14

 

 

 

Als ich nach Hause kam, war es schon nach fünf, aber der Tag hätte ebenso gut schon um drei zu Ende gewesen sein können. Es war längst dunkel, aber nicht, weil der Abend nahte, sondern weil die Sonne sich gesagt hatte, dass sie bei der alltäglichen trüben Suppe auch daheim bleiben konnte.

Ich fand die Wohnungstür offen vor und war sofort auf der Hut. Auf Zehenspitzen schlich ich hinein und knipste kein Licht an.

»Henk«, flüsterte ich in das Dunkel. »Bist du das?«

Es herrschte ein seltsamer Geruch. Er war unangenehm, abgestanden und doch aggressiv beißend, trotzdem konnte ich ihn nicht sofort identifizieren. Als es mir gelang, war es zu spät.

Direkt neben mir atmete jemand. Mir wurde schlecht.

»Ich hab doch jesacht, du solls irjenzwo anders schnüffeln!«

»Was wollen Sie von mir?«

»Mensch, ich mach dich alle, wenn ich dich noch einmal erwisch…«

»Erwischen? – Aber ich wohne hier.«

»Also, pass auf. Ich sach dat nur einmal.«

Ich konnte nicht mehr. Ich musste einatmen, obwohl ich wusste, dass mir das den Rest geben würde.

»Dat janze Zeuch, wat vorher war. Dat jeht kein Schwein mehr wat an. Kapiert?«

»Vorher?«, keuchte ich, am Ende meiner Kraft. »Welches Zeuch denn?«

Diesem Gestank war nicht beizukommen, wenn ich einfach nur lüftete. Ebenso wenig wie man diesen Mann hinauslüften konnte. Wahrscheinlich würde ich ausziehen müssen…

Schrader ließ sich auf meiner Couch nieder. Er hatte ein kantiges, geradezu viereckiges Gesicht. Von beiden Mundwinkeln führten zwei Falten zu den Gesichtsecken, auf denen sich wie Steilwände, mit Ohren beklebt, Backen und Schläfen erhoben. Er hatte kurze, muskulöse Arme, die an seinem massigen Körper wie Zangen an einem Krebs aussahen. Auf seiner Thermojacke in verwaschenem Grün, genau unter der Stelle, wo die Arme am Körper befestigt waren, breiteten sich große dunkle Flecken aus. Sie schüchterten mich mehr ein als ein auf mich gerichteter entsicherter Revolver.

»Damals hab ich Heino die Sachen nämlich jejeben und da war nix Schlimmes dabei. Aber jetz kommt der Blödmann an und will alles jroß ausposaunen. Ich sach Ihnen: Der war dat selbs schuld!«

»Was denn ausposaunen?«

In diesem Moment klingelte es an der Tür.

Der Krebs ruderte verunsichert mit den Armen. »Wer is dat jetz?«, fuhr er mich an.

»Woher soll ich das wissen? Jemand hat geklingelt«, erklärte ich.

»Versuch bloß nich, mich zu verarschen!« Er sprang auf und schubste mich rüde zur Seite. »Dat weiß ich selbs!«

Der Nachteil seiner schrecklichen Waffe war, dass er seine Anwesenheit vor unerwartetem Besuch nicht verbergen konnte, indem er sich im Schrank versteckte. Offenbar war er sich darüber im Klaren.

Ein letztes Mal schwenkte er seine Faust vor meinem Gesicht. »Ich hab dich jewarnt.«

Er sprang auf, lief den Flur entlang und schob sich aus der Tür. Das Tappen seiner Schuhe im Treppenhaus mischte sich mit denen, die auf dem Weg herauf waren. Ein dumpfes Stampfen wie von einem prähistorischen Koloss gegen das klare, knappe Stakkato hoher Absätze.

Schrader hatte gerade so etwas wie einen Tathergang erwähnt. Leider hatte er nicht gesagt, welchen. Etwas, das kein Schwein mehr anging. Wer war der Blödmann, der alles ausposaunen wollte? Und was wollte er ausposaunen? Dass er, Schrader, Heino irgendwelche Sachen gegeben hatte, wo angeblich nichts Schlimmes dabei gewesen war?

Clever, wie er war, hatte mir dieser Mann ein Rätsel aufgegeben, das es in sich hatte. Er hatte mir alles verraten und dennoch kein Wort preisgegeben. Der rohe, schwitzende Bursche war ein Meister des genial eingefädelten Verbrechens.

Dankbar und wie ein Verdurstender streckte ich die Nase aus der Wohnung und sog den miefigen, leicht mit Urin angereicherten Geruch des Treppenhauses ein wie die erfrischende Brise der hohen See.

Der Mann, dessen Ausdünstungen die Genfer Konvention jederzeit in ihren Ächtungskatalog aufgenommen hätte, war alles andere als clever. Er war genau das Gegenteil. Er hatte sich nicht einen Moment klargemacht, dass es besser war, den Mund zu halten, wenn man jemanden davon abhalten wollte, etwas herauszufinden. Leider konnte ich von seiner Beschränktheit in keiner Weise profitieren, da sie ihn gleichzeitig außer Stande setzte, auch nur einen einzigen Satz so herauszubringen, dass irgendjemand ein Wort davon verstand.

Die Frau, die die Stufen zu meiner Wohnung heraufstöckelte, war groß, kräftig und rothaarig. Eigentlich war sie nicht wirklich kräftig, das sah nur so aus, weil sie ständig fror und deshalb unter ihrem Wintermantel so viele Klamotten übereinander trug wie eine überaus erfolgreiche Kaufhausdiebin. Auch war sie nicht wirklich rothaarig. Sie färbte ihr Haar, weil sie hoffte, damit als etwas Besonderes zu gelten, als irgendwie individueller als die anderen Individuen. Leider sahen das zu viele Frauen genauso.

»Endlich trifft man dich mal an«, rief sie mir von der Treppe aus zu.

»Hallo, Babsi«, sagte ich.

»Kittel, lange nicht gesehen.« Sie machte ein paar Schritte in die Wohnung und blieb dann schnüffelnd stehen. »Du solltest mal andere Sachen kochen«, riet sie mir.

»Das hat nichts mit Essen zu tun.«

»Weißt du, woran mich das erinnert? Letztes Jahr sind bei uns in der Pathologie die Kühlsysteme ausgefallen, mitten im heißesten Sommer. Die meisten Kollegen haben sich nach ein paar Tagen krankgemeldet. War einfach nicht zum Aushalten.«

»Tut mir Leid.« Ich machte einen Rundgang durch die Zimmer und öffnete alle Fenster. »Lass uns irgendwohin gehen.«

Zehn Minuten später saßen wir an einem Tisch im La Mancha. Jiorgos zückte sein Feuerzeug und entzündete die Tischkerze.

»Was verschafft mir die seltene Ehre?«, fragte ich.

»Auf dem Anrufbeantworter klangst du so – schockiert.« Barbara Bonnek nahm die Kerze, hielt sie vor ihr Gesicht und verband beides mit einer Zigarette. »Das hat mich neugierig gemacht.«

»Und da kommst du erst jetzt?«

»Ich hatte zu arbeiten. Zurzeit ist Hochsaison und mein Chef ist in Urlaub.«

Ich grinste. »Weihnachtsgeschäft, was?«

»Offenbar wollen einige ihre Morde noch erledigen, um sich dann in aller Ruhe ihren Weihnachtsgeschenken widmen zu können.«

»Hast du was von Henk gehört?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt jedenfalls ist er mir nicht auf den Tisch gekommen.«

Ich gab mir Mühe, ihr die Geschmacklosigkeit nicht übel zu nehmen. Gerichtsmediziner hatten eine ganz eigene Art zu scherzen.

»Auf dein spezielles, Kittel.« Sie kippte ihren Aperitif-Ouzo erstaunlich schnell. Als ich gleichziehen wollte, merkte ich, dass sie meinen genommen hatte. Ihren musste sie abgefangen haben, noch bevor Jiorgos Gelegenheit gehabt hatte, ihn auf den Tisch zu stellen.

»Henk steckt in irgendeinem Schlamassel«, sagte ich. »Da sind tumbe Typen hinter ihm her, die ihn fertig machen wollen. Sie lassen nichts unversucht, um an ihn ranzukommen. Also werden sie irgendwann auch bei dir aufkreuzen. Deshalb wollte ich dich warnen.«

»Was sollten die von mir wollen?«

»Rauskriegen, wo Henk steckt.«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

»Das werden die dir nicht abnehmen. Außerdem könnten sie versuchen, ihn zu zwingen, aufzutauchen, indem sie sich dich greifen.«

Sie kicherte. »Komm schon, Kittel, wir sind erwachsene Menschen.« Die Tatsache schien für sie ein Problem zu sein. »Du meinst, die sind hinter ihm her, weil er diese Tussi hat?«

Babsi war so freundlich, mir das Essen bei Jiorgos auszugeben. Danach zogen wir noch in drei andere Kneipen. Sie erzählte mir von der interessanten Arbeit mit ihren Leichen und der langen, wechselvollen Beziehung zu Henk.

»Er ist einer, der immer zurückkommt«, sagte sie. »Zwischendurch laufen ihm diese zwanzigjährigen Girlies über den Weg, du weißt schon, die mit den langen Beinen und den tollen Titten, und die vernascht er dann. Er meint es nicht böse, aber er kann eben nicht anders. Und wenig später ist er wieder da. Ich frage dich, wie lange du so was mitmachen würdest.«

»Ich?«

»Ja. Wärst du der Typ für so was?«

»Kommt drauf an«, meinte ich. »Als Zwanzigjährige oder als Henk?«

»Er will seinen Spaß und ich soll immer da sein und ihn nach seinen Abenteuern wieder in mein Bett lassen. Ich sag dir, irgendwann ist Schluss damit.«

Ob es mir passte oder nicht, ich begann Babsi allmählich in einem anderen Licht zu sehen.

»Was meinst du«, fragte sie, nachdem sie mich zum letzten Drink eingeladen hatte. »Du kennst Henk. Du bist sein Freund. Sein Kollege. Kann man ihn damit beeindrucken, indem man ihm mit gleicher Münze heimzahlt?«

»Du meinst…«

»Genau«, sagte sie heiser.

»Also… möglich wär’s. Ihr seid schließlich erwachsene Menschen…«

Wir brachen auf. Ich war zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich damit beschäftigt, mich daran zu erinnern, wer ich war und wo, was mir von Minute zu Minute schwerer fiel.

»Du bist anders als Henk«, sagte Babsi ernst. Sie meinte es als Kompliment, als seien die meisten Männer so wie Henk, und wenn es irgendetwas gäbe, wofür man Männer verabscheuen müsse, dann, dass sie so seien wie Henk.

»Anders?«

»Du hast dir Sorgen um mich gemacht. Das war deiner Stimme auf dem Anrufbeantworter anzuhören. Darin war nicht nur Sorge um mich. Darin war mehr. Da war…«

Barbara Bonnek bestand darauf, dass ich sie nach Hause begleitete, falls die Mafiosi inzwischen auf sie warteten. Sie wohnte in einer der besseren Gegenden in Sülz, wo man die ganze Straße in helles Licht tauchen konnte, einfach indem man nah genug an Hauseingängen vorbeiging, und wo ein Streifenwagen wie aus dem Nichts auftauchte, sobald man nur eine Bierdose über die Straße kickte.

Henk wusste nicht, was er an dieser Frau hatte. Wie konnte er nur so oberflächlich und phantasielos sein, dass ihm nichts Besseres einfiel, als Beinen und Titten hinterherzulaufen? Was hatte Gott dazu veranlasst, die Männer als tumbe Triebwesen zu erschaffen, während die Frauen sensibel waren, sympathisch und nur auf innere Werte bedacht, über die man sich austauschen konnte und die man nicht angaffte? Anstatt mich über diese Ungerechtigkeit zu ärgern, hasste ich mich nur selbst.

Henk hatte Babsi nicht verdient, und ich auch nicht.

»Also dann«, verabschiedete ich mich. »War ein netter Abend.«

»Nur noch ein Glas. Das bin ich dir schuldig.«

Um die Drinks zu holen, verschwand sie im Bad. Als sie zurückkehrte, sah sie alles andere als kräftig aus, weil sie sich ihrer diversen Winterkollektionen entledigt hatte. Sie trug etwas Schwarzes, Seidiges, das ihren Körper im besten Licht erscheinen ließ und perfekt mit ihrer roten Haarfarbe harmonierte.

»Heh?« Babsi warf mir einen von diesen Blicken zu, die die Lösung aller Rätsel der Welt banal und unwichtig erscheinen ließen. »Wieso hast du denn noch etwas an?«

Genau hier war der Punkt, an dem ich eine Vollbremsung machen musste, wollte ich nicht noch heute dem Club derer beitreten, die so waren wie Henk. »Moment mal«, wehrte ich mich vorsichtig. »Du bist immerhin noch die Freundin meines besten Freundes…«

»Das war ich«, flüsterte sie, während sie sich an mich schmiegte. »Aber jetzt nicht mehr. Jetzt ist er ja mit dieser Schlampe zusammen. Und deswegen wird sich Milano schon um ihn kümmern…«

»Milano?« Es durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag. »Du kennst ihn? Was meinst du damit, er wird sich um ihn kümmern?«

»Der Mann ist eifersüchtig wie alle Südländer«, zischte sie boshaft. »Bei ihm ist es allerdings geradezu krankhaft. Wenn einer sich an seiner Tussi vergrapscht, wird er zum Tier.«

»Aber woher weiß er, dass…«

»Dass Henk mit seiner Frau zusammen ist? Kittel, ich bitte dich.« Babsi räkelte sich lasziv und erinnerte an eine Schwarze Witwe, die tödlichste aller Giftspinnen. »Wir beide sind erwachsene Menschen.«