18

 

 

 

Es war nass und unfreundlich auf dem Land draußen, wo Guido Martens residierte. Um diese Zeit außerdem wie ausgestorben, denn die meisten Einwohner waren drüben in der Stadt und sorgten dafür, dass es kein Kino gab, vor dem man weniger als eine halbe Stunde Schlange stand.

So mancher kam hier heraus, um urtümlichen, dörflichen Charme zu genießen und stellte dann enttäuscht fest, dass man weder Dorf noch Charme finden konnte. Da war ein menschenleeres Fußgängerzentrum, das durch vorweihnachtliche Lichterketten in grelles, unwirkliches Licht getaucht war, und im Zentrum des Fußgängerzentrums stand eine unansehnliche Bronzeskulptur, von der kein Mensch wusste, ob sie etwas darstellen sollte.

Früher mochten hier windschiefe Bauernhäuser gestanden haben, die sich um einen hübschen Kirchturm gruppierten, dessen Glocken sonntags zur Frühmesse läuteten. Heute machten sich große, üppige Familienhäuser mit zwei Garagen und riesigen Gärten breit, die in der Stadt nicht genug Platz gefunden hatten. Sie standen, jedes für sich, um ein großes Einkaufsparadies mit allen Schikanen herum.

Trotzdem verschlug es immer wieder Touristen hierher. Einige nur deswegen, weil sie die Straßenkarte nicht lesen konnten, aber irgendjemand hatte mir kürzlich erzählt, dass es ein Reisebüro gab, das den Fremdenverkehr in der Region steigerte, indem es die Unansehnlichkeit zur Sehenswürdigkeit erklärt hatte – ein Konzept, das man in Frankfurt, Herne-Eickel und Hamm in Westfalen schon erfolgreich angewandt hatte. Durch penible Recherche hatte man herausgefunden, dass es in Europa viele Orte gab, die wenig Sehenswertes hatten. Aber nur ein oder zwei, die nichts Sehenswertes hatten. Und einer der beiden war hier.

»Ich würde Sie gerne sprechen«, sagte ich in die Sprechanlage. »Das heißt, nur, wenn Sie keine dringende Verabredung zum Sport haben.«

»Das schon«, kam Martens’ Stimme heiter zurück. »Aber der Sport kann warten. Was bringen Sie mir?«

»In gewisser Weise habe ich den Fall gelöst.«

Der Türöffner surrte. Ich trat ein, durchquerte den sorgfältig vom herbstlichen Laub befreiten Vorgarten und ging ins Haus.

Guido Martens, fit und unbesiegbar wie immer, federte mir entgegen. »Also raus mit der Sprache: Wer ist der Clown da draußen? Haben Sie diese Fanatikerin dazu gebracht, ihn abzustellen?«

»Nun, die Angelegenheit ist etwas komplizierter.«

»Komplizierter? Was soll daran kompliziert sein?«

»Die Fanatikerin steckt hinter dem Schwarzen Mann. Aber hinter ihr wiederum stecken Sie.«

Er stutzte. »Ich?«

»Ich fürchte, ja.«

Unschlüssig darüber, was er von mir halten sollte, trat er einen Schritt zurück und musterte mich, die Arme vor der Brust verschränkt. »Soll das jetzt witzig sein?«

»Nein«, sagte ich. »Aber Sie haben mir nur die Hälfte gesagt. Sie haben mich engagiert, damit ich Ihnen eine Fliege vom Hals schaffe, die Ihnen lästig ist. Mit dem Haufen Scheiße, der sie eigentlich anzog, sollte ich mich nicht beschäftigen.«

Ein hoher Ton entfuhr ihm. Das amüsierte Auflachen eines Mannes, der sich aus Spaß bieten lässt, was er sich eigentlich nicht bieten zu lassen braucht. »Das ist ja…«

»Sagt Ihnen der Name Schrader etwas?«

»Das ist ja wohl…« In Martens’ Augen flammte Ärger auf, der sich relativ schnell in Wut verwandelte. »Für wen halten Sie sich eigentlich, Kittel? Habe ich Sie vielleicht um Ihre unmaßgebliche Meinung zu Dingen gebeten, die Ihren Horizont überschreiten? Ich brauche nur den nächstbesten Begleiterinnen-Service anzurufen und kriege eine Dame, die qualifizierter ist als Sie. Gerade mal clever genug, für andere Leute Telefonnummern herauszusuchen, kommen Sie her und wollen mir eine moralische Vorlesung halten?«

»Ich will gar nichts halten. Ich habe für Sie in einem Fall ermittelt. Der Fall Mölling geht mich eigentlich nichts an. Ich habe für Sie die Fliege verjagt, aber dem Geruch kann ich nichts anhaben.«

Martens schüttelte den Kopf. Er war darin lange nicht so gut wie Mattau. Er tat es konzentriert, dass es angestrengt wirkte, wie eine seiner Warm-up-Übungen des täglichen Konditionstrainings. Nachdem der Kopf wieder zur Ruhe gekommen war, sog die Nase laut und plötzlich Luft ein.

»Kittel, ich möchte es nicht glauben, aber mir scheint es, als wollten Sie mich tatsächlich eines Mordes bezichtigen.«

»Wessen sollte ich Sie bezichtigen? Es gibt keine Beweise. Ich glaube auch nicht, dass Sie einen Mord begangen haben.«

»Sind Sie etwa hergekommen, um mich mit Schmeicheleien zu überhäufen?«

»Sie hätten die Sache niemals in Angriff genommen, wenn für jemanden die Möglichkeit bestanden hätte, nachher noch etwas zu beweisen. Sie bringen nur dann jemanden zum Schweigen, wenn Sie sich völlig sicher sind, dass anschließend wirklich Schweigen herrscht.«

»Allmählich begreife ich«, antwortete er, gar nicht mehr wütend, sondern eher milde gestimmt, »dass Sie es nötig haben, die Dinge so zu sehen. Vielleicht bringt das Ihr Beruf so mit sich. Hier die good guys, da die bad guys. Schöne, heile, kaputte Welt, was? Ich bin früher auch auf die Straße gegangen, Kittel. Das war ein richtiges Glücksgefühl, glauben Sie mir. Ich habe die Bullen und all die käuflichen Politiker, die sie schützen sollten, gehasst. Irgendwann wurde mir klar, dass ich sie in Wirklichkeit liebte. Ich hätte sie umarmen können dafür, dass sie so waren, so unbelehrbar, skrupellos und uneinsichtig. So schlecht. Denn das machte mich gut.«

»Und jetzt wirst du uns gleich erzählen, dass du dich eines Tages dazu entschlossen hast, bei den Schlechten mitzumachen, weil du das ehrlicher fandest.« Mattau stand in der Tür, die Hände in den Manteltaschen. Vor der Kulisse wirkte er unpassender als ein Clochard in einer Luxussuite, trotzdem gab er sich lässig, als sei er ein alter Freund der Familie.

»Er wollte dich sprechen«, erklärte Tilo, der etwas atemlos hinter ihm auftauchte. »Ich wusste nicht, ob du…«

»Hallo, Max«, begrüßte ihn Martens, ohne Notiz von seinem Sohn zu nehmen.

»Grüß dich, Guido.«

»Du hättest wenigstens die Schuhe abtreten können.«

»Das mache ich nachher, beim Rausgehen.«

Martens grinste böse. »Also dann, worauf wartest du noch? Dieses kleine Klatschmaul kannst du gleich mitnehmen.«

»Warum so unfreundlich?« Der Kommissar zog die Hände aus seinem Mantel und hielt sie wie ein Priester bei der Wandlung. »Was ist in dich gefahren, Guido? Immerhin hat der Mann sein Bestes getan. Du kannst ihm nicht vorwerfen, dass er über Leichen stolpert, wenn du ihn in deinen Keller schickst. Noch dazu, ohne ihm zu sagen, wo der Lichtschalter ist.«

»Welche Leichen denn?«, erkundigte sich Tilo, ohne dass ihn jemand beachtete. Offenbar kam ihm das Thema vertraut vor.

»Du hast es nötig, mir die alten Zeiten vorzuhalten, Bulle«, sagte Martens senior.

»Es geht nicht um alte Zeiten, Guido. Sondern um Mord, genauer gesagt, Beihilfe zum Selbstmord. Mag sein, dass wir keine Beweise auf den Tisch legen können. Aber wir sind hier unter uns und…«

»Unter uns gesagt: Du steckst in der Klemme, mein Lieber! Hast einen Fall, der hinten und vorne nicht passt. Und einen Mann, den du gerne hängen würdest. Nur hat beides nichts miteinander zu tun.«

»Ich rede nicht von Mölling. Ich rede von deinem alten Kumpel Thorsten Theuerzeit.«

Die beiden standen eine ganze Weile einander gegenüber und schwiegen sich an. Ich hatte das Gefühl zu stören und überlegte schon, die Kurve zu kratzen. Aber ich war zu gespannt darauf, wie das Duell ausging, und hoffte auf eine Chance, hocherhobenen Hauptes das Haus verlassen zu können. Immerhin hatte Martens mich ein ›kleines Klatschmaul‹ genannt.

Mattau kratzte sich ausgiebig.

Martens unterbrach als Erster das Schweigen mit Worten. »Mensch, Max, denkst du denn nicht, dass mir sein Tod genau so nahe gegangen ist wie dir?«

»Nein.«

»Weil du immer noch glaubst, ich hätte ihn auf dem Gewissen.«

»Wer sonst?«

»Er selbst, verdammt noch mal! Geht denn das nicht in deinen Schädel?«

»Thorsten war kein Mann spontaner Entschlüsse. Wenn er sich umgebracht hat, dann gibt es jemanden, der ihm die unumstößlichen Argumente dazu geliefert hat.«

»Seine Unterschlagungen waren Grund genug.«

»Meinst du? Unterschlagungen, von denen niemand sonst weiß, sind kein Grund. Aber dann ist einer, dessen Job es war, die finanzielle Lage der Firma zu checken, zufällig darauf gestoßen. Und der hat Thorsten beruhigt und gesagt, dass niemand etwas erfahren wird. Wenn er nur aufhört, den Volkstribun zu spielen und Front gegen die Massenentlassungen zu machen.«

»Aber warum, Max? Welchen Vorteil hätte ich denn davon gehabt?«

»Vielleicht war die Höhe deines Honorars an die Durchsetzbarkeit des Sanierungsplans gekoppelt. Was weiß ich?«

»Nichts!« Martens winkte ab. »Das ist es ja. Keine Ahnung hast du.« Er ging zu seinem Schrank hinüber, nahm eine Flasche und ein Glas heraus und goss sich ein, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Er sah nach draußen, wo im Kegel des Straßenlichts eine dunkle Gestalt ausharrte. Im ersten Moment sah es so aus, als wollte er das Glas nach ihr werfen, aber dann hatte sich Martens wieder in der Gewalt.

»Eigentlich ist es zum Lachen«, sagte er kichernd. »Du kommst hierher und beschuldigst mich, eine Tat begangen zu haben, für die du mich, selbst wenn du sie beweisen könntest, niemals zur Verantwortung ziehen könntest. Also warum rede ich überhaupt mit dir?«

»Sie wollen wieder ruhig schlafen«, schlug ich vor.

Tilo trat vor. »Soll ich sie hinauswerfen?«, bot er an.

Martens lachte laut auf. »Ruhig schlafen, Sie Heini, was bilden Sie sich ein? Machen Sie die Augen auf, sehen Sie sich um! Sehen Sie da vielleicht irgendwo eine heile Welt? Ihnen mag das nicht passen, aber Sie brauchen nun mal Ellbogen, wenn Sie überleben wollen. Genau das versuche ich, auch ihm einzutrichtern.« Mit einer flüchtigen Kopfbewegung deutete er auf Tilo, der gerade seinen Mut zusammenraffte, um Mattau und mich vor die Türe zu setzen. »Natürlich geht es auch, wenn Sie sich anpassen und ein braver Bulle werden oder ein abgehalfterter Privatschnüffler. Dann können Sie ruhig schlafen. Ich habe dazu keine Zeit. Und was Nordhein-Stahl angeht, so habe ich die Firma nicht gerettet, indem ich gut geschlafen habe.« Er kippte seinen Drink und knallte das Glas auf die Anrichte. »Ich habe dafür gesorgt, dass Arbeitsplätze gerettet wurden. Ohne Verschlankung hätte der Konzern nicht überlebt.«

»Das kann ich hundertprozentig bestätigen«, half ihm sein Sohn. »Schließlich habe ich bei diesem Job auch mitgemacht, und wenn…«

»So viel habe ich seit damals immerhin gelernt«, unterbrach ihn sein Vater. »Die wirkliche Grenze verläuft nicht zwischen den Privilegierten und den Unterprivilegierten, sondern zwischen denen, die Sprüche klopfen, und denen, die Ernst machen. Und Sprücheklopfer wie ihr beiden, oder wie der da draußen, ihr solltet euch beim Theater melden. Die haben Bedarf an Worten, die ebenso ergreifend wie hohl sind.«

»Ich möchte gar nicht ausdenken«, gruselte sich Mattau, »was du in dieser Angelegenheit unter Ernst machen verstehst.«

»Aber das ist doch klar«, beeilte sich Tilo zu erläutern. »Er hat doch gerade…«

»Das reicht jetzt!«, beendete Martens’ durchdringende Stimme das Gespräch. »Das hier ist immer noch mein Haus. Und ich habe Wichtigeres zu tun. Ich bin zum Squash verabredet.«

 

 

»Ich bin richtig gespannt, mehr über Ihre alten Freunde zu erfahren«, sagte ich, als wir in den Garten traten.

Es war kalt geworden. Der Kommissar verzog sich in seinen Parka wie eine Schildkröte in ihren Panzer. »Ein anderes Mal«, sagte er. »Da fällt mir ein: Wie steht’s denn mit Ihrem Freundeskreis? Haben Sie Ihren Partner beim Spiel verloren?«

»So was Ähnliches«, bestätigte ich. »Das Spiel ist noch nicht zu Ende. Es gibt noch eine Rückrunde und da ist wieder alles offen.«

»Kann ich Sie mit zurücknehmen?«

»Nein, danke«, antwortete ich. »Wenn ich schon mal hier bin, sehe ich mir noch den Ort an. Laut Reiseführer gibt es hier eine Pfarrkirche, einen Kinderspielplatz und eine italienische Eisdiele, die allerdings im Winter geschlossen hat.«

»Wie Sie wollen.« Er winkte mir zum Abschied zu, bevor seine Pranke in seiner Manteltasche verschwand. »Wir sehen uns.«

Ich sah dem alten Sprücheklopfer nach, wie er sich langsam entfernte. Und wie er, kurz bevor er sich entfernt hatte, neben seinem Wagen stehen blieb, in seiner Manteltasche baggerte und kurz darauf alle Schlüssel seines Schlüsselbundes an der Wagentür ausprobierte, bis er endlich einstieg.

Dann machte auch ich mich auf den Weg.

»Heh, Manni!«, brüllte ich ins Dunkel hinein. »Bloß nicht lockerlassen! Was immer ihr mit ihm vorhabt, ihr habt ihn so weit!«

Aber Manni Gerresheim hatte sich längst verkrümelt.