Freitag, der 4. Januar

Dieser Tobias ist so ein A…. Ist das wirklich nur wegen Annalena? Ich will doch schon seit Jahrhunderten nichts mehr von der. Oder hat sie ihn angestachelt, weil sie ihm von mir vorgeschwärmt hat, so wie sie mir damals von Maurice vorgeschwärmt hat? Inzwischen weiß ich längst, dass sie eine Menge Märchen erzählen kann, wenn es um ihren Vorteil geht. Von mir aus kann er sie geschenkt haben.

Aber wieso dann plötzlich auch noch das mit der AG? Er und ich sind doch ganz gut klargekommen. Am Anfang hat er sogar gesagt, mit mir würde das viel besser hinhauen als mit Maurice. Ähnliches haben die Jungs gesagt, die in die Spiele-AG gekommen sind. Ich kam ganz gut zurecht mit denen, obwohl da ein paar ziemlich schräge Vögel dabei sind. Diese AG ist nämlich so eine Art soziale Maßnahme der Schule. Kinder mit Problemen im Sozialverhalten, die in jedem normalen Sportverein rausfliegen oder gar nicht erst hingehen würden, sollen dort gemeinsam nach Regeln spielen lernen. Wir machen Ball- und Laufspiele, damit sie mal richtig Gas geben und Dampf ablassen können, aber auch Gesellschaftsspiele. Echt, so was Simples wie Uno, Mau Mau, Schwarzer Peter, Memory oder am schlimmsten: Mensch ärgere dich nicht können die nicht aushalten. Die ticken schnell aus, schmeißen heulend die Spielsteine auf den Tisch, wenn sie einer rausschmeißt, oder treten alles zusammen, wenn sie mal ein Spiel verloren haben. So was in der Art wird von mir erzählt, als ich drei war. Aber diese Kinder, vorwiegend Jungs, sind zwischen zehn und dreizehn! Unsere Aufgabe ist es, mit ihnen »Frustrationstoleranz« zu üben, also eigentlich das, was unsereins täglich macht, wenn in Mathe mal wieder ’ne Fünf reinfliegt und man damit klarkommen muss. Ich hab eigentlich kein Problem, so was wegzustecken, aber Andreas und Sonja sollten mal in der AG vorbeischauen, um an ihrer Frustrationstoleranz zu arbeiten.

Geleitet wird die AG eigentlich von Herrn Maurer. Der sieht selbst aus wie ein wandelndes Fitnessstudio. Braun gebrannt und sehnig wie ein alter Indianer. Die Schüler nennen ihn daher auch Old Schepperhand. Es geht das Gerücht, dass er dem ein oder anderen schon einmal unter vier Augen eine gescheppert hat. Mit der Zeit wurden so viele Schüler in die AG gesteckt, dass die Gruppe geteilt wurde. Old Schepperhand hat die Gruppe mit den Hardcore-Fällen übernommen. Die andere Gruppe, in der »nur« die Hippeligen und Unkonzentrierten herumaffen, betreuen zwei Schülerscouts, die sich so ihr Taschengeld verdienen, was für mich dann ab Februar im Schornstein ist. Bis dahin muss ich mir was anderes suchen. Das ist hier in Modertal gar nicht so einfach, und in der Stadt muss man die Fahrtkosten wieder abziehen.

Der Zoff mit Tobias gestern geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Wieso wurde der am Schluss so gemein und sagt vor Annalena zu mir, ich hätte keine eigene Persönlichkeit und würde alles nur Maurice nachmachen wollen? Am Anfang hat das vielleicht gestimmt. Wenn ich ehrlich bin, gab es sogar Phasen, da war ich besessen von dem Gedanken, Maurice sei mein Zwillingsbruder, und wir wären beide von den Eltern weggegeben und danach getrennt worden. Aber jetzt ist es schon lange nicht mehr so. Jetzt will ich eigentlich nur noch wissen, was mit ihm passiert ist, vor allem wegen Chiara, schließlich war er ihr Stiefbruder.

Dass ich mich überhaupt so in die Geschichte mit Maurice reingesteigert habe, kam eigentlich durch einen blöden Zufall. Es war kurz vor den Herbstferien. Irgendwie hatte ich mich mit den Gestalten in meiner Klasse arrangiert. Ich ging ihnen aus dem Weg und um Chiara machte ich einen noch größeren Bogen als um die anderen. Bis auf kleine Jokes, über die nur sie lachen konnten, ließen sie mich in Ruhe. Ich hatte sowieso wenig Chancen, mitzukriegen, was bei denen so läuft, denn ich konnte ja nicht ins Internet und einen Account bei Facebook hatte ich eh nicht. Wieso auch, wenn ich kein vorzeigbares Face hatte? Außerdem hatte ich keine Lust, täglich eine leere Freundesliste zu checken. Insofern waren die anderen jeden Morgen vor der Schule immer schon besser informiert als ich.

Ich wusste also nicht, dass Annalena an dem Tag ihren 16. Geburtstag feierte. Herr Weigmann saß vorne und kümmerte sich ums Klassenbuch. Nach und nach trudelte einer nach dem anderen ein. (Ich sehe immer zu, dass ich morgens der Erste im Klassenraum bin, damit ich checken kann, ob jemand mir was Stinkendes unter die Bank gelegt oder die Schrauben aus meinem Stuhl gedreht hat. Das war schon ein paarmal passiert.) Als Annalena reinkam, jaulten sie plötzlich los: Häppi Börsdäi tu juhuhu. Ich brummte ein bisschen aus dem Backspace mit. Die Girlies fielen Annalena anschließend reihenweise um den Hals. Kiss, kiss! Überreichten Geschenke. Die Kerle pirschten sich vorsichtiger ran. Diejenigen, die in der Klasse den Ton angeben, wie Marc und Felix, kamen als Erste an die Reihe, durften Annalena sogar mal kurz und fest drücken und ihre Schulter tätscheln. Die anderen gaben artig Pfote. Ich blieb in sicherer Entfernung und beobachtete die Schau. Neben mir bückte sich Jonas, fummelte was an seinen Schuhen und sagte zu mir: Tu mir den Gefallen und gib ihr schnell mein Geschenk da, ich kann jetzt nicht. Über ihm auf der Bank stand ein schön eingewickeltes Päckchen. Ich war sooooo blöd damals! Dachte in dem Moment echt, dass ich die Chance hätte, bei Jonas und vor allem bei Annalena zu punkten. Ich bemerkte noch nicht einmal die schadenfrohen Blicke der anderen! Alle wussten Bescheid, gemeinsam hatten sie diesen Joke über Facebook ausgeheckt! Auch Annalena war eingeweiht. Sie nahm das Päckchen, machte einen auf »total happy«, sie fände es obersüß von mir, dass ich ihr was schenken würde. Sie küsste mich sogar blitzschnell schmatzend auf die Backe. Ich wurde rot wie ein Pavianhintern und war nicht in der Lage, zu erklären, dass das Geschenk eigentlich von Jonas ist. Ich hätte nur gestottert. Entschuldigend schielte ich zu ihm hin, doch er sah ganz zufrieden aus. Das hätte mich warnen müssen! Alle grinsten. Ich verstand es falsch. Noch hätte ich die Chance gehabt, ihr das Teil einfach wieder aus den Händen zu reißen. Sie zog die Karte von dem Päckchen und las laut vor: Für Annalena with Love, Maximillian Friedhelm Wirsing.

Muss es nicht »in Love« heißen?, korrigierte Chiara in ihrer Rolle als Klassenbeste. Alles brüllte los. Jetzt endlich ging mir eine ganze Lichterkette auf. Ich wollte nur noch abhauen, doch sie umzingelten mich wie eine wilde Horde beim Kriegstanz. Der Weigmann ließ es laufen. Er sah mich und Annalena nicht in dem Pulk und dachte wohl, dass wir ausgelassen Geburtstag feierten und er die Zeit nutzen konnte, um das Klassenbuch auf Vordermann zu bringen. Ich stand also da und musste ertragen, wie sie auspackte. Felix und Marc mit ihren Kleiderschrankbodys gaben ihr zusätzlich Deckung. Ich ahnte Schreckliches und hatte recht. Langsam zog sie jedes einzelne Teil raus und hielt es in die Höhe. Dazu klatschte und grölte die Meute. Sie pfiffen und riefen Oh und Ah. Ein durchsichtiger Slip aus knallrotem Stoff. An einer gefährlichen Stelle hat er ein Loch, das mit schwarzer Spitze umhäkelt war. Oh, geil!, rufen sie. Aber Friedi, ist das denn die passende Größe für dich? Oh, Mann, Maxilein, das hätte ja keiner von dir gedacht! Dann kommt eine Art BH, ebenfalls knallrot und schwarz, der allerdings eher wie so eine Art Käfig aussieht und die interessantesten Sachen frei lassen soll. Dann eine Packung Kondome extra feucht. Bei einer Packung Kopfschmerztabletten hatten sie den Namen überklebt und Viagra draufgeschrieben. Eine Mädchenstimme kreischte: Unser Maxi wird jetzt XXL, guckt mal! Alle Augen in meine untere Etage! Ich kniff unwillkürlich die Beine zusammen, was das brüllende Gelächter nur noch anfeuerte. Sie kriegten sich kaum noch ein. Da endlich polterte der Weigmann dazwischen und bahnte sich einen Weg durch die Menge: Schluss, Leute! Setzt euch! Die Party ist vorbei, ich will vor den Ferien noch einen Test über die Weimarer Republik schreiben.

Blitzschnell stopfte Annalena das Zeug in ihr Paket und verschwand. Ich bewegte mich wie ein Roboter und kämpfte dagegen an, ihnen jetzt nicht auch noch den Gefallen zu tun und loszuheulen. Aber ich spürte, wie mir die Tränen aus den Augen quollen. In dem Moment sah ich in Chiaras Gesicht. Sie schaute mich an, als hätte sie gerade die beste Schokolade der Welt im Mund. Ja, sie genoss mein Elend richtig. Das geschieht dir recht, sagten ihre Augen. Ich hatte plötzlich große Lust, ihr eine reinzuhauen. Dir werde ich es zeigen, euch allen werde ich es zeigen!, dachte ich. Ich bin wirklich kein Schläger. Ich halte viel aus, aber in dem Moment spürte ich, wie sich in mir immer mehr Druck aufbaute. Mich hielt nur zurück, dass sie ein Mädchen und ein gutes Stück kleiner ist als ich. Wir standen uns gegenüber und sahen uns an wie zwei Straßenköter kurz vor der Beißerei. Da kam von hinten Jonas auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter und tat so, als wolle er mich in Richtung meiner Bank wegschieben. Vor dem Lehrer machte er jetzt einen auf Friedensengel. So ein Schleimer! Ohne dass der Weigmann es hören konnte, aber laut genug für die anderen um uns herum sagte er: Na, Friedhelm, alles fit im Schritt?

Man muss wissen, Jonas ist so einer, der hat das Talent, immer genau in dem Moment ein Hölzchen zu zünden, wenn die Luft voller Benzin ist. Macht er das absichtlich oder einfach, weil er nicht merkt, wie andere gerade drauf sind? Jedenfalls bin ich daraufhin ausgerastet, wie noch nie in meinem Leben. Er hatte nicht damit gerechnet und meine Faust traf ihn unerwartet auf die Zwölf. Das Blut schoss ihm aus der Nase. Er wischte es mit dem Handrücken weg und stürzte sich auf mich. Jonas ist zwar genauso groß wie ich, damals war er aber eindeutig derjenige, der deutlich mehr Kampferfahrung und Kampfgewicht mitbrachte! Wie im besten Kickboxer-Film holte er mit seinem Bein aus und trat mich vor die Brust, dass ich gegen die Bank hinter mir flog. Der Weigmann brüllte: Aufhören! Aber ich warf mich auf Jonas wie ein Katapultgeschoss und kämpfte – wie ein Mädchen. Ich spuckte, kratzte und kniff ihn. Ich riss an seinen Ohren, seinen Haaren, seinen Klamotten, flennte dabei und jaulte wie ein junger Hund. Das ging nicht sonderlich lang, denn Marc und Felix hatten das schnell unter Kontrolle und hielten uns auseinander, während der Weigmann uns in den Senkel stellte. Wohlgemerkt uns! Er gab nicht mir allein die Schuld, obwohl ich angefangen hatte. Das fand ich oberfair von ihm. Er sagte, er will in der Pause ein Gespräch mit uns führen und unsere Eltern anrufen. Wir sollten uns jetzt die Gesichter waschen, auf unsere Plätze gehen und über unser Verhalten nachdenken.

Annalena hob meine zerbrochene Brille auf und gab sie mir. Ich wollte nicht, dass das so ausartet, sollte wirklich nur ein Joke sein, sagte sie. Ich reagierte nicht, sondern steckte einfach nur die Überreste meiner Brille in meinen Rucksack, dann ging ich zum Waschbecken im Klassenraum und wartete brav hinter Jonas, bis er fertig war. Er tat so, als wäre ich Luft, aber immerhin hielt er die Klappe. Ich kühlte die Schwellung unter meinem Auge und sah, dass das wohl morgen ein schönes Veilchen geben würde. Meine Haare waren von dem vielen Wasser, das ich mir ins Gesicht geklatscht hatte, ganz nass geworden. Ich strich sie einfach hinter die Ohren. Im Spiegel erkannte ich verschwommen, dass ich jetzt aussah, als hätte ich eine Kurzhaarfrisur. Mit dem Face würden die mich jetzt noch mehr dizzen. Aber in diesem Moment war mir das völlig egal. Sollten sie doch! Ich drehte mich langsam um, straffte die Schultern und ging aufrecht und mit ruhigen Schritten zu meinem Platz. Immerhin hatte ich denen mal gezeigt, dass ich mir nicht alles gefallen lasse! Durch das geschwollene Auge und die fehlende Brille konnte ich die Gesichter der anderen nicht so genau erkennen und ehrlich gesagt, wollte ich sie auch gar nicht sehen. Chiara hat mir jedoch später erzählt, wie geschockt sie alle waren, als ich mich umdrehte und mit diesem ganz anderen Gang auf sie zukam. Sie müssen mich angestarrt haben, wie einen Zombie, der gerade aus seinem Grab geklettert ist. So ähnlich war es ja auch. Ich hatte zwar keine Ahnung, aber in dem Moment sah ich genau wie Maurice aus. Maurice, der im Jahr davor noch zu ihrer Klasse gehört hatte und auf den Schienen der S-Bahn-Station Modertal gestorben ist. Besonders schlimm war dieser Augenblick für Chiara. Sie erzählte mir später, sie hätte ein Déjà-vu gehabt und plötzlich wäre alles an mir Maurice gewesen, meine Stimme, mein Gang, die Art, wie ich lache oder wie ich die Seiten in einem Buch immer von hinten nach vorne blättere. In den folgenden Tagen fielen ihr immer mehr Ähnlichkeiten auf und die anderen bestätigten ihre Beobachtungen. Manche meinten, es wäre Zufall, die Esoteriker waren der Ansicht, ich wäre ein Wiedergänger.

Zuerst merkte ich davon nichts, weil sie das alles über Facebook bequatschten. Sie machten sogar heimlich Handyfotos von mir und posteten sie. Dazu pinnten sie Fotos von Maurice. Ich spürte zwar ihr verändertes Verhalten mir gegenüber, aber ich dachte, sie hätten mehr Respekt vor mir, seit ich Jonas eine gelangt hatte.

In den Herbstferien traf ich Jonas zufällig draußen beim Fahrradfahren. Ihm war genauso langweilig wie mir, seine Eltern fahren wegen dem Geschäft nie in Urlaub. Wir hatten auch längst Waffenstillstand geschlossen. Wie gesagt, keiner hat mich mehr seit diesem Tag noch irgendwie dumm angemacht. Zuerst machten wir Kinderkram, versuchten das Wasser im Moderbach aufzustauen und ließen Hölzchen schwimmen. Jonas fragte mich, was ich eigentlich von dem Maurice-Kult halte, den sie um mich machen und warum ich bei Facebook dazu keine Kommentare abgebe. Als ich ihm ehrlich sagte, dass ich nicht ins Internet kann, sind wir zu ihm nach Hause gegangen. Er hat mir alle Fotos gezeigt und ich war erst einmal ziemlich angepisst, dass die einfach so meine Bilder posten, bis ich kapiert habe, dass das diesmal nicht schlecht, sondern total positiv für mich gemeint war. Ein Bild fiel mir besonders auf. Chiara hatte es gemacht. Sie hatte mich fotografiert, als ich auf der Treppe vor dem Schuleingang stand. So ein Foto gab es wohl auch von Maurice. Sie hat aus beiden Bildern eins gemacht. Es sieht so aus, als ob wir beide nebeneinander auf der Treppe stehen und nachdenklich über den Schulhof gucken. (Ich stehe oft kurz vor Ende der Pause da, weil ich aus bekannten Gründen Erster im Klassenraum sein will, wenn es läutet.) Der Wind weht mir die Haare aus dem Gesicht, sodass es aussieht, als seien sie so kurz wie bei ihm. Meine Brille hatte ich noch nicht wieder, sie war noch in Reparatur, und das Monstermodell von Ersatzbrille zog ich nur im Notfall auf. Wir stehen da so nebeneinander, die gleiche Körpergröße, die gleiche Haltung, den gleichen Ausdruck im Gesicht. Wie Zwillinge, hat Jonas auf einmal gesagt. Er schickte mir das Foto auf mein Handy. Ich habe es heute noch und sehe es mir oft an. Als ich wieder zu Hause war, konnte ich mich nicht mehr davon losreißen.

In der Nacht träumte ich das erste Mal von Maurice. Ich sah ihn mit diesem nachdenklichen Gesicht an der S-Bahn-Haltestelle stehen. Er unterhielt sich mit mir. Wir wollten in den Zug einsteigen. Dann sehe ich plötzlich, dass da gar kein Zug ist, sondern es nach dem Bahnsteig ganz tief hinunter geht. Maurice merkt es nicht, weil er mich beim Reden ansieht. Er macht einen Schritt. Ich packe ihn am Ärmel. Wir fallen beide. Wir fallen und fallen. Wir sind Fallschirmspringer und fliegen auf gleicher Höhe. Unsere Haare flattern. Maurice lacht und ruft mir etwas zu. Der Wind reißt ihm die Worte aus dem Mund und rauscht in meinen Ohren. Ich verstehe nichts und weiß nur plötzlich, dass ich die Reißleine ziehen muss. Mein Schirm öffnet sich, ich werde nach oben gezogen und Maurice verschwindet aus meinem Blickfeld. Sofort habe ich Angst, dass ihm was passiert ist. Hat sich sein Schirm nicht geöffnet oder liebt er das Risiko und wartet bis zum letzten Augenblick? -

Bang, chicka, bang, bang. Max’ Handy meldet das Eintreffen einer SMS. Er geht hinüber zum Schreibtisch und findet sein Handy unter einer leeren Fertigpizza-Packung. Als er die Nachricht liest, breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Einen kurzen Moment zögert er. Es wird vermutlich den traurigen Rest seiner Telefonkarte kosten, sie jetzt anzurufen. Egal.

Sie meldet sich sofort. »Hallo Max, was für ein Segen, endlich wieder Netz zu haben. Auf diesem Kaff bei meinem Vater brach es ständig zusammen, überhaupt ist da alles ziemlich zusammengebrochen.«

»Also war es nicht gut?«

»Voll der Horrortrip! Da gibt es nichts außer alten Steinen, Ölbäumen und Mauleseln.«

»Sonja und Andreas träumen von so einem Urlaubsparadies.«

»Wer sind Sonja und Andreas?«

»Die Leute hier bei mir im Haus, die bis vor Kurzem noch behauptet haben, meine Eltern zu sein.«

»Habt ihr Zoff zu Hause?«

»Mehr als das. Ich erzähl’s dir, wenn du wieder da bist. Wo bist du jetzt?«

»Ich bin zu meiner Oma nach Monza geflohen. Endlich wieder Zivilisation! Ich werde auf jeden Fall übers Wochenende noch bei ihr bleiben. So viel Zeit brauche ich, um mich zu erholen und vor allem, um sie zu überzeugen, dass sie mich alleine nach Deutschland reisen lässt. Sie will das jetzt erst mal mit Giusi, der Schwester von meiner Mama, besprechen und dann vielleicht auch noch mit ihrer Nachbarin. So ist das in Italien. Außerdem will sie die Erlaubnis meiner Alten einholen, dass ich die letzte Ferienwoche allein im Haus bleiben darf.«

»Der alte Köhler ist ja da und wurschtelt bei euch im Garten herum, der kann auf dich aufpassen – und ich natürlich auch.«

»Danke. Den Köhler werde ich als Argument verwenden. Dich lass ich lieber aus dem Spiel. Geht’s dir denn einigermaßen?«

»Geht so. Wir haben viel zu bequatschen, wenn du wieder da bist.«

»Ja, ich freu mich drauf. Melde mich. Ciao!«

Max legte das Handy vorsichtig beiseite, als sei es ein kleiner, zerbrechlicher Vogel. Er betrachtete es lächelnd und hatte dabei ein anderes Bild vor Augen: Chiaras rundliches Gesicht mit den roten Wangen und den schwarzen Augen, die ihn unternehmungslustig anblitzten. Ihre dunklen Locken tanzten um ihre Stirn und sie pustete sich vorwitzige Strähnen aus dem Gesicht. Er spürte, wie sich die bleierne Stimmung, die ihn seit Jahresanfang belastete, ein wenig auflöste. Es war gut, bald alles mit Chiara besprechen zu können. Sie würde wissen, wie es von nun an weitergehen soll. Die meisten Ereignisse der letzten Wochen hatte sie hautnah miterlebt. Max erinnerte sich. Nach dem Schock mit dem Foto hatte er heimlich begonnen, etwas über Maurice herauszufinden. Schnell hatte er bemerkt, dass Chiara ein wichtiger Schlüssel in seinen Nachforschungen war. Auch seine Großmutter, die in Modertal geboren und aufgewachsen war, wusste einiges über die von Bentheims.

Die alte Villa hatte jahrelang leer gestanden, bis Gero von Bentheim sie Ende der achtziger Jahre kaufte und auf dem modernsten Stand renovieren ließ. Er zog dort mit seiner Frau, Friederike von Bentheim, ein. »Eine bildschöne Frau mit blonden Locken und einem Körper wie eine Elfe«, hatte Oma erzählt. »Sie war eine Pferdenärrin, hat mitgeholfen, die alte Reitschule auf dem Erlenhof wieder in Betrieb zu nehmen. Ihr Mann hat die Reithalle errichtet. Anfangs glaubte man, die seien sich selbst genug. Die Frau hat ihre Pferde, er hat seine Firma. Die wollen keine Kinder. Ende der Neunziger kam dann Maurice. Die von Bentheims lebten sehr zurückgezogen. Da bekam man nicht viel mit. Viele Leute mochten sie deshalb nicht. Es wurde schlecht über sie geredet. Ich für meinen Teil habe nie Probleme mit ihnen gehabt.«

»Erzähl mir mehr von Maurice«, hatte Max gebeten.

»Warum willst du etwas über ihn wissen?«

»Er ging in meine Klasse und seine Schwester ist da jetzt noch.«

»Die Schwester geht in deine Klasse? Wie heißt sie?«

»Chiara«, hatte Max versucht, so beiläufig wie möglich zu sagen.

Die Großmutter hatte nachdenklich die Augen zusammengekniffen. »Das ist italienisch. Stimmt, sie ist seine Stiefschwester. Die zweite Frau von Gero von Bentheim hat sie mit in die Ehe gebracht. Sie ist mit Maurice nicht mehr verwandt als du oder ich.«

Bei dem Wort »du« war Max unwillkürlich zusammengezuckt. So alt wie ich, dachte er. Am Ende ist Maurice am gleichen Tag geboren! »Was ist mit der ersten Frau, also mit Maurice’ Mutter geschehen?«, hatte Max nachgehakt.

Die Oma hatte geseufzt. »Man erfuhr ja so wenig, deshalb entstanden viele böse Gerüchte. Es hieß, sie würde sich nicht um Maurice kümmern. Sie überließ alles irgendwelchen Au-pairs oder den Köhlers. Frau Köhler arbeitete dort als Köchin und Haushälterin. Oft hat sie mir erzählt, sie hätte auf den Kleinen aufpassen müssen, weil »die Madame« – so sagte sie immer –, im Bett geblieben war. Später wurde sie kleinlaut. Da stellte sich nämlich heraus, dass Frau von Bentheim offensichtlich sehr krank war. Irgendwann ist sie dann auch in eine Klinik gekommen. Und dann war plötzlich die Italienerin als neue Frau von Bentheim da. Endlich gab es eine Mutter für Maurice und gleich eine Schwester dazu. Die Leute sagten, dass der Kleine richtiggehend aufgeblüht ist. Ein Jahr später wurde dann noch ein Mädchen geboren. Wie sie heißt, weiß ich im Moment gar nicht. Ich für meinen Teil habe mich jedenfalls gefreut, dass es in diesem Haus wieder bessere Zeiten gab und der kleine Maurice eine funktionierende Familie um sich hatte. Ich habe zwar nicht so viel Einblick, aber wenn man die neue Frau von Bentheim mit den Kindern sieht, merkt man, dass es ihnen gut geht. Vielleicht hat mich das Schicksal dieses kleinen Jungen auch so berührt, weil er mich an dich erinnerte.«

»Er erinnerte dich an mich, wieso?«, hatte Max alarmiert gefragt.

Die Oma hatte gezögert. »Nun, er war ja schließlich so alt wie du und auch ein kleiner, blonder Junge.«

»Mehr Ähnlichkeit hast du nicht gesehen?«

»Nein, natürlich nicht. Er war auch größer und kräftiger als du. Warum fragst du so komisch?«

»Die in meiner Klasse meinen, ich sehe ihm ähnlich.«

»Ihr habt euch als Kinder ein bisschen ähnlich gesehen. Später aber nicht mehr. Er war ein ganz anderer Typ als du. Haben deine Klassenkameraden dir auch erzählt, was mit ihm geschehen ist?«

Max hatte genickt. »Sie sagen, es wäre nicht klar, ob es Selbstmord oder Mord war.«

Die Oma hatte den Kopf geschüttelt. »Da hast du es wieder! Hier ist es schlimmer als auf dem Dorf! Ständig müssen sich die Leute das Maul zerreißen.«

»Aber manchmal ist an Gerüchten auch was Wahres dran«, hatte Max entgegnet. »Vielleicht wissen manche mehr und rücken nur nicht offen damit heraus!«

Die Oma hatte wieder heftig den Kopf geschüttelt. »Alles nur Geschichten! Von Brandstiftung, Mord und Totschlag. So was lieben die Leute!«

»Brandstiftung?«

Max hatte am Gesichtsausdruck seiner Oma gesehen, dass sie nicht gerne über diese Ereignisse redete. Aber da er sie so aufmerksam anschaute, wollte sie ihn nicht enttäuschen. Zögerlich hatte sie begonnen: »Als das Haus einer lieben Freundin letztes Jahr abgebrannt ist – halt, Moment, das war ja schon vorletztes Jahr. Juli 2011! Genau! Da haben die Leute gemeint, es sei Brandstiftung gewesen. Jemand habe sie umbringen wollen. So ein Blödsinn! Es war ein altes Haus! Sie hat seit Jahrzehnten nichts mehr dran gemacht. Die alten Leitungen, der Gasherd von annodazumal. Selbst ich hätte den längst rausgeschmissen. Wie oft hatte ich ihr das gesagt.«

»Ist das die Freundin, mit der du mal auf einer Demo warst?«, hatte sich Max erkundigt.

»Brigitte Wiesner. Vielleicht erinnerst du dich sogar an sie. Du warst als kleiner Bub einmal mit dabei! Auf jeden Fall gab es keinen, der einen Grund gehabt hätte, sie umzubringen. Sie war eine herzensgute Seele, sie hat niemandem was zuleide getan! Und jetzt hören wir auf mit diesen Mördergeschichten. Sonst träumen wir heute Nacht noch schlecht!«

So war sie, die Oma. Sie wollte alles positiv sehen. Nur keinen Ärger! Friede, Freude, Eierkuchen! Max schaute zum Fenster hinaus. Draußen war alles grau in grau. Regentropfen krochen die Scheiben hinab. Wo lag eigentlich Monza? Er zog den Schulatlas aus dem Regal und blätterte ungeduldig darin herum. Wie einfach wäre es gewesen, das zu googeln. Wieder wuchs in ihm der Groll gegen Eltern, die nicht in der Lage waren, einem die Grundversorgung zu sichern. Er wunderte sich, wie schnell er fand, was er suchte. Ein kleiner roter Punkt in Norditalien. Ein Städtchen dicht neben Mailand. War das ein Vorort so ähnlich wie Modertal? Gratuliere, Chiara, das ist ja nicht gerade das Kontrastprogramm! Aber alles war wohl besser als dieses Bergdorf in Sizilien.

Max verschanzte sich wieder in seinem Bett. Schorsch, der erwartungsvoll aufgesprungen war, ließ sich mit enttäuschtem Seufzen vor dem Bett nieder. »Wir warten noch, bis der Regen aufhört«, erklärte Max. Er griff sich den Stift und las noch einmal seine letzten Sätze. Dann schrieb er weiter.

Von da an träumte ich immer häufiger von Maurice. Ich weiß gar nicht mehr, ob es Absicht war oder sich irgendwie von selbst ergab, aber ich fing an, mich immer mehr so zu stylen wie er. Das nötige Kleingeld verdiente ich mir mit mehreren Nebenjobs. Ich ging sogar mit dem Handyfoto zum Friseur und ließ mir einen Haarschnitt à la Maurice verpassen. Meine Eltern konnte ich überzeugen, dass Kontaktlinsen praktischer sind als eine Brille und sie haben draufbezahlt. Die in meiner Klasse waren völlig weg. Vor allem Annalena. Wo ich auftauchte, erschien sie auch. Das konnte kein Zufall mehr sein!

Oma und meine Eltern staunten nur noch und dachten, ich treibe die ganze Schau wegen Annalena. Ich hatte inzwischen einen Terminplan wie ein Manager. Wenn ich nicht in der Schule war oder bei einem meiner Jobs, joggte ich durch die Modertaler-Felder bis zum Hutewald. Das war weit genug weg, damit mir niemand begegnete, denn dort machte ich Krafttraining an Baumstämmen, spurtete die Hänge rauf und runter und schleppte Steine und Hölzer. Schorsch lief regelmäßig mit, schleppte Stöckchen und verlor deutlich an Gewicht, was dem verfressenen Kerl sichtlich guttat. Jeden Abend vor dem Bett steigerte ich die Zahl meiner Liegestütze und war bald bei hundert angekommen. Tolle Leistung, wenn ich an meine ersten Bauchplatscher denke. Schon nach ein paar Wochen hatte ich ein Sixpack, wie man es auf manchen Fotos bei Maurice bewundern konnte. Er soll regelmäßig ins Studio gegangen sein. Dafür fehlte mir das Geld. Aber in seinem Taekwondo-Verein meldete ich mich noch in den Herbstferien an und trainierte regelmäßig mit. Schon bald hatte ich das Gefühl, jeden Angreifer ohne Probleme aufs Kreuz legen zu können. Doch das war gar nicht mehr nötig. Denn alle hatten plötzlich Respekt vor mir – wie früher vor Maurice! Annalena schmachtete mich an und ich traute mich sogar, mit ihr wild auf Jonas’ Geburtstagsparty herumzuknutschen. Da war keiner, der es wagte, sich deswegen mit mir anzulegen. Nur Jonas’ Bruder Tobias warf mir Blicke zu, als würde er mich gerne neben den Würstchen auf dem Grill brutzeln sehen. Ich hab ihn mit Winner-Miene angegrinst.

Eines Tages, es muss so Ende Oktober gewesen sein, beobachtete ich nach der Schule auf dem Pausenhof eine Gruppe kleiner Jungs beim Fußballtraining. Tobias stand mit der Trillerpfeife im Mund daneben und machte einen auf Obergorilla. Doch plötzlich hörten ein paar von denen nicht mehr auf sein Kommando. Sie blieben stehen und starrten mich an. Da ist Maurice!, rief einer. Ich erinnere mich noch genau. Es war Justin Kinkel, der kleine Loser aus dem Harzerpfad, dem sie Pinkel hinterherrufen. Maurice ist wieder da!, schrie er aufgeregt. Sie rannten alle auf mich zu und sprangen an mir hoch wie junge Hunde. Dabei bemerkten sie ihren Irrtum und ließen von mir ab.

Ich blieb noch eine Weile und sah ihnen zu. Es gefiel mir, dass ich für sie so eine Art Star war und sie ständig zu mir hinguckten und winkten. Später kam dann Tobias auf mich zu und machte mir den Vorschlag, mit ihm zusammen die AG zu übernehmen. Er würde halbe, halbe mit mir machen. Es wäre ihm lieber, wenn er noch eine Unterstützung hätte und ich sähe so aus wie einer, der Kohle bräuchte. Das gab ich natürlich nicht so gerne zu, sondern sagte zu ihm: Irrtum. Ich sehe aus wie einer, der Kohle hat. Tobias hat gegrinst und die Hand zum High Five gehoben. Ich schlug ein. Damit hatte ich bei einem weiteren wichtigen Typen gepunktet. Von da an war ich nur noch auf der »Street of Glory« unterwegs.

Es gab allerdings noch ein winziges Restproblem. Und das war Chiara. Sie ging mir aus dem Weg. Aber oft erwischte ich sie dabei, wie sie mich aus der Ferne beobachtete. Es wurde zu einem Spiel. Erst tat ich so, als bemerkte ich sie nicht, und dann sah ich sie ganz schnell an, sodass sie das Visier nicht mehr schnell genug herunterklappen konnte. Dabei spiegelte sich eine ganze Palette von Ausdrücken in ihren Augen. Manchmal hatte sie ein Lächeln drauf, das ganze Gletscher abschmelzen könnte, oder sie schaute so Madonna-Maria ernst, dass man sich am liebsten für alles auf dieser Welt bei ihr entschuldigt hätte, vor allem für die eigene Existenz. Und dann gab es Momente, in denen sie mit unendlich traurigen Augen an mir hing. Damit schlug sie sogar Schorsch, der diesen Blick auch drauf hat, wenn ich weggehe, ohne ihn mitzunehmen. Irgendwann nahm ich all meinen Mut zusammen und beendete das Theater, indem ich in der Mittagspause in der Schulkantine eine große Portion gemischten Salat und zwei Gabeln erstand und zu dem Tisch ging, an dem sie saß und an ihrem Wasser nippte. Insalata Mista gefällig?, fragte ich wie ein Oberkellner. Sie sagte, dass sie eigentlich gerade Null-Diät mache, aber sie lächelte dankbar, als ich in eine Tomate piekte und sie ihr hinhielt. So fütterten wir uns gegenseitig und erzählten uns dazwischen alles Mögliche aus unserem bisherigen Leben. Wir lachten viel und ich wusste nun, dass auch Chiara auf meiner Seite war.

Zu der Zeit war ich fest überzeugt, dass es keinen mehr gab, der noch etwas gegen mich haben könnte, doch dann fand ich in der letzten Woche vor den Ferien diesen Fisch im Schließfach. Erst hatte ich Jonas im Verdacht. Ich beobachtete ihn aufmerksam und warf ihm kritische Blicke zu. Doch er benahm sich so verpeilt wie sonst auch. Am 25. Dezember lag dann der erste Brief im Kasten. Meine Oma brachte ihn mir erst abends, weil den ganzen Tag niemand nachgeschaut hatte. Es war ja Weihnachten, und da kam keine Post. Am 29. Dezember dann der nächste Brief mit derselben Botschaft. Als hätte jemand abgewartet, ob ich reagiere, um dann denselben Brief noch einmal zu schicken. Gestern morgen steckte dann der dritte Brief im Kasten. Da stand was anderes drin.

Max sah von seiner Schreibarbeit auf und betrachtete den Hund, der die Beine von sich gestreckt hatte und auf dem Teppich vor dem Bett döste. Er liegt da, wie erschossen, dachte Max und hatte plötzlich ein Gefühl als ob Eiswasser durch seine Adern flösse. Schorsch hob den Kopf. Hatten Hunde einen siebten Sinn und merkten, wenn man an sie dachte? Schorsch sprang auf. Er wedelte und winselte und riss mit der Pfote an Max’ Arm. Max klappte das Buch zu. »Ist okay, wir gehen eine Runde.«

Als Max von einem ausführlichen Spaziergang mit Schorsch im Nieselregen zurückkam, dämmerte es bereits. In Schorschs Fell hingen Schlamm, faules Laub und Kletten. Max klemmte sich den Hund unter den Arm, ging hinunter in den Keller zur Waschküche und begann mit den Reinigungsarbeiten. Anschließend sauste Schorsch wie befreit mit wehenden Ohren durch die Wohnung. Treppauf, treppab, durch die Zimmer. Er schnappte ausgelassen nach allem, was er finden konnte und trug es einige Meter mit sich. Mal war es ein Socken, mal ein Hausschuh, mal ein Stück Zeitung. Max stand lachend an der Treppe und sah dem tobenden Fellbündel vergnügt zu. Als Schorsch bei der nächsten Runde an Max vorbeikam, trug er einen Brief im Maul.

»Stopp!«, rief Max und Schorsch ließ vor Schreck sein Spielzeug fallen.

Max bückte sich und hob den Umschlag auf. Maximillian Friedhelm Wirsing stand darauf. Im Gegensatz zu den bisherigen Briefen war es ein länglicher, cremefarbener Umschlag, wie man ihn für Grußkarten verwendet. Die letzten drei Briefe waren unfrankiert in den Briefkasten draußen am Gartenzaun eingeworfen worden. Und dieser hier? Wo hatte Schorsch den her? Max verfolgte mit den Augen den Weg zurück, auf dem Schorsch gekommen war. Er war von der Haustür durch den Flur gesaust. Also musste jemand diesen Brief unter der alten, zugigen Holztür durchgeschoben haben. Aber vorhin lag da kein Brief, das wäre Max beim Hereinkommen aufgefallen. Also musste es passiert sein, als er mit dem Hund unten in der Waschküche gewesen war. Wie dreist! Jemand war durch den Vorgarten bis zur Haustür gekommen, hatte dort vermutlich lauschend gestanden und dann den Brief durchgeschoben.

Max starrte auf die Tür. Sein Herz schlug bis zum Hals. Da kommt dir jemand immer näher, dachte er. Sein Blick fiel auf Schorsch, der mit bettelnden Hundeaugen vor ihm saß und sein Spielzeug zurückhaben wollte.

»Du bist mir vielleicht ein Wachhund, schlägst nicht mal an, wenn einer an der Tür ist!«

Als Antwort kläffte Schorsch hell, was allerdings eher zu bedeuten hatte, dass seine Geduld am Ende war und er weiter mit dem schönen Papier spielen wollte. Der Laut des Hundes erinnerte Max daran, dass Schorsch sehr wohl eben im Flur gebellt hatte. Ja, er hatte sogar an der Eingangstür gekratzt, nur hatte Max das als Teil seines verrückten Spiels interpretiert.

Max ging zur Tür und lauschte. Schorsch folgte ihm und schnüffelte am Türspalt. »Sag schon, steht da draußen noch einer?« Schorsch kläffte kurz und sprang an Max’ Beinen hinauf. Eine Botschaft, der Max nichts Brauchbares entnehmen konnte. Also schlich er sich in die dunkle Küche und lugte vorsichtig zwischen den Vorhängen hindurch zur Eingangstür. Die Straßenlaternen beleuchteten spärlich den nassen Vorgarten mit seinem Gewirr aus vertrockneten Stauden und Buschwerk. Vor der Haustür stand niemand. Andererseits war es kein Problem, sich irgendwo auf diesem unübersichtlichen Grundstück zu verstecken. Wenn es in diesem Winter wenigstens mal Schnee gegeben hätte, dann hätte man vielleicht Spuren sehen können. Aber bei diesem Wetter verschwand alles in schlammigem Einheitsgrau. Die Großmutter hatte noch nicht einmal eine Lampe mit Bewegungsmelder an der Tür wie ihre Nachbarn.

Max verließ seinen Posten und zog sich in sein Zimmer zurück. Dort öffnete er den Brief. Die Botschaft war neu. Sie war nicht mit der Hand, sondern mit Computer geschrieben.

Hör auf mit der erbärmlichen Show, du bist nicht Maurice, sondern nur ein verkleideter Emo! Bald bist du dran!

Max zog die anderen Briefe hervor und legte sie daneben. War das ein und dieselbe Person, die sich bewusst verstellte, oder hatten verschiedene Personen die Botschaften verfasst? Wussten sie voneinander? Hatten sie sich gar abgesprochen? Nachdenklich legte Max die Stirn in Falten und biss sich auf die Unterlippe. Auf jeden Fall schienen alle Briefeschreiber zu wissen, dass er nicht ins Internet konnte und nur auf diesem Weg erreichbar war.

Da schlichen also alle möglichen Personen ums Haus und warfen unbemerkt Briefe an ihn ein. Er würde sich auf die Lauer legen, vielleicht hatte er Glück und erwischte einen. Dann würde er wissen, ob es sich um dumme Schülerstreiche handelte. Vielleicht war jemand neidisch auf sein neues Image und wollte ihn auf diese Art einschüchtern. Oder er entdeckte, dass es sich um jemand ganz anderen handelte. Aber um wen?