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Am Montagmorgen erhielt ich endlich ein Lebenszeichen von Henk.

Es war eine Ansichtskarte, die allerdings keine Landschaft zeigte, sondern einen im Sinken begriffenen Luxusliner namens Titanic.

Kann dir alles erklären, schrieb mein Partner, keine Sorge, ich melde mich wieder. Bleib ruhig.

Die Karte war in Mönchengladbach abgestempelt worden, was bedeuten konnte, dass Henk auf dem Weg in die Niederlande war oder von dort kam. Ansonsten enthielt sie keinerlei Hinweise auf seinen Aufenthaltsort.

Vermutlich hatte er die Karte nicht ausgewählt, weil er für jenen Hollywood-Schinken schwärmte, der zurzeit weltweit Millionen von Teenagern dahinschmelzen ließ, als sei der Film ein ökologisches Großprojekt, das mit der Tränenproduktion im großen Stil einen Beitrag zur Lösung des globalen Trinkwasserproblems leisten wollte. Henk gab mir damit zu verstehen, dass er in echten Schwierigkeiten steckte, aber noch lange nicht abgesoffen war.

Natürlich war mir klar, dass dieses Lebenszeichen kein Beweis dafür war, dass Henk noch am Leben war. Es besagte nicht mehr und nicht weniger, als dass er vor ein paar Tagen noch gelebt hatte.

Höchste Zeit, den Fall Martens so schnell wie möglich abzuschließen. Dann hatte ich die Hände frei für Henk und Geld genug, um sein Büro zu restaurieren und ihm neue Fische zu kaufen. Falls alle Stricke reißen sollten, konnte ich ihm immer noch eine Beerdigung spendieren, die es in sich hatte.

Leider hatte mir Melanie Storck außer ihrer Geringschätzung weder Adresse noch Telefonnummer verraten. Wie sollte ich sie also auftreiben? Von ihr besaß ich nicht einmal eine Ansichtskarte.

Aber es gab eine schwarz gekleidete Person, die mich – falls meine Berechnungen zutrafen – zu ihr bringen konnte. Ich kannte zwar nicht die Identität dieser Person, geschweige denn ihren Wohnort, dafür aber ihren Arbeitsplatz. Ein in übertriebener Weise gepflegter, aber dennoch langweiliger Vorgarten in einer Gegend, die nicht einmal Desperados angelockt hätte, wenn man hier Gold gefunden hätte.

Das Wetter war für die Spukgestalt die ideale Kulisse. Nässe ließ die Straßen glänzen, die Büsche tropften unaufhörlich und eine Andeutung von Nebel hatte sich bis in den Nachmittag in den Vorgärten und bei den Bushaltestellen herumgedrückt als Hintergrund für eine schwarze Silhouette, die der finstere Bösewicht einer Edgar-Wallace-Verfilmung sein konnte.

Ganz umsonst gab ich mir Mühe, mich an das Grundstück heranzuschleichen. Der Hausherr selbst hatte den Geist, falls er heute überhaupt hatte erscheinen wollen, längst verjagt. Mit einem eleganten farbenfrohen Freizeitanzug, der zu dem unfreundlichen Herbstwetter passte wie Mickey Mouse auf einen Grabstein, hielt er sich im Garten auf und hantierte mit einer Fernbedienung, drückte sie ungeduldig gegen sein Haus ab wie ein TV-Süchtiger im letzten Stadium, der den Schein für die Wirklichkeit und die Wirklichkeit für jederzeit umschaltbar hielt.

»Der automatische Torheber für die Garage funktioniert nicht«, beschwerte er sich, als er mich bemerkte. »Wahrscheinlich ist die verdammte Feuchtigkeit schuld. Ich werde deswegen jemanden kommen lassen müssen.«

»Geht das denn nicht auch von Hand auf?«

»Fehlanzeige. Das Dumme ist, der Wagen steht drin und ich komme nicht ran, dabei habe ich in dreißig Minuten eine Verabredung zum Sport.« Er musterte mich erwartungsvoll. »Bringen Sie mir Neuigkeiten?«

Wir gingen ins Haus, und während ich ihm von Tilos neuem Abenteuer berichtete, drückte Martens mir ein Glas Orangensaft in die Hand und führte mich vor sein breites Aussichtsfenster.

»Genau so habe ich mir das gedacht.« Er setzte ein verächtliches Grinsen auf und schüttelte ein paar Mal den Kopf. Dann formte er das, was von dem Grinsen noch übrig war, zu einem entschuldigenden Lächeln und schenkte es mir. »Tja, tut mir Leid, Kittel, dass Sie heiße Luft schöpfen mussten. Aber ich wollte auf Nummer Sicher gehen.«

»Ich bin nicht ganz sicher, ob es nur Luft ist.«

»Also gibt es etwas, das auch nur andeutungsweise auf einen wirklichen Mord hindeutet?«

»Das nicht.«

»Na, sehen Sie.«

»Aber Tilo verwickelt sich in Widersprüche, die er vermeiden könnte, wenn er alles nur erfunden hätte. Beispielsweise, dass er ausgerechnet Kims Freund tot gesehen haben will…«

»Nun, die interessieren mich weniger. Widersprüche an ihm bin ich gewohnt. Alles, was ich wissen wollte, war, ob hinter diesen – Anschlägen mehr als kranke Phantasie steckt.«

»Und ob sie dieselbe ist, die hinter dem schwarzen Mann steckt.«

»Genau.« Er kratzte sich am Kopf. »Sind Sie in dieser Sache weitergekommen?«

»Wie kamen Sie eigentlich darauf«, fragte ich, »dass er wegen Tilo da unten steht?«

Guido Martens lachte kurz auf und tauchte seine Oberlippe in den Saft. »Ich sagte es bereits«, in seiner Stimme, die sich nicht gerne wiederholte, schwang eine Spur Ungeduld mit, »er ist in der Familie sozusagen derjenige, der für solche obskuren Einfälle in Frage kommt. Tilo ist für Scherereien zuständig.«

»Nachdem wir das überprüft haben, sollten wir uns der Möglichkeit stellen, dass der Mann Ihretwegen den lebendigen Vorwurf spielt.«

Mein Auftraggeber deutete fragend auf sich selbst und lächelte pikiert, als hätte ich ihn darum gebeten, sich vor mir auszuziehen. »Meinetwegen?« So bizarr sie auch sein mochte, die Vorstellung schien ihn zu amüsieren.

»Es geht um einen Mordfall, der sich ereignete, als Sie für die Firma Nordrhein-Stahl tätig waren. Sie waren damals als…«

»Ach…« Schon war es mit dem Amüsement zu Ende. Martens verzog das Gesicht wie in einem plötzlichem Schmerz und richtete die Handflächen in einer um Gnade flehenden Geste zur Zimmerdecke. »Nicht schon wieder!«

»Die Geschichte ist Ihnen also bekannt?«

»Welche meinen Sie, Kittel? Die mit Theuerzeit oder die mit Mölling?«

»Es geht um den Tod eines gewissen Mölling. Haben Sie ihn gekannt?«

»Nur flüchtig. Er machte einen auf Menschenfreund und Messias, aber in Wirklichkeit war er alles andere als das. Soviel ich weiß, lebte er ziemlich über seine Verhältnisse. Soll sogar vor Erpressung nicht zurückgeschreckt haben.«

»Aber das ist doch schon eine ganze Menge, was Sie über ihn wissen.«

»Im Fall Theuerzeit ist er allen Beteiligten mit seinen unangenehmen Fragen auf die Nerven gefallen. Und wer unangenehme Fragen stellt…«

»… über den kursieren unschöne Gerüchte?« Sein strafender Blick streifte mich. »Der muss damit rechnen, dass auch seine eigene schmutzige Wäsche eines Tages auf der Leine hängt.«

»Und wie geht die andere Geschichte?«

»Theuerzeit war einer der Wortführer der Belegschaft. Spielte sich als Volksheld auf, so eine Art Robin Hood. Als er Selbstmord beging, wollte Mölling daraus für sein Blatt ein packendes Arbeitermelodram spinnen, in der ich die Rolle des Ausbeuterbösewichts spielen sollte. Robin Hood und der Sheriff von Nottingham, so in der Art.«

»Ich kenne die Geschichte aus dem Englischunterricht.«

»Die Presse kann mit alltäglichen Sachen nichts anfangen. Die braucht Helden auf der einen und Bösewichter auf der anderen Seite. Aber dann fand die Kripo zum Leidwesen der Schreiberlinge heraus, dass es nur ein stinknormaler Selbstmord war. Damit war die schöne Story geplatzt.«

»Doch dann wurde Mölling umgebracht.«

»Aus der Luft gegriffene Mutmaßungen und skandalheischender Klatsch – alles wurde wieder ausgepackt. Ich war immer noch der Sheriff, nur die Rolle des Robin Hood hatte jetzt Mölling. Glücklicherweise hatte die Öffentlichkeit allmählich genug davon.«

»Ist der Mord inzwischen aufgeklärt worden?« Martens zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wie gesagt, der Mann war kein Heiliger. Wahrscheinlich hat er es mit seinen Erpressungen zu weit getrieben.«

»Sagt Ihnen der Name Melanie Storck etwas?«

»Nicht das Geringste. Müsste man die kennen?«

»Sie gehört zu der Öffentlichkeit, die von der Geschichte nicht genug bekommen kann. Möglicherweise hat sie beschlossen, Ihnen mit einer stummen, düsteren Gestalt vor dem Haus schlaflose Nächte zu bereiten. Das aber würde nur klappen, wenn Sie genau wüssten, worum es geht.«

Martens warf einen Blick auf seine Uhr. Er bezahlte mir ein fürstliches Honorar, damit er sich selbst mit diesen Dingen nicht herumschlagen musste. In Gedanken war er schon bei seiner sportlichen Verabredung.

»Gratuliere, Kittel! Also, dann reden Sie doch mit dieser Person und machen Sie ihr klar, dass ich mir das nicht weiter bieten lasse.«

»Sie wissen also nicht, worum es geht?«

»Nein, das weiß ich nicht!« Martens musste seine Stimme zurückhalten, dass sie nicht genervt klang.

»Soll ich ihr Geld anbieten?«

»Wenn Sie zu viel davon haben. Aber am besten geben Sie ihr den guten Rat, ihre Zeit nicht damit zu vertrödeln, alte Feindbilder aufzuwärmen. Es gibt so viele Dinge, für die es sich lohnt einzutreten: Klimaschutz, Robbenbabys… Für Leute wie diese Frau…«

»Storck. Es ist aber bis jetzt nur eine Vermutung.«

»Dann klären Sie das.«

»Tilo hat mit der Mölling-Geschichte nichts zu tun, oder?«

»Tilo? Nein, nicht direkt.«

»Nicht direkt, was heißt das?«

»Offiziell war er dabei. Damals bildete ich mir noch ein, ich könnte meine Firma eines Tages auf ihn überschreiben.«

»Und welche Rolle hat er gespielt?«

»Dieselbe wie heute. Keine.«

Martens trat vor das Panoramafenster und es sah so aus, als ließe er seinen Blick schweifen über die endlosen Weiten der Bergheimer Prärie. Aber dann rückte er seine Frisur zurecht und mir wurde klar, dass er die Glasscheibe die ganze Zeit als Spiegel benutzt hatte. Die langweilige Landschaft da draußen interessierte ihn nicht die Bohne.

Mir kam die Idee, dass man Jünglinge wie Tilo Martens, die in guten Familien aufwuchsen, nicht immer um ihre Väter beneiden sollte.

»In meinem Job kann man es nicht zu etwas bringen«, erklärte mir Martens, als hätte ich mich nach den Aufstiegschancen erkundigt, »wenn man sich nur lieb Kind machen will. Man muss den Mut haben, den Leuten schon mal Sachen zuzumuten, von denen man weiß, dass sie ihnen nicht passen.«

»Und worin lag Tilos Fehler? Dass er das nicht wusste oder dass ihm keine unpassenden Sachen einfielen?«

»Die Umstrukturierung damals bei Nordrhein habe ich durchgezogen trotz aller Theuerzeits und Möllings. Und was Tilo anging, so war er die meiste Zeit krankgeschrieben.«

»Trotzdem bleibt für mich noch die Frage, ob Ihr Sohn sich wirklich alles nur ausgedacht hat.«

Martens trat einen Schritt auf mich zu. »Fragen Sie sich, was Sie wollen, Kittel. Aber so lange ich bezahle, bestimme ich auch, welche Fragen für Sie übrig bleiben. Sorgen Sie dafür, dass diese Dame mir nicht weiter die Kunden verschreckt. Und wenn Sie das geschafft haben, dann kommen Sie her und holen Ihr Geld.«

»Sie sind der Boss«, sagte ich und machte mich auf den Weg zur Tür. In diesem Moment öffnete sie sich und Ina Martens betrat den Raum. Sie nickte mir zu und ich grinste zurück.

»Gibt es etwas Neues?«, erkundigte sie sich bei Guido.

»Wieso steht der Mann eigentlich heute nicht da unten?«, fragte ich. »Wäre es nicht möglich, dass er aufgegeben hat?«

»War er heute schon da?«, wandte sich Martens an seine Gattin.

»Nein. Aber gestern Vormittag. Ich bin hinuntergegangen und habe ihn verjagt. Kaum zehn Minuten später war er wieder da. Ich fühle mich beobachtet.«

Ich verglich Ina Martens mit Kim. Die beiden Frauen ähnelten einander, obwohl sie nicht verwandt waren. Höchstwahrscheinlich bezogen sie lediglich das gleiche Trendmagazin. Und da stand in der Sparte Outfit und Make-up, dass momentan der blonde, feminine Typ angesagt war, verziert mit einer leichten Dauerwelle, und die Farben der Saison waren Brombeer-, Apricot- und Lilatöne.

»Keine Angst, Cherie, Kittel ist ihm auf der Spur. Es dauert nicht mehr lange.«

Vor dem Haus fuhr ein Taxi vor und ich wartete gespannt darauf, ob die gespenstische Mahnwache ausstieg, um ihren Dienst zu versehen.

Dann hupte der Fahrer. Martens sah auf die Uhr. »Das ist mein Taxi. Tut mir Leid, Cherie, aber ich muss weg. Die nächsten Tage jedenfalls wirst du vor ihm sicher sein. Wir werden in München schön essen gehen und dann…«

»In München?«

»Genau da.«

»Aber ich dachte, wir wollten hier in die Oper.«

»Schon, aber du weißt doch, Kim hat übermorgen ein Spiel und da dachte ich – du hast doch nichts dagegen?«

Inas Gesichtszüge gefroren zu Eis. »Natürlich nicht. Aber meinst du nicht, dass deine Tochter allmählich alt genug ist, dass sie so etwas schafft, ohne dass du ihr Händchen hältst?«

Martens schien froh darüber zu sein, dass er in Eile war. Im Hinausgehen winkte er mir zu. »Sie melden sich bei mir, Kittel, ich verlasse mich darauf!«

Seine Frau starrte ihm nach. Ihr Gesicht hatte sich weiter verfinstert, als hätte Guido sie darüber informiert, dass er das Wochenende kurzerhand mit einer anderen verbringen wollte.

Ina Martens konkurrierte mit ihrer Stieftochter, so viel war klar. Vielleicht hasste sie sie, weil sie wusste, dass sie im Wettkampf mit ihr nur unterliegen konnte, da sie den natürlichen Vorteil der Jüngeren niemals aufholen würde.

Draußen schlug eine Autotür. Das Taxi startete.

»Sind Sie auch der Meinung«, fragte ich Frau Martens, »dass Tilo eine kranke Phantasie hat?«

»Tilo ist ein Experte fürs Kranksein. Wenn er Phantasie hat, dann ist es wohl mehr als wahrscheinlich, dass sie wie er selbst krank ist. Aber alles hat zwei Seiten.«

»Welche?«

»Tilo kann nichts richtig machen, das ist die eine Seite. Und Kim kann nichts falsch machen.«

»Zwei Geschwister, die sich ergänzen.«

»Ausschließen, würde ich sagen. Sein Problem ist es, nicht ernst genommen zu werden, und ihres, vergöttert zu werden. Beides ist auf die Dauer nicht gut.«

»Aber Kim macht einen ganz munteren Eindruck«, erinnerte ich mich.

»Sie sieht blendend aus und ist in Topform, so lange sie eine Siegessträhne hat. Aber falls sie einmal verliert, stürzt sie ab. Und die Angst davor, dass das passieren könnte, raubt ihr den Schlaf.«

In den letzten Worten klang klar und deutlich so etwas wie Genugtuung mit.

»Als ich kam«, sagte ich, »hatte sie gerade geschlafen.«

»Nun, dafür gibt es Tabletten.« Sie lächelte. »Für alles gibt es Tabletten.«

Was den Körper und seine Kondition anging, so war Ina vielleicht die Unterlegene. Aber wenn sie es klug anstellte, konnte sie ihren Nachteil ausgleichen, indem sie die Rolle der bösen Stiefmutter mit allen Tricks und Gemeinheiten kultivierte.

»Sie wollen mir also sagen, dass die Sache genauso gut auch mit ihr zusammenhängen könnte.«

Ina Martens zuckte mit den Schultern. »Sie sind auf der Suche nach jemandem, der sich rächen will. Glauben Sie mir, Sie finden eher einen, der sich an ihr rächen will als an ihm. Mehr will ich nicht sagen.«

Als ich wenig später im Nebeldunst zum Auto zurücktrottete, fragte ich mich, woher sie wissen wollte, dass ich so jemanden suchte. Ich schloss den Wagen auf und sah mich noch einmal um, bevor ich einstieg. Drüben, vor Martens Haus, stand nun der Schwarzgekleidete. Aber ich hielt es für keine gute Idee umzukehren. Bei dem Nebel konnte ich nicht erkennen, ob er es wirklich war und nicht irgendein schwarz gekleideter Passant. Und wenn er es war, dann würde er mich wieder abhängen wie beim letzten Mal.

Während ich Gas gab, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, Martens zu fragen, was er unter einem ›stinknormalen Selbstmord‹ verstand.