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Am Anfang der Fußgängerzone, ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo ich beim ersten Mal die Verfolgung Mannie Gerresheims aufgegeben hatte, gab es eine Gaststätte mit dem Namen Zum halben Hahn und eine Pizzeria, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie ein Restaurant war oder ein Schnellimbiss. Ich sprang über eine Pfütze und betrat den Hahn.

Ein paar alte Leute saßen qualmend hinter Biergläsern oder starrten auf die Buntglasfenster, als könnte man durch sie hindurchsehen. Ein Jugendlicher lehnte lustlos an der Wand neben dem Spielautomat und brachte ihn dazu, nervtötende Geräusche von sich zu geben, indem er alle paar Sekunden Kleingeld einfüllte.

Die kleinstädtische Beschaulichkeit war genau das Richtige, um meinen Rausschmiss zu verdauen.

Jeder Fall hinterließ, sobald er hinter einem lag, eine gewisse Leere. Aber dieser hier war nicht wirklich abgeschlossen. Er war misslungen und hinterließ deshalb Übelkeit. Kein tröstendes Gefühl, dazu beigetragen zu haben, dass diese schäbige Welt ein wenig ansehnlicher geworden war. Stattdessen ein geradezu ärgerliches Gefühl, dass der Vorschuss ein jämmerliches Honorar war, wenn es dabei bleiben sollte.

Henk war ein Stein vom Herzen gefallen, als ich behauptet hatte, so viel Geld beschaffen zu können, dass das Zeugenschutzprogramm des FBI dagegen ärmlich aussah. Jetzt würde es nicht einmal dafür reichen, seine Second-Hand-Maskerade ein wenig aufzupeppen.

Ich orderte einmal Bratkartoffeln mit Spiegelei und brütete über einem Plan, wie ich Martens auf legalem Weg dazu bewegen konnte, den Rest meines Honorars herauszurücken.

Als ich gerade mit meiner Gabel in den Eidotter gestochen hatte, um die Bratkartoffeln hineintunken zu können, betrat Tilo Martens die Gaststätte. Er fragte nicht, ob er sich zu mir setzen durfte.

»Wenn ich das gewusst hätte«, stieß er fassungslos hervor.

»Wenn Sie mich gefragt hätten«, sagte ich mit vollem Mund, »hätte ich es Ihnen gesagt. Und schon hätten Sie es gewusst.«

»Das meine ich nicht! Wenn ich gewusst hätte, dass Sie sich von meinem Vater bezahlen lassen, um ihn dann einen Mörder zu nennen!«

Ich wedelte mit der Gabel. »Erstens habe ich ihn ausdrücklich nicht so genannt. Und zweitens hat er mir bis jetzt nichts außer dem Vorschuss bezahlt. Wenn er mich als Ganzen kaufen will, muss er schon ein bisschen mehr hinlegen.«

»Was ich nicht verstehe, ist, warum halten Sie das, was mir passiert ist, von A bis Z für erfunden, während Sie meinem Vater Dinge unterstellen, die er sich nicht mal ausdenken würde?«

»Weil Sie etwas haben, was er nicht hat.«

»Und das wäre?«

»Phantasie«, erklärte ich feierlich.

»Ha, ha!« Er warf mir einen alarmierten und gekränkten Blick zu, als sei das eine seiner zahlreichen Krankheiten.

»Wollen Sie auch so was?« Ich deutete auf meinen Teller. »Ist gar nicht schlecht.«

»Nein, danke.« Tilo schluckte und sein Gesicht wurde fahl. »Bei mir ist ein Schnupfen im Anzug, glaube ich. Ich kann essen, was ich will, es schmeckt alles gleich.«

»Tja, dann…«

Er förderte sein übliches Kontingent Papiertaschentücher zutage. In der Mitte des Zellstoffgebirges platzierte er ein weißes, spitz zulaufendes Plastikfläschchen mit Nasenspray wie ein zierliches Kirchlein vor der beeindruckenden Winterkulisse Oberammergaus. »Außerdem«, fügte er hinzu, »habe ich eine Allergie gegen bestimmte Bratenfette.«

»Was Sie nicht sagen.«

Er fühlte sich gleich wieder angegriffen. »Halten Sie das etwa auch für frei erfunden, oder was?«

»Das nicht unbedingt«, beruhigte ich ihn. »Aber Sie könnten anders damit klarkommen.«

»Womit?«

»Ihr Problem ist keine Frage der Taschentücher. Sie sollten sich trauen, Ihr eigenes Leben zu leben.«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich mich das nicht traue? Ich werde eines Tages die Firma übernehmen.«

»Toll. Das wird Ihren Daddy ja so richtig beeindrucken. Was halten Sie vom Theaterspielen?«

»Eine brotlose Kunst«, sprach sein Vater aus ihm. »Außerdem spiele ich, wie Sie wissen.«

»Ich weiß. Sie sind der coole Detective, der sich von Sharon Stone rumkriegen lässt. Aber Sie sollten das nicht heimlich tun.«

»Hören Sie auf, mir Ratschläge zu erteilen.«

»Aber nur so können Sie Ihr Problem in den Griff bekommen. Die Toten in Ihrer Wohnung – das ist nichts als ein klares unbewusstes Signal Ihres Inneren, dass Sie Theater spielen wollen und nicht den hoch bezahlten Rausschmeißer für das gehobene Management.«

Er lachte spöttisch. »Vielen Dank, Doktor Freud.«

»Meiner Meinung nach haben Sie längst Ihre Entscheidung getroffen. Nur sollten Sie ausschließlich auf einer Bühne spielen und nicht in Ihrer Wohnung. Sie schaffen es, ein zahlendes Publikum zu begeistern, wozu also Ihren Vater beeindrucken? Oder die Polizei und einen Privatschnüffler?«

Er sah mir dabei zu, wie ich die letzte Bratkartoffel mit der Gabel aufspießte und auf ihr wie auf einem Schlittschuh über den eigelbverschmierten Teller rutschte.

»Mein Vater sagt, Sie sind ein Klatschmaul.«

»Wenn er das sagt…« Ich zuckte mit den Schultern. »Aber da er nicht mein Vater ist, macht mich das auch nicht krank.«

Tilo schnappte sich ein Taschentuch und zerstörte mit einem Griff die bayerische Berglandschaft.

»Übrigens«, sagte ich in sein Schnäuzen hinein, »hatte ich ein nettes Gespräch mit Rudi.«

»Rudi?« Er unterbrach seine rötliche, feuchte Nase bei der Arbeit und sah mich erwartungsvoll an. »Hat er dir irgendwas über mich erzählt? Ich meine, Ihnen.«

»Schon okay. Er hält einiges von dir. Du solltest deinem Vater seine Verschlankungsfirma vor die Füße werfen und bei Rudi einsteigen.«

»Was habe ich davon? Ein, zwei Jahre noch, länger wird sich Die Weinstube nicht halten.«

»Da ist Rudi aber anderer Ansicht.«

»Klar. Er hält Sex and Crime für die einzige Rettung des zeitgenössischen Theaters. Aber das hat selbst die Bahnhofskinos nicht gerettet.«

»Hat er eigentlich zufällig was mit deiner Schwester?«

»Mit Kim?« Tilo prustete. »Das hätte er wohl gerne. Sie hat doch ihren Heino.«

»Vielleicht reicht ihr der ja nicht.«

»Der reicht ihr nicht? Selbst der ist ihr zu viel. Wie sagt man so schön: In ihrem Leben ist kein Platz für Beziehungen. Obwohl das Wartezimmer überfüllt ist.«

»Apropos Wartezimmer. Wieso bist du eigentlich so gerne krank?«

»Hör auf.«

»Nein, es interessiert mich wirklich.«

Tilo starrte vor sich hin. »Ich lese gerade über einen Mann, der nur noch ein halbes Jahr zum Leben hat.«

Das war wohl nicht gerade das, was ihm gut tat. Aber hätte ich ein Geschenk für ihn gesucht, ich hätte mich wahrscheinlich für etwas Ähnliches entschieden.

»Hast du schon mal drüber nachgedacht, was du dann tun würdest?«

»Kommt ganz drauf an«, meinte ich. »Ein halbes Jahr, das ist unter Umständen eine lange Zeit.«

»Ich frage mich, wie viele Fälle es gibt, wo es dem Betreffenden gar nicht bekannt ist.«

»Was?«

»Dass es so ernst um ihn steht. Dass er das nicht weiß, kann viele Gründe haben. Beispielsweise ist der Arzt zu rücksichtsvoll und will ihm den Schock ersparen.«

»Oder es kommt ihm was dazwischen und er denkt erst zwei Tage vorher daran, ihm das zu sagen.«

»Das ist nicht lustig«, sagte Tilo vorwurfsvoll. »Schließlich gibt es auch Fälle, da irrt sich der Arzt. Er findet erst kurz vor Ablauf der Frist heraus, wie es wirklich um den Mann steht.«

Auf diesem Gebiet schien er sich informiert zu haben. Ich konnte nicht mithalten.

»Schlimm, das gebe ich zu«, sagte ich und lächelte mein optimistischstes Lächeln in sein düsteres Gesicht, das schon probehalber dem Tod ins Auge sah. »Da kannst du dich glücklich schätzen, dass du nicht zu denen gehörst.«

»Woher soll ich das denn wissen?«, entrüstete er sich. »Das ist ja genau der Punkt! Vielleicht bin ich einer von denen und niemand sagt es mir. Es ist diese Ungewissheit, die einen nicht schlafen lässt. Kannst du das verstehen?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Dann versuche auch nicht, den Therapeuten zu spielen.«

Er hatte Recht. Seine Psyche war zu kompliziert für mich. Ich zerknüllte meine Serviette und warf sie auf meinen Teller, um zu verhindern, dass er sie mit einem seiner Taschentücher verwechselte. »Also dann«, sagte ich und stand auf. »Viel Spaß noch beim Schnupfen.«

»Glaubst du wirklich, dass mein Vater diesen Mann umgebracht hat?«

»Und du?«, fragte ich zurück.

»Völlig ausgeschlossen. Er könnte keiner Fliege was antun.«

»Aber könnte er jemanden anheuern, der das kann?«

»Genauso unmöglich. Das ist nicht sein Stil.«

»Tja, wenn du das sagst…«

»Du meinst«, seine Stimme zitterte leicht, »wenn einer das sagt, der Gespenster sieht und der seinem Vater am Rockzipfel hängt, dann braucht man das nicht ernst zu nehmen.«

»Nein, natürlich nicht«, widersprach ich. Doch so ungefähr hatte er es getroffen.

»Man kann einem Mann vorwerfen, dass er erfolgreich ist. Dass er sich nicht anpasst und seine Ellbogen benutzt. Aber…«

»Sich nicht anpassen und seine Ellbogen benutzen – wie soll das denn gehen? Das ist wie essen, ohne etwas zu sich zu nehmen.« Ich streifte meinen Mantel über und ging zum Tresen, um zu zahlen. Hinter mir nieste es.

»Moment!«, rief Tilo.

Ich drehte mich um.

Statt zu antworten, holte er Luft für einen weiteren Nieser. Er holte so tief Luft, dass in der Kneipe Ruhe eintrat, wie in einem Saloon, wenn der Schatten des Bösewichts durch die Tür fällt und die letzten Klaviertöne ängstlich verhallen.

»Ja, und?«, fragte ich.

Tilo explodierte. Der Nieser rollte wie eine Flutwelle durch den Raum und es gab niemanden, der nicht zusammenzuckte.

»Weißt du, was ich von deinen obercoolen Weisheiten des Lebens so halte?«, rief Martens in die Stille hinein. »Mein Vater ist für dich ein heimtückischer Mörder, klar, und ich bin für dich ein hirnkranker Spinner, auch klar!« Er stand auf und trat ganz nahe an mich heran. Seine triefende, dunkelrote Nase hielt er auf mich gerichtet. »Hör auf, mir von da oben herab kluge Tipps zu geben, von wegen mein wahres Leben leben und so!«

»Schon gut, vergiss es!«, bat ich ihn. Unwillkürlich hob ich die Hände, während ich vor ihm zurückwich. Dann wandte ich mich wieder an den Kellner.

»Zahlen«, sagte ich, in der Hoffnung, dass Tilo nicht zu denen gehörte, die von hinten auf einen niesten.