kommt zwar Wasser an, aber es verschwindet sofort wieder, manchmal kommt auch Wasser an, aber nur, wenn man großes Glück hat, manchmal klappt es auch überhaupt nicht. Und weil umstritten ist, wie und wann Wasser auf die Erde kam, ist auch fraglich, ob die Herstellung von Aminosäuren auf der frühen Erde funktionierte, selbst wenn es eine passende Atmosphäre gegeben haben sollte.
Aber ginge es nicht auch viel einfacher? Diese Frage taucht vermehrt auf, seitdem in der Nähe von Murchison, einer Provinzstadt in Australien, im Jahr 1969 ein Meteorit herunterfiel, ein außerirdischer Felsbrocken, dessen Weg die Erde kreuzte – im Prinzip nichts anderes als eine besonders große Sternschnuppe. Überraschenderweise enthielt der Murchison-Meteorit jede Menge Aminosäuren, also genau die Dinge, die man bisher versuchte, mit Chemie auf der Urerde herzustellen. Es ist denkbar, dass ähnliche Meteoriten die frühe Erde mit den Bestandteilen des Lebens belieferten. Das klärt natürlich nicht im mindesten, wie denn die Aminosäuren in die Felsbrocken aus dem All gerieten.
Nimmt man einmal an, dass auf irgendeine Weise Aminosäuren und weitere Grundbestandteile des Lebens auf die Erde kamen, so stößt man sofort auf die nächsten Rätsel. Aminosäuren sind gut und nützlich, aber noch lange kein Leben. Am Ende sollen daraus Kolibris und Gummibäume entstehen, oder wenigstens zunächst einmal so schlichte Lebensformen wie Bakterien. Die Weiterentwicklung von organischen Molekülen (wie Aminosäuren) zu den ersten Lebensformen ist ebenfalls ungeklärt. Es ist kaum möglich, in Kürze alle Argumente darzustellen, die für und wider verschiedenste Theorien dieser sogenannten chemischen Evolution abgewogen werden. Seit den 1980er Jahren sind Modelle populär, in denen die dazu erforderlichen Prozesse in unmittelbarer Nähe von heißen Tiefseequellen ablaufen, etwa an Orten, wo vulkanische Lava ins Meer fließt. Andere Theorien bevorzugen eher normale Temperaturen in einer Umgebung, die abwechselnd nass und trocken ist, im Watt zum Beispiel. Auch was im ersten Schritt der chemischen Evolution aus den Aminosäuren wird, ist unklar. Das Grundproblem lässt sich wie folgt umreißen: Wie man aus Aminosäuren komplexere Bausteine zusammensetzt, steht in der genetischen Datenbank des zu bauenden Lebewesens, der DNA. Die aber gibt es ja noch gar nicht. Es ist eine verfahrene Situation: Um die Gebrauchsanweisung zusammenzubauen, braucht man die Gebrauchsanweisung. Eine moderne Variante, diesem Teufelskreis zu entkommen, ist die sogenannte «RNA-Welt», in der ein vielseitiger chemischer Baustein namens RNA gleichzeitig die Funktion von Architekt und Bauarbeiter übernimmt, auf primitive Art und Weise zwar, aber immerhin. Wo auch immer das geschehen und wie es abgelaufen sein mag: Am Ende der chemischen Evolution enstand LUCA, der gemeinsame Vorfahr von Mensch, Mücke und Mikrobe.
LUCA muss ein einzigartiges Wesen gewesen sein, denn alle nachfolgenden Lebewesen funktionieren genau wie er, auf der Grundlage von Eiweißen und DNA. Rätselhaft ist allerdings, ob die chemische Evolution lediglich LUCA hervorbrachte oder gleich noch eine ganze Reihe anderer Urlebewesen. Die erste Variante würde bedeuten, dass der Prozess der Hervorbringung von Lebensformen nicht sonderlich robust ist und Leben im Universum somit ein eher seltenes Phänomen darstellt. Das können wir weder bestätigen noch widerlegen, weil wir da draußen bisher niemandem begegnet sind. Wenn aber am Anfang mehrere verschiedene Lebensformen entstanden, hat LUCA dann alle seine Mitbewohner ausgerottet? Und wenn ja, warum sollte er so etwas Ungehöriges tun? Weder LUCA noch seine hypothetischen Konkurrenten hinterließen Tagebücher, die uns über die dunklen Machenschaften in den ersten 600 Millionen Jahren der Erdgeschichte aufklären könnten.
Bevorzugt wird heute eine Theorie, nach der es auf der frühen Erde verschiedene Lebensansätze gab, von denen einige vollkommen anders funktioniert haben könnten als alles, was heute in der Welt herumläuft. Aber nur einer von ihnen, unser Vorfahr LUCA, überlebte ein gewaltiges Massenaussterben vor etwa 3,9 Milliarden Jahren, zum Beispiel, weil er ein gutes Versteck in der Tiefsee hatte. Eine mögliche Ursache für ein solches Massenaussterben wäre ein mörderisches Bombardement aus dem All – eine Vielzahl von großen Meteoriten, die auf die Erde niedergingen. Zumindest auf dem Mond ist ein solches Ereignis nachgewiesen worden. Nach dieser Annahme sterilisierte der Beschuss unseren Planeten und bildete somit einen «Flaschenhals» in der Entwicklung des Lebens, den nur eine einzige Lebensform passieren konnte, die sich danach ungestört ausbreitete.
Es gibt jedoch auch ganz andere Ansätze, denn die frühe Erdgeschichte ist wie kaum eine andere Epoche in der Lage, interessante Annahmen aus renommierten Forschungsinstituten hervorzulocken. LUCA könnte zum Beispiel kurzfristig ausgewandert und so dem Aussterben entgangen sein: einkapseln, an einem Felsbrocken festhalten und quer durchs Sonnensystem zu einem anderen Ort fliegen. Diese absurd klingende Anhalter-Theorie ist kein Scherz. Man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass ein Asteroid die Erde trifft und durch den Aufprall einige Felsbrocken mitsamt LUCA ins All geschleudert werden. Auf diese Weise könnte LUCA zwischen den Planeten Erde, Venus und Mars hin und her gependelt sein.
Wenn es aber einen interplanetaren Transport von Lebensbestandteilen gab, dann muss Leben gar nicht ursprünglich auf der Erde entstanden sein. Es könnte auch von anderen Orten stammen, zum Beispiel vom Mars, was auch erklären würde, warum man auf der Erde keine Spuren dieses frühen Lebens findet. Sind wir also letztlich die langgesuchten Marsmenschen, nur seit ein paar Milliarden Jahren auf Klassenfahrt zum blauen Nachbarplaneten? Nicht zuletzt deshalb reagieren Wissenschaftler beinahe hysterisch, wenn sie Überreste von Leben auf dem Mars finden. Da der «Rote Planet» eine stabile Oberfläche hat und zudem ein relativ kaltes Klima, könnten uralte Anzeichen von Leben bis heute erhalten geblieben sein. Im Jahr 1996 dann die große Sensation: Auf einem Stein namens ALH84001, der vom Mars stammt und in der Antarktis gefunden worden war, entdeckte man mikroskopische Spuren von Kleinstlebewesen, die, so sagte man zunächst, nur vom Mars stammen können. Leider hatte man sich zu früh gefreut: Die nachfolgenden Überprüfungen lassen eher einen irdischen Ursprung vermuten – kein außerirdisches Leben also auf ALH84001. Trotzdem ist der Ansatz weiterhin vielversprechend. Vielleicht ist Mars nicht nur der Ursprung des Lebens, sondern auch das Archiv seiner Entstehung.
Zu guter Letzt ist es noch denkbar, dass Leben entstand, bevor es überhaupt Planeten gab. Ein früher Ansatz in diese Richtung war die Panspermien-Hypothese, der zufolge in Sporen verkapselte Bakterien allgegenwärtig sind im All und in den Gas- und Staubwolken der Milchstraße vor sich hin vegetieren. Direkte Beweise fehlen bislang, wenn man davon absieht, dass einige das Phänomen des →Roten Regen in Indien für eine Bestätigung der Panspermien-Theorie halten. Inzwischen gewinnt eine ähnlich klingende Variante an Bedeutung: Leben könnte auf Asteroiden entstanden sein, den kleinen, unscheinbaren Felsen, die zu Hunderttausenden im Sonnensystem herumfliegen. In Form der Asteroiden verfügt das Sonnensystem über eine Vielzahl von Mini-Welten mit unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung, Bauart und Temperatur, ein schöner Riesensandkasten, in dem die Anfänge des Lebens herumspielen können, sodass die Wahrscheinlichkeit, einmal eine ausgewachsene Bakterie zu erhalten, viel höher ist als auf den Planeten. Wie immer gibt es auch hier gute Gegenargumente. Zum Beispiel stellt sich die Frage, warum wir auf einem Asteroiden noch nie Formen von Leben gefunden haben, obwohl viele Asteroiden genau untersucht wurden. Vielleicht liegt es daran, dass der einzige Asteroid, der Leben hervorbrachte, vor vier Milliarden Jahren auf der Erde landete – und die Entwicklung von höheren Lebensformen erst ermöglichte. Unsere eigene Existenz ist also letztlich der Beweis für die Asteroidentheorie – und gleichzeitig für jede andere.