Aal

AALST (n.) One who changes his name to be further to the front
Douglas Adams: «The Meaning of Liff»

Aale schaffen es seit Jahrhunderten geschickt, ihre Lebensverhältnisse vor uns geheimzuhalten. Dabei kennt sie jeder, man kann sie an vielen Orten ansehen (zumindest geräuchert), und es gibt auch keinen Mangel an ambitionierten Aalforschern. Aristoteles zum Beispiel interessierte sich sehr für diese Fische, die zu seiner Zeit noch nicht mal als Fische galten, sondern als eine Art Würmer, die, so glaubte Aristoteles, aus dem Schlamm des Flussbodens schlüpfen. Bis weit in die Neuzeit hinein waren nicht wesentlich weniger absurde Theorien im Umlauf; so wurde noch 1858 behauptet, dass sich Aale bei der Fortpflanzung spindelförmig um einen Schilfhalm legen und sich durch dessen Schwingungen anregen lassen. Immerhin wusste man frühzeitig von der Aalwanderung: Erwachsene Aale schwimmen flussabwärts ins Meer, und junge kommen aus dem Meer nach, was den Schluss nahelegt, dass die Fortpflanzung im Meer stattfindet. Wo, wann und wie das geschieht, das sind die Fragen, die alle Aalinteressierten seitdem beschäftigen.

Mühsam kam die Aalforschung in den letzten dreihundert Jahren voran. Im Jahr 1777 entdeckte der Italiener Carlo Mondini die Eierstöcke des Aals und wies damit nach, dass das Aalweibchen wie jeder andere vernünftige Fisch zur Arterhaltung Eier legt. Knapp hundert Jahre dauerte es, bis die männlichen Geschlechtsorgane gefunden wurden. Der Triester Biologe Simon von Syrski spürte zwei dünne Lappenorgane auf und identifizierte sie korrekt als die Hoden des Aals. Rätselhaft jedoch für die damalige Forschung: Sie enthielten keinerlei Sperma. Mit den Hoden der Aale befasste sich in derselben Zeit auch Sigmund Freud, damals noch Student der Zoologie. Praktisch in Akkordarbeit zerschnitt Freud etwa 400 Aale auf der Suche nach dem männlichen Geschlechtsorgan. Manche glauben, dass er damit seine sexuellen Probleme bewältigte: Mit der Tötung des phallusförmigen Aals kastrierte Freud symbolisch nicht nur seine Konkurrenten, sondern auch (400-mal) den eigenen Vater – der unschuldige Aal als Opfer des Ödipuskomplexes. Für die Zoologie jedoch brachte Freuds Aalmassaker keine neuen Erkenntnisse.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam man einen Schritt weiter. Die Biologen Yves Delage und Giovanni Batista Grassi zeigten schlüssig, dass es sich bei einem durchsichtigen, flachen Meereslebewesen namens Leptocephalus brevirostris, bis dahin als eigenständige Art geführt, um die Larve des Flussaals handelt. Vor allem dem Dänen Johannes Schmidt ist die Aufklärung der Herkunft dieser Larven zu verdanken. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unternahm er aufwendige Expeditionen, die ihn hinaus in den Atlantik führten. Schmidt verfolgte die kleinen Aale rückwärts; er fuhr immer weiter Richtung Amerika und fand immer kleinere Larven, die allerkleinsten schließlich in der Sargassosee, südlich der Bermudainseln. Diese Tiefseegegend, auch als Bermudadreieck bekannt und berüchtigt für rätselhafte Schiffsuntergänge und Flugzeugabstürze, gilt seitdem als Geburtsort der Europäischen Flussaale. Seltsam genug, dass niemand je versucht hat, einen Zusammenhang zwischen Schiffsunglücken und Aalfortpflanzung herzustellen.

Hier nun alles, was wir über den Lebensweg des Aals heute zu wissen glauben: Geschlüpft in der Sargassosee, treiben und schwimmen die Larven des Europäischen Aals an der amerikanischen Küste entlang nach Norden und biegen schließlich, dem Golfstrom folgend, Richtung Europa ab. Dabei werden sie zunächst von den Larven des Amerikanischen Aals begleitet, die aus derselben Gegend stammen, es dann aber offenbar vorziehen, auf die anstrengende Atlantiküberquerung zu verzichten. Warum die europäischen Larven nicht auch einfach in Amerika bleiben, ist unbekannt, stattdessen quälen sie sich mehrere Jahre lang über den Atlantik. Beim Erreichen der europäischen Küsten verwandeln sich die Larven in sogenannte Glasaale, wobei unklar ist, was genau diese Metamorphose auslöst – möglicherweise ist es die Erleichterung, endlich einmal wieder Land zu sehen. Glasaale sind kleine, durchsichtige, wurmartige Dinger, die als Delikatesse gelten und in großen Mengen gefischt werden. Die Erfahrung, nach einer mehrjährigen Atlantiküberquerung auf dem Teller eines Spezialitätenrestaurants zu landen, darf man wohl getrost als antiklimaktisch, ja, enttäuschend bezeichnen.

Alle überlebenden Glasaale, und hier beginnt der schon lange bekannte Teil des Aallebens, entwickeln sich zu der adulten Form, Gelbaal genannt, und zwar in den Süßwasserflüssen Europas. (Dasselbe geschieht auf der anderen Seite des Atlantiks mit den kleinen amerikanischen Aalen.) An dieser Stelle kann man leicht viele Jahre Aalleben überspringen, weil nichts Besonderes passiert. Der erwachsene Aal lebt als Fisch unter Fischen, einige werden zwischendurch geräuchert, und wer davon verschont bleibt, den ruft, im Alter von 5, 10 oder auch 20 Jahren, eine mysteriöse Stimme zurück ins Meer. Auf dem Weg dorthin lässt er sich durch fast nichts aufhalten, nicht durch Dämme oder gar Land. Nur gegen die Turbinen der Wasserkraftwerke, die regelmäßig Aale in Fischhäppchen verwandeln, hat er noch kein Mittel gefunden. Während der Reise zum Ozean geschieht eine interessante Umwandlung, der Aal wird silbrig, seine Augen vergrößern sich, und, ganz entscheidend, der Verdauungstrakt verkümmert. Erreicht dieser sogenannte Silberaal das Meer, so ist sein Schicksal vorgezeichnet – er ist auf einer Selbstmordmission, deren Dauer durch seine Körperfettreserven bestimmt wird.

Es folgt der bis heute rätselhafte Teil des Aallebens. Aalexperte Friedrich-Wilhelm Tesch verfolgte die Aale in den Siebzigern immerhin bis zum Atlantischen Rücken, dann waren die Batterien der Sender leer, mit denen er sie ausgerüstet hatte. Andere Expeditionen entdeckten Silberaale in der Sargassosee, verloren sie jedoch schnell wieder aus den Augen. Irgendwie schaffen die Aale es anscheinend zurück zu ihrem Ursprungsort. Auf dem Weg dorthin produzieren die Männchen unter ihnen auch endlich das Sperma, das Sigmund Freud und andere so angestrengt suchten. Am Ziel angekommen, müssten die weiblichen Aale dann Laich ablegen, den die männlichen Aale befruchten, wodurch schließlich die Fortpflanzung zustande kommt. So jedenfalls die Theorie, denn trotz umfangreicher Anstrengungen hat diesen wichtigen Vorgang noch nie jemand in der Natur beobachtet. Außerdem ist unklar, was aus den Eltern wird, die eigentlich nicht anders können, als kurz nach der Atlantiküberquerung zu verhungern. Ihre Skelette allerdings wurden bislang nicht gefunden, und von Aalfriedhöfen ist nichts bekannt.

Niemand glaubt heute mehr, dass Aale einfach so aus dem Schlamm kriechen. Alle Forschungen zur Fortpflanzung von Tieren ergeben, dass eine gewisse räumliche Nähe zwischen Eltern und Kindern vorhanden sein muss, jedenfalls ganz am Anfang. Trotzdem fehlt bei Aalen jeder Nachweis einer Verbindung zwischen den Generationen. Die kleinen Aallarven entstehen scheinbar aus dem Nichts. Gleichzeitig verschwinden die erwachsenen Aale spurlos in der Sargassosee. Verwandeln sich die Eltern einfach wieder zurück in Larven? Ist der Aal somit unsterblich? Es ist ein großes Rätsel. Genau dasselbe Problem stellt sich übrigens bei den asiatischen Aalen. Man kennt oft die Herkunft der Aale, man kann nachvollziehen, wie die Larven ins Süßwasser kommen, man weiß, dass die Erwachsenen ins Meer und zu den Laichplätzen zurückkehren, aber der letzte Schritt, die eigentliche Fortpflanzung, die Verbindung zwischen Mutter, Vater und Larven, fehlt. Aalforscher müssen sich so ähnlich fühlen wie kleine Kinder, die zwar wissen, dass die Klapperstorchhypothese falsch ist, aber trotzdem keine Ahnung haben, wo die Babys herkommen.

Eine lange populäre Lösung des Problems bestreitet schlicht die Existenz europäischer Aale. Der britische Zoologe Denys W. Tucker spekulierte 1959, dass der Weg zurück in die Sargassosee viel zu weit sei und es daher keiner der in Europa lebenden Aale zurück zu den Laichgründen schaffen könnte. Stattdessen würden die Aale Europas von amerikanischen Kollegen abstammen, die sich ebenfalls in der Sargassosee fortpflanzen. Auch wenn diese Hypothese nach langen Diskussionen untergegangen ist – europäische und amerikanische Aale zeigen klare genetische Unterschiede und müssen daher als zwei verschiedene Arten betrachtet werden –, zog sie doch interessante Folgen nach sich: Eine Gruppe von «Ariosophen», Anhänger der These, dass die Arier von Atlantis abstammen, leitete aus der Tucker-Theorie den Schluss ab, dass Aale vormals in Atlantis an Land gingen und nicht in Europa. Erst nach dem Untergang von Atlantis landeten die Larven in Europa, konnten sich aber nie an den jetzt doppelt so weiten Rückweg gewöhnen. Das sagten jedenfalls die Ariosophen, die mit Hilfe der Aale ihre Heimat Atlantis wiederfinden wollten, ein Unterfangen, das noch aussichtsloser erscheint als die Suche nach sich fortpflanzenden Aalen.

Um herauszufinden, ob Aale in der Lage sind, den Atlantik zu überqueren, veranstaltete eine niederländische Forschergruppe vor kurzem ein Testschwimmen: Sie ließen eine Gruppe Aale ein halbes Jahr lang in einem Wassertank Kreise ziehen, ohne Fütterung, ohne Werbepausen und ohne Energiedrinks. Obwohl sie ein Fünftel ihres Körpergewichts einbüßten, legten die Aale dabei eine Marathondistanz von 5500 km zurück, eine erstaunliche Leistung. Statt auf einem Siegerpodest landeten die Aale nach der Strapaze allerdings auf dem Seziertisch. Wie sie es schaffen, so ausdauernd zu schwimmen, ist unklar, dass sie es aber können, scheint damit bewiesen. Zudem gibt es Hinweise, dass Aale in der Lage sind, sich nach dem Erdmagnetfeld zu richten, was eine Möglichkeit wäre, sich im Meer zu orientieren. Auch ist es mittlerweile gelungen, Aale in Gefangenschaft beim Befruchten ihrer Eier zu beobachten – aber eben nicht in freier Wildbahn. Andererseits zeigt eine neuere Arbeit des Japaners Tsukamoto und seiner Kollegen, dass im Atlantik gesammelte Aale ihr ganzes Leben dort verbracht haben, was völlig rätselhaft ist, weil es die gesamte oben zusammengefasste Aalwanderungstheorie infrage stellt. Und weiterhin gibt es mittlerweile leise Zweifel, ob alle Süßwasseraale in Europa genetisch einwandfrei derselben Art angehören, sich daher alle untereinander paaren können und überhaupt dieselben Ziele im Leben anstreben, Laichgründe eingeschlossen, wovon man eigentlich seit hundert Jahren ausgegangen ist.

Nach wie vor also ist viel Raum für Fruchtbarkeitsmythen, Aalgötter und Spekulationen über Telekinese bei Fischen. Auftrieb könnte die Aalforschung in Zukunft durch den ebenfalls rätselhaften Niedergang der Glasaalpopulation erhalten. Immer weniger junge Aale kommen an Europas Küsten an; es könnte an Parasiten liegen, an der Meereserwärmung, Umweltgiften oder an ganz anderen Dingen. Aber weil Glasaale ein Wirtschaftsfaktor sind, besteht Hoffnung auf Rettung. Obwohl man es dem Aal zutrauen würde, eines Tages ohne jeden ersichtlichen Grund einfach so von der Erde zu verschwinden.

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