Dunkle Materie

Ein Kilo Dunkle Materie wiegt über zehn Tonnen.
Professor Farnsworth, Futurama

Nur ein geringer Bruchteil der Materie im Weltall ist sichtbar. Den Rest – und dabei sind nicht die Dinge gemeint, die unter dem Bett verschwunden sind – bezeichnet man als Dunkle Materie. Insgesamt gibt es sogar deutlich mehr Unsichtbares als Sichtbares im Universum – etwa fünf- bis zehnmal so viel. Worum es sich dabei handelt, ist bis heute unklar.

Man weiß von der Existenz der unsichtbaren Materie, weil sie sich indirekt durch ihre Masse bemerkbar macht: Massen ziehen sich gegenseitig an, behauptet das Gravitationsgesetz mit Recht, und daher beeinflusst die Dunkle Materie über die Gravitationskraft die Bewegung von sichtbaren Dingen wie Sternen, die man wiederum beobachten kann.

Die Beschäftigung mit dem Unsichtbaren ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit von Astronomen. Wenn man sich die Abläufe am Himmel genau ansieht, passiert es häufig, dass man die Bewegungen von Himmelskörpern nur erklären kann, indem man das Vorhandensein von ganz anderen Himmelskörpern annimmt, die im Dunkeln bleiben, entweder weil sie wirklich unsichtbar sind (Schwarze Löcher beispielsweise) oder weil sie zu schwach leuchten, um mit den jeweils vorhandenen Fernrohren gesehen werden zu können. Je größer die Teleskope werden, desto mehr ehemals «Unsichtbares» wird plötzlich sichtbar. So schloss Friedrich Wilhelm Bessel im Jahr 1844 aus den Bewegungen des hellen Sterns Sirius, dass dieser von einem unsichtbaren Begleiter umkreist wird. Es dauerte 16 Jahre, bis Alvan G. Clark, ausgerüstet mit einem leistungsfähigeren Teleskop, den äußerst schwach leuchtenden Begleiter sehen konnte: Sirius B wurde schnell berühmt, weil es sich um eine heiße Sternenleiche handelte; er gehört zu einer Objektklasse, die man später als «Weiße Zwerge» bezeichnete. Ähnlich wie Sirius B wurden in den letzten zehn Jahren mehr als 100 Planeten außerhalb unseres Sonnensystems indirekt über ihre Schwerkraft gefunden: Man kann sie nicht sehen, aber sie ziehen und zerren so penetrant an ihren eigenen Sonnen, dass diese ein wenig hin und her zappeln. Es ist dieses Zappeln, das es uns ermöglicht, die für unsere gegenwärtige Technik unsichtbaren fremden Welten zu finden. Das eigentlich Geheimnisvolle an der Dunklen Materie ist darum nicht ihr Vorhandensein, sondern dass es so überraschend viel davon gibt.

Der Erste, der dies behauptete, war der Schweizer Astronom Fritz Zwicky im Jahr 1933. Er beobachtete die Bewegungen von Galaxien im Sternbild Coma Berenices, einer Himmelsgegend, in der es vor Galaxien nur so wimmelt. Fotografien dieser Gegend zeigen eine unüberschaubare Vielzahl von verwaschenen Nebelflecken, die sich bei näherer Betrachtung (mit größeren Teleskopen) als Galaxien erweisen, viele tausend Milchstraßen, bestehend aus jeweils vielen Millionen Sternen, ein Anblick, der verdeutlicht, dass das Universum nichts anderes vorhat, als uns zu demütigen. Zwicky fand heraus, dass die Galaxien in diesem Ameisenhaufen sich zu schnell bewegen: Die Masse der sichtbaren Materie reicht bei weitem nicht aus, um den Galaxienhaufen zusammenzuhalten. Eigentlich hätte er sich schon vor Milliarden Jahren auflösen müssen – und wir könnten ihn heute nicht mehr sehen. Es muss eine Art zusätzlichen «Klebstoff» geben, die Schwerkraft der Dunklen Materie, der die Galaxien am Auseinanderfliegen hindert. Obwohl Zwicky es deutlich komplizierter formulierte, wurde seine Erkenntnis weitestgehend ignoriert. Es dauerte noch einmal fast vierzig Jahre, bis die Existenz der Dunklen Materie allgemein akzeptiert war, und seitdem hat sie Tausende Astronomen Tag und vor allem Nacht beschäftigt.

Der Durchbruch bei der Entdeckung der Dunklen Materie kam aus der Erforschung der Rotation von Galaxien. Genauso wie sich Planeten um die Sonne bewegen, drehen sich die Sterne in einer Galaxie um das Zentrum derselben. Die Sonne zum Beispiel tut dies mit einer beängstigend hohen Geschwindigkeit von etwa 250 km/s. Dabei wird sie zum einen vom Zentrum der Milchstraße via Schwerkraft angezogen. Zum anderen erzeugt die Rotation um dieses Zentrum die nach außen gerichtete Zentrifugalkraft, von deren Existenz man leicht erfährt, wenn man mit dem Auto zu schnell in die Kurve geht. Insgesamt führt das gleichzeitige Wirken von Zentrifugalkraft und Gravitationskraft dazu, dass die Sonne weder nach innen fällt noch nach außen wegfliegt, sondern sich folgsam um das Zentrum der Galaxie bewegt, wobei die Geschwindigkeit dieser Bewegung allein durch die Verteilung der Materie in der Milchstraße bestimmt wird. So kann man aus der Geschwindigkeit der sichtbaren Materie Rückschlüsse darauf ziehen, wie viel Masse innerhalb der Galaxie vorhanden ist und wo sie sich aufhält. Bei dieser Analyse kam man Anfang der 1970er Jahre zu einem deprimierenden Schluss: Objekte in den Außenbereichen der Galaxien, und zwar aller Galaxien (es gibt, wie oben erwähnt, sehr viele davon), bewegen sich viel zu schnell um das Zentrum herum, so schnell, dass sie, wie das Auto aus der Kurve, aus der Galaxie geschleudert würden – gäbe es nicht irgendetwas Schweres, aber Unsichtbares, das sie zurückhält: Dunkle Materie.

Mittlerweile ist Dunkle Materie an vielen verschiedenen Orten im Weltall «nachgewiesen» worden. Man fand sie in unserer Milchstraße, in elliptischen Galaxien, Zwerggalaxien, in Galaxienhaufen und in den noch größeren Superhaufen. Nirgendwo laufen die Dinge so ab, wie sie nach unserer Vorstellung ablaufen sollten, wenn es nur Sichtbares gäbe. Und neuerdings spekulieren einige auch über Dunkle Materie in unserer unmittelbaren Umgebung: Die Pioneer-Weltraumsonden Nr. 10 und 11, deren Hauptaufgabe darin bestand, die großen Planeten Jupiter und Saturn auszuspionieren, werden durch eine ominöse Kraft in Richtung Sonne gezogen und demzufolge immer langsamer. Das Phänomen ist bis heute ungeklärt; die möglichen Erklärungen reichen von einem Leck im Tank bis eben zur Dunklen Materie, die mit aller Macht an dem bedauernswerten Raumschiff zerrt.

Aber worum handelt es sich bei der Dunklen Materie? Ist dieses seltsame Zeug gefährlich? Kann es explodieren oder kann man es vielleicht essen? Auf besonders elegante Art und Weise wird man das Problem los, wenn man die Existenz Dunkler Materie leugnet und die oben beschriebenen Effekte erklärt, indem man kurzerhand das Gravitationsgesetz ändert. Alle Erscheinungen, die auf Dunkle Materie hindeuten, tun dies nur deswegen, weil wir von der Allgemeingültigkeit des Gravitationsgesetzes ausgehen. Vielleicht haben wir aber auch schlicht eine falsche Vorstellung von der Gravitation. Das ist die Grundidee hinter der Theorie von der «Modified Newtonian Dynamics», abgekürzt MOND, und artverwandten Gedankengebäuden. Im MOND-Szenario, vorgeschlagen im Jahr 1983 vom Kosmologen Mordehai Milgrom, verhält sich die Schwerkraft nicht mehr so kompromisslos, wie man sie von zu Hause kennt, sondern verändert ihre Wirkungsweise, wenn man Dinge betrachtet, die sehr weit voneinander entfernt sind, was im Universum recht häufig vorkommt. So kann MOND zum Beispiel die Rotationskurven von Galaxien erklären, wofür man ansonsten größere Mengen Dunkler Materie benötigt. Allerdings funktioniert das bei weitem nicht überall und wirft eine Reihe zusätzlicher Probleme auf. Bisher hat niemand eine abgeschlossene, modifizierte Gravitationstheorie erfunden, die man sowohl im Schlafzimmer, im Wohnzimmer als auch in der Küche des Weltalls ohne Schwierigkeiten einsetzen könnte. Darum geht die Suche nach der Dunklen Materie weiter.

Die Theorien zu ihrer Natur teilen sich in zwei Lager: Zum einen könnte es sich um schwere, aber nicht oder nur schwach leuchtende Dinge handeln, die aus denselben Bausteinen bestehen wie alles, was wir sonst so kennen. Man nennt dies «baryonische» Dunkle Materie, weil ihre Masse zum Großteil in den →Elementarteilchen Proton und Neutron steckt, die man auch Baryonen nennt. Gute Kandidaten für solche großen dunklen Körper sind die schon erwähnten Weißen Zwerge, außerdem die sogenannten Braunen Zwerge, von denen später noch die Rede sein wird, und Schwarze Löcher. Zusammengefasst werden diese dunklen Schatten oft unter der Abkürzung MACHO: «massive compact halo objects».

Zum anderen könnte die Dunkle Materie auch aus einer großen, sogar sehr großen Menge von Elementarteilchen bestehen, die nur schwach mit dem Rest der Welt wechselwirken und autistisch durch Mensch, Erde und Universum hindurchfliegen. Die ersten Theorien in diese Richtung gingen zunächst von «heißen», also energiereichen Teilchen aus. Der beste Kandidat dafür war lange Zeit das Neutrino, ein geistartiges Teilchen, das zum Beispiel in Atomkraftwerken oder bei Sternexplosionen freigesetzt wird und für dessen Nachweis man immerhin mehr als 25 Jahre brauchte. Mittlerweile jedoch scheint klar zu sein, dass die Masse des Neutrinos zu gering ist, um das Phänomen der Dunklen Materie zu erklären. Erfolgversprechender sind Modelle, die mit «kalter» Dunkler Materie arbeiten. Die infrage kommenden Teilchen führen abenteuerliche Namen, sie heißen Neutralino, Axion, Gravitino oder gar Wimpzilla, und alle existieren sie bisher nur in den Köpfen von Theoretikern. Keines von ihnen wurde bis heute zweifelsfrei nachgewiesen. Diese exotischen, hypothetischen Gestalten fasst man gelegentlich unter dem Begriff WIMPs zusammen – «weakly interacting massive particles» –, und spätestens hier wird deutlich, dass die Erforschung der Dunklen Materie auch ein Kampf um das beste Akronym ist: MOND, MACHO oder WIMP?

In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich die Fronten in der Erforschung der Dunklen Materie mehrfach verschoben. In den 1970ern ging man überwiegend davon aus, es mit baryonischer Materie zu tun zu haben, mit einer Klasse von Objekten also, die man später als MACHOs bezeichnete. In den 1980ern wendete sich das Blatt, jetzt wurden Neutrinos, anschließend «kalte» WIMPs und andere exotische Elementarteilchen populär. Anfang der 1990er kamen die MACHOs zunächst zurück, wurden dann aber in den Folgejahren durch neue Beobachtungen stark beschädigt. Ab und zu waren auch Hybridmodelle gebräuchlich: «Die Welt braucht sowohl MACHOs als auch WIMPs», behauptete etwa der englische Astrophysiker Bernard Carr 1994. Hoffnungsvoll nennen die Experten solche Ideen auch Szenarien mit «zwei Zahnfeen»: Verliert ein Kind nämlich einen Milchzahn, so legt man den Zahn abends unter das Kissen und wartet auf die Zahnfee, die ihn gegen eine Münze austauscht. Ob sich das Problem der Dunklen Materie mit zwei Zahnfeen, also zwei verschiedenen Teilchenarten, loswerden lässt, bleibt abzuwarten.

Ein schönes Beispiel für Modeströmungen in der Erforschung der Dunklen Materie sind die sogenannten Braunen Zwerge. Im Gegensatz zu Sternen besitzen diese Objekte keine innere Heizung. Während Sterne in ihrem Inneren über viele Millionen Jahre Wasserstoff zu Helium «verbrennen», sind Braune Zwerge zu klein, um die für diesen Prozess nötigen Temperaturen zu erzeugen. Daher leuchten sie nur schwach vor sich hin und sind entsprechend schwer zu finden. Wenn ein Stern eine Kerze ist, die beständig und zuverlässig leuchtet, so ist ein Brauner Zwerg ein glühendes Stück Metall, das allmählich immer kälter wird. Seit den 1960er Jahren spekuliert man über Existenz und Eigenschaften von Braunen Zwergen, nur sehen und untersuchen konnte man sie bis vor kurzem nicht, unter anderem, weil die Teleskope zu klein waren. Da man nichts über ihre Anzahl in der Milchstraße wusste, waren sie fast zwei Jahrzehnte lang erstklassige Kandidaten für Dunkle Materie. Noch im Jahr 1994, ein Jahr vor der Entdeckung des ersten Braunen Zwergs, eines Objekts mit der trostlosen Bezeichnung Gliese 229B, nannte Bernard Carr Braune Zwerge die «plausibelste» Erklärung für die große Menge an Unsichtbarem im Weltraum. Innerhalb von wenigen Jahren jedoch zerschlugen sich die hohen Erwartungen, die man in die zwielichtigen dunklen Sonderlinge gesetzt hatte; es wurden zwar zahlreiche Braune Zwerge entdeckt, aber bei weitem nicht genug, um auch nur eine Spur der Dunklen Materie zu erklären.

Ein ähnliches Schicksal wie die Braunen Zwerge erlitten auch die restlichen MACHO-Kandidaten und die Neutrinos: Es gibt diese Dinge zwar, aber rechnet man alles zusammen, so erhält man nur einen geringen Bruchteil der Dunklen Materie. Darum bleibt heute kaum noch ein anderer Ausweg, als an die Existenz von kalter Dunkler Materie in Form von WIMPs oder etwas Ähnlichem zu glauben – Elementarteilchen, die sich dem Rest des Universums fast ausschließlich über ihre Schwerkraft mitteilen. Worum es sich dabei genau handelt, weiß bisher niemand. Deshalb war es ein aufregendes Ereignis, als ein Forscherteam um Rita Bernabei Ende der 1990er Jahre zum ersten Mal Dunkle Materie auf der Erde nachgewiesen haben wollte. Mit Hilfe von schweren Salzkristallen, die man tief in den italienischen Apenninen vergrub, um sie vor störender Strahlung abzuschirmen, fand man ein Signal, das man auf den Einschlag von bislang unsichtbaren Teilchen in den Salzkristall zurückführte. WIMPs zum Anfassen, mitten in Europa? Leider überstand die sensationelle Meldung nicht die nachfolgenden kritischen Überprüfungen. So bleibt alles beim Alten, und der Begriff «Dunkle Materie» ist, wie der amerikanische Astronom David B. Cline zugibt, weiterhin ein inhaltsloser «Ausdruck für unser Unwissen».

Übrigens: Das Universum besteht, wie man mittlerweile weiß, nur zu etwa einem Viertel bis einem Drittel aus sichtbarer und Dunkler Materie. Den ganzen Rest bezeichnet man heute als «Dunkle Energie», nur um einen Namen zu haben, und meint damit eine mysteriöse Kraft, die die Expansion des Universums beschleunigt. Vielleicht ist es unnötig zu erwähnen, dass auch über die Natur der Dunklen Energie praktisch nichts bekannt ist.

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