Donnerstag, der 3. Januar

Heute Morgen lag wieder so ein Brief bei uns im Kasten. Allerdings steckte er nicht in einem blauen Umschlag wie die beiden vom 25. und 29. Dezember. Der Umschlag war weiß, es war ein anderer Text. Auch mit der Hand geschrieben, aber eine andere Schrift. Ich lege ihn zu den anderen beiden hinten ins Buch.

Gestern habe ich mich auch noch mit Oma gezofft. Das ist bis jetzt noch nie vorgekommen. Irgendwie tut sie mir ein bisschen leid. Ich hätte sie nicht so abfertigen dürfen. Aber andererseits, wie soll man jemandem vertrauen, der einem so viele Jahre etwas vorgelogen hat? Die gehört doch mit zu dem Komplott! Die ist auch nicht besser als ihr Sohn und ihre Schwiegertochter! Ich wünschte, Chiara wäre hier, und ich könnte ihr alles erzählen!

Ich habe mich entschlossen, die beiden Personen, die ich bis zum 01.01.2013 als Papa und Mama bezeichnet habe, was ziemlich babymäßig klingt, von nun an mit ihren Vornamen Andreas und Sonja anzureden. Erst hatte ich überlegt, Andreas’ Mutter auch nicht mehr »Oma« zu nennen, aber eigentlich kann sie ja am wenigsten was dafür und ist bestimmt von Andreas und Sonja gezwungen worden, den Schnabel zu halten, was sie dann um des lieben Friedens willen gemacht hat. So ist Oma nun mal: Kinder, keinen Streit, es gibt genug Unfrieden auf der Welt!

Nach dem Krach mit ihr bin ich mit Schorsch eine große Runde um Modertal gelaufen. Erst unsere Straße entlang, dann rüber zu den Wohnblocks an der Klapperwiese. Kaum war ich dort vorbei, lief mir der kleine Justin über den Weg. Er ist zwölf und sieht aus wie ein Grundschüler. Nur Haut und Knochen und dunkle Ringe unter den Augen. Wie ein verhungerter Waschbär! Er muss mich vom Fenster aus gesehen haben und hat sich mir an die Fersen gehängt. Er wollte unbedingt Schorsch an der Leine führen, aber der läuft lieber frei und Justin bettelte, ich solle ihn anleinen. Mann, dieser Justin nervt! Ob er Maurice seinerzeit auch so auf den Keks ging? Bestimmt! Eigentlich sollte ich netter zu ihm sein, schließlich habe ich ihn von Maurice geerbt.

Irgendwie sind wir dann auch am Bentheim-Schlösschen vorbeigekommen. Da wurde Justin ganz unruhig und zitterte sich einen ab. Er starrte durch den Gartenzaun. Der alte Köhler war damit beschäftigt, die Gartenwege zu kehren. Als würde das jemanden interessieren, sind doch alle in Urlaub! Als er uns sah, rastete er wie üblich gleich aus. Was wir denn da zu glotzen hätten, asoziales Pack! Justin zischte sofort ab wie Schmitts Katze! Da hatte ich ihn wenigstens los. Ich ließ mich von dem Alten nicht kirre machen, ganz im Gegenteil. Ich blieb schön cool und schaute erst recht durch den Zaun und das Haus rauf und runter. (Vor einem halben Jahr hätte ich mich das noch nicht getraut und hätte voll die Panik bekommen. Aber inzwischen weiß ich es besser. Das habe ich von Maurice gelernt. Der soll auch immer cool geblieben sein und hat sich nicht aus dem Takt bringen lassen.) Der alte Köhler kam an und meinte, er wolle jetzt die Polizei holen, weil es so aussähe, als hätte ich vor einzubrechen.

Ey, Mann, sagte ich, machen Sie sich mal locker! Wenn ich hier rein will, dann lässt mich meine Freundin rein, da brauch ich nicht einzubrechen.

Die ist nicht da, hat der Alte geknurrt.

Klar, weiß ich, hab ich gesagt, und mich insgeheim gefreut, dass er Chiara ohne Protest als meine Freundin verbucht. Am Haus waren überall die Läden zugeklappt und das sind eine Menge bei diesem Riesenbunker. Zwölf Zimmer hat mir Chiara einmal gesagt. Und hat mir dann sogar Maurice’ Zimmer gezeigt. Das war echt ein Schock für den edlen Herrn von Bentheim, als er uns dort erwischt hat. Ich dachte, der kriegt jetzt einen Infarkt.

Aber Moment mal, ich wollte ja eigentlich alles von Anfang an aufschreiben! Also noch mal zurück auf Start. Sommer 2012. 14. Juli kamen wir mit dem Möbelwagen in Omas Haus an. Nicht mit einer Umzugsfirma, nee, das wäre zu teuer gekommen, sondern mit einem geliehenen Laster von einem Ex-Arbeitskollegen von Andreas. Immerhin gab es eine Hebebühne! Trotzdem war das eine elende Schlepperei. Heute würde ich diese Kisten locker tragen können, aber damals hatte ich noch nicht die Muckis dazu. Wochenlang habe ich mitgeholfen, Möbel zusammenzubauen, Kisten auszupacken. Max, komm doch mal! Max, tu doch mal! Und der gute Max von damals hat alles gemacht. Vielleicht haben sie mich nur deswegen genommen, weil sie einen billigen Haussklaven haben wollten. Das meine ich ernst. Es soll Leute geben, die sich Kinder zulegen, weil sie einen Organspender brauchen!

Bei dem ganzen Trubel – große Katastrophe – hatte ich total vergessen, dass Sonja am 13. August ihren 50. Geburtstag feiert. Für mich war der Tag aus einem völlig anderen Grund wichtig: Es war der erste Schultag nach den Ferien. Eigentlich hätte ich locker in meiner alten Schule bleiben können. Allerdings hätte ich dann täglich mit der S-Bahn hinfahren müssen, was gleich abschlägig beschieden wurde: Zu teuer für uns, Max! Du gehst auf die Modertaler Gesamtschule! Da kannst du zu Fuß hingehen, und es ist auch noch ein schöner und ungefährlicher Weg durch das Wäldchen.

Super! So was können einem eigentlich nur Feinde wünschen. (!)

Einen Riesenschulbunker haben sie da mitten in die Äcker gesetzt mit gefühlten zehntausend Schülern, die dich alle anglotzen als kämest du gerade frisch vom Mars. Die Klasse 10e, in die ich sollte, war der absolute Gipfel. Kaum stand ich vorne neben dem Lehrer, hatte ich schon das erste durchgekaute Papierkügelchen auf dem Kittel. Wer war das?, knatschte der Lehrer. Erstaunlicherweise (haha) meldete sich keiner. Und so ließ er es auf sich beruhen. Damit war ihnen klar, was sie sich mit mir erlauben können.

Der Lehrer damals in der ersten Stunde war unser Biolehrer, Herr Pöppel, den alle Popel nennen. Er machte Vertretung für den Klassenlehrer, Herrn Weigmann. Bei dem hätten sie anders gespurt und ich hätte einen besseren Start gehabt.

Der Pöppel war sauer wegen der Vertretung und sagte ziemlich lustlos: Darf ich euch einen neuen Mitschüler, den Max, vorstellen? Einige guckten zum Fenster raus, einige tippten unter der Bank was ins Handy. Einige grinsten mich blöd an. Aber ansonsten friedliches Schweigen.

Dann schob dieser Pöppel mit dem Feingefühl einer Mülltonne meinen vollen Namen hinterher: Maximillian Friedhelm Wirsing. Alles tobte vor Lachen. Popel rastete aus, brüllte in die tobende Meute. Irgendwann waren sie still und ich sah in ihren lüsternen Augen, was ich ab jetzt für die war. Der Pöppel legte allerdings noch einen drauf und fragte, wie ich denn genannt werden will: Max oder lieber …? Schon riefen sie aus der Klasse mit Comic-Stimmen: Maxi! Friedi! Wirsi! Aaaaach wie süß, stöhnte eine Blonde. Das war Annalena. Sie ist ein Superweib mit blonden Haaren, langen Beinen und einem Hintern in der Jeans, dass einem ganz schwindelig wird und die eigene Jeans zwei Nummern zu klein.

Ich muss zugeben, es hat mich damals am meisten angenervt, dass ausgerechnet sie sich ihren Spaß mit mir machte. Natürlich war mir klar, dass ich bei einem solchen Mädchen niemals landen könnte. (Dass sich das später änderte, zählt zu den sieben Weltwundern meines Lebens.) Gefallen hat sie mir schon damals, und mir wurde in ihrer Nähe immer heiß, was alle anderen, vor allem Jonas, Zündstoff für die blödesten Bemerkungen und Aktionen gab. Denn bei meiner hellen Haut glüh ich wie ein Streichholz.

Trotz allem hatte ich an dem Morgen Glück, weil sich alle unbedingt von ihren tollen Urlaubserlebnissen erzählen mussten und schnell das Interesse an mir verloren. Ich hätte sowieso nicht mithalten können, denn Kistenschleppen in Modertal ist ja nicht gerade das ultimative Event, mit dem man punkten kann. Sie plapperten alle wild durcheinander und übersahen mich einfach, was mir am liebsten war.

Ich versuchte, aus ihren Erzählungen etwas aufzuschnappen und abzuspeichern. Es ist besser, seine Feinde zu kennen. Schon damals fiel mir auf, dass es für einen kurzen Moment absolut still wurde, als jemand den Namen Maurice nannte. Sie tauschten Blicke aus, dann zwitscherten sie plötzlich weiter wie die Stare in Omas Kirschbaum.

Irgendwann war dieser schreckliche Schultag zu Ende und die Meute verteilte sich zu Fuß oder mit Fahrrad oder »Taxi Mama« ins Umland. Einige nahmen den Weg wie ich durch das Wäldchen Richtung Modertal. Manche wohnten dort, aber viele mussten auch zur S-Bahn-Haltestelle. Ich wartete, bis der Pulk schnatternd abgezogen war. Dann schlich ich ihnen mit Abstand hinterher. Ich war fest entschlossen, dies als meinen letzten Schultag mit diesem Haufen in die Geschichte eingehen zu lassen. Ich wollte zurück an meine alte Schule. Auch wenn es nicht stimmte, erschien die mir im Rückblick wie ein Paradies mit lauter netten Lehrern und Mitschülern. Ich nahm mir vor, meinen Eltern das Angebot zu machen, für das Fahrtgeld jobben zu gehen. Sie würden dann noch andere Gründe nennen, zum Beispiel das frühe Aufstehen, die Fahrtzeit usw. Um besser argumentieren zu können, ging ich zum S-Bahnhof, an dem kaum noch jemand stand, und wollte den Fahrplan studieren. Da sah ich, dass unter dem Glaskasten mit dem Fahrplan, der auf Metallstelzen steht, sich Berge von Blumen häuften. Ein wildes Durcheinander von Botanik! Ich dachte, wer kippt denn so was hier aus? Und dachte gleichzeitig an den Geburtstag meiner Mutter. Shit! Ich wusste, dass sie früher nach Hause kommt, weil wir im Garten grillen und sie dafür noch einiges vorbereiten wollte. Und ich hatte nicht einen Cent mehr, um ihr etwas mitzubringen. Einige von den Blumen sahen noch ganz brauchbar aus, also begann ich, sie auszusortieren und zu einem Superstrauß zusammenzubinden, der deutlich besser als »Marke Tankstelle« aussah. Als ich fast fertig war, kam plötzlich vom anderen Bahnsteig her eine kleine Kugel mit zwei Beinen auf mich zugeschossen. Oben drauf hatte sie einen Kopf mit wilden, dunklen Locken. Ihr Gesicht sah ich erst, nachdem sie die Haare wütend über die Schultern geworfen hatte und mich übelst anmachte: Was geht, ey? Wie schräg bist du denn drauf? Leg die sofort wieder hin, aber avanti! Damit war mir klar: Aha, die hat einen italienischen Migrationshintergrund. In Italien soll dieser Ton an der Tagesordnung sein. Die kreischen immer und meinen es gar nicht so. Also nahm ich sie nicht ernst. Auch wenn ich damals nicht gerade das Superselbstbewusstsein hatte, aber vor so einer kleinen Kugel hatte selbst ich keine Angst. Ich sagte also ganz ruhig: Nee, fällt mir nicht ein, und jetzt mach dich mal vom Acker! Dann bückte ich mich, um die nächste Blume aufzuheben. Plötzlich schlug sie mir die aus der Hand und fauchte: Leg sie alle sofort wieder hin, sonst bist du tot! Das sah bei ihr ziemlich lächerlich aus. Sie geht mir gerade bis zur Brust. Nee, bestimmt nicht! Du hast sie ja nicht alle, du Kugelmonster!, jokte ich.

Inzwischen weiß ich, wie schlimm ich sie damit getroffen habe und wie aufgewühlt sie durch meine Blumenklauerei war. Damals verstand ich das nicht, sondern lachte, während sie Rotz und Wasser flennte. Das ist eine Gedenkstätte, schluchzte sie. Der Komposthaufen?, fragte ich. Sie jaulte mich an: Heute Morgen hast du mir noch leid getan, und ich fand es ziemlich unfair, wie sie mit dir umgegangen sind, aber jetzt weiß ich, dass es genau richtig war! Du bist ja völlig gaga, Maximillian Friedhelm Grünkohl! Dann rollte sie davon.

Ich sah ihr nach und merkte, dass ich da gerade einen ziemlichen Fehler gemacht hatte. Die ging also auch in die 10e, dunkel erinnerte ich mich, aber in diesem wabernden Grimassenhaufen war sie mir nicht sonderlich aufgefallen. Ich hatte also meine Chance verspielt, wenigstens eine Seele auf meiner Seite zu haben. Im Gegenteil, sie war ab jetzt Feindin Nr. 1.

Heute tut mir das riesig leid, dass ich mich damals so blöd benommen habe. Sorry, Chiara, aber ich hatte ja nicht die geringste Ahnung! Erst ganz langsam im Laufe der Zeit fing ich an, die Zusammenhänge zu begreifen. Das war gar nicht so einfach, denn wenn ich eine von den Figuren in meiner Klasse fragte, bekam ich nur äußerst knappe Auskünfte und zwischen Chiara und mir herrschte ohnehin Funkstille. Woher sollte ich denn auch ahnen, dass sie die Stiefschwester von Maurice war, der wie sie in diese Klasse gegangen war? Chiara hat einen anderen Familiennamen. Sie heißt Chiara Plati. Maurice hieß von Bentheim mit Nachnamen. Sie haben zusammen mit ihren Eltern in dieser alten Villa mit Erkern und Türmchen gewohnt, die man in Modertal das »Bentheim-Schlösschen« nennt. Manche spotten auch und sagen »Disneyland« dazu oder »Neu Bentstein«. Daran merkt man, dass die Leute den von Bentheims nicht gerade freundlich gesinnt sind. Die bunkern sich aber auch ein in ihrem Nobeltempel, ähnlich wie die Fürsten von einst, und lassen keinen an sich ran.

Um die Villa ist ein großer Park mit einem hohen Zaun aus Eisenstäben. Noch heute kommt es nur äußerst selten vor, dass ich Chiara mal besuche. Sie blockt immer ab und schlägt dann einen Treffpunkt irgendwo außerhalb vor oder bei mir. Bei mir kommt aber alle Schlag meine Oma rein und fragt, ob wir noch Tee wollen oder Kekse oder Saft oder ob ich ihr mal gerade was unten aus dem Keller holen könnte oder, oder …

Sie hat wohl Angst, ich raube Chiara die Unschuld und Oma kriegt dann Probleme mit Herrn von Bentheim. Der sitzt nämlich in der Verwaltung unserer Siedlung und hat dort viel Einfluss. Man sagt, er sei ein ziemlicher Hardliner, wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen geht, ein Geschäftsmann eben. Er hat eine Immobilien- und eine Baufirma. Ihm gehören viele Grundstücke und Mietshäuser, unter anderem auch die großen Blocks an der Klapperwiese. Die Straße dort heißt Hasenpfad und alle Modertaler, die nicht dort wohnen, nennen es Harzerpfad. Da weiß man dann schon, wer da wohnt.

Der Klingelton eines Handys riss Max aus seinen Gedanken. Er schob die Bettdecke zur Seite und tastete wie verschlafen nach seinem Telefon, das auf dem Schreibtischstuhl vor seinem Bett lag. Für einen ordentlichen Nachttisch war in dem engen Dachzimmer kein Platz gewesen. Außerdem empfand Max ein solches Möbelstück als äußerst spießig. Dicht an das Kopfende seines Bettes schloss sich der Schreibtisch an, der unter die schmale Fensterbank des Gaubenfensters geklemmt war, um möglichst viel Tageslicht nutzen zu können. Max hielt das Handy vors Gesicht und blinzelte im Dämmer seiner Betthöhle auf das Display. Er zuckte zusammen. Chiara! Sofort drückte er die Taste. Ihre Stimme klang abgehackt.

»Endlich einmal Netz«, sagte sie. »Ausflug nach Donnafugata« und »alles schrecklich« verstand er. Aus den nächsten Versatzstücken schloss er, dass sie nicht vorhatte, noch länger zu bleiben und versuchte, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Dann war die Verbindung unterbrochen. Er konnte ihr gar nicht mehr sagen, wie froh er war, dass sie bald wieder bei ihm sein würde.

Mit einem Grinsen auf dem Gesicht kraulte er Schorsch, der lang ausgestreckt am Fußende des Bettes lag, hinter den Ohren. Schorsch grunzte und suchte sich schwanzwedelnd eine neue Position im Fußbereich. Max hatte Mühe, am Hund vorbei die Beine auszustrecken. Dann legte er die Decke über sie beide und kuschelte die Füße in das seidige Hundefell. Die Wärme breitete sich angenehm aus. Max stauchte die Kissen in seinem Rücken, stöberte Tagebuch und Stift hervor und setzte seine Schreibarbeit fort.

Eben gerade hat Chiara angerufen. Soweit ich es verstanden habe, kommt sie vorzeitig zurück. Also muss der Besuch bei ihrem Vater in Sizilien ein ziemlicher Reinfall gewesen sein. So viel Zoff hatte sie mit ihrer Mutter, damit sie ihn endlich mal kennenlernen und besuchen durfte! Franca, Chiaras Mutter, hatte wohl schon geahnt, dass es Chiara nicht gefallen würde. Nach vielem Hin und Her haben die von Bentheims es ihr schließlich erlaubt, alleine zu ihrem Vater zu fliegen, während sie mit Michelle in Thailand Urlaub machen. Schwesterherz Michelle machte einen ziemlichen Aufstand. Sie wollte dann auch nicht mit den Eltern in Urlaub fahren und lieber bei ihrem Pferd bleiben. Aber mit elf hat man da schlechte Karten. Ich freu mich auf Chiara. Bin mal gespannt, was sie sagt, wenn ich ihr erzähle, wie für mich das Jahr angefangen hat. Ihre Meinung ist mir wichtig, denn im Umgang mit Leuten, die nicht die eigenen Eltern sind, aber so tun, hat sie ja nun mal wenigstens teilweise Erfahrung und -

Schon wieder klingelte es. Diesmal unten an der Haustür. Schorsch sprang auf und kläffte schwanzwedelnd. Max drängte den Hund zur Seite und schloss ihn trotz Protestgebell im Zimmer ein. Max befand sich heute alleine im Haus. Die Großmutter war mit ihrem Sohn in die Stadt gefahren, um Einkäufe zu erledigen. Sie hofften auf den Preissturz nach Weihnachten. Daher musste sich Max dazu aufraffen, selbst zu öffnen. Zunächst schlich er sich in die Küche und lugte durch einen Spalt in der Gardine, um sich zu vergewissern, wer dort vor der Tür stand. Jonas! Einen Moment war Max unschlüssig, dann griff er sich schnell eine Jacke von der Garderobe, zog sie über seinen Schlafanzug und öffnete die Tür.

Jonas schaute lachend auf Max’ Beine und die nackten Füße. »Hey, Mann, es ist gleich zwei. Kommst du eben erst aus den Federn?«

Max verzog unwillig das Gesicht. »Nee, Mann, hab nur gechillt. Was willlst du?«

Jonas brachte die Arme in Stellung wie ein Boxer, führte einige Bewegungen in der Luft aus und hüpfte tänzelnd auf der Fußmatte hin und her. »Action! Ich will was für meinen Body tun. Hey, raff dich auf und mach mit! Bist doch sonst nicht so lahm.«

Max gähnte. »Was schlägst du vor?«

»Mucki-Bude, Wellenbad, Radfahren, Jogging, Basketball auf dem Schulhof«, ratterte Jonas herunter.

»Jogging«, wählte Max.

Jonas runzelte die Stirn. »Da hast du dir die gruftigste Alternative ausgesucht. Und das bei diesem Schmuddel-Knatsch-Wetter! Ich fände besser, wir würden …«

Max unterbrach ihn: »Aber das ist das Einzige, wo Schorsch mitkommen kann.«

Jonas stöhnte. »Muss das sein?«

»Ja«, kam es unmissverständlich. Max wandte sich zur Tür. »Warte, ich zieh mich nur um!«

Wenige Minuten später stand er in Laufkleidung wieder neben Jonas. Schorsch wuselte erwartungsvoll um seine Beine. »Wo lang?«, fragte Max.

»Durch die Klapperwiese in die Felder und dann zu mir nach Hause«, schlug Jonas vor.

Max lief los und fragte: »Funktioniert dein Laptop?«

Jonas schloss zu ihm auf und nickte. »Ich hab heut eigentlich keinen Bock mehr auf Games, ich mach seit Weihnachten nichts anderes.« Er hielt die Arme, als habe er ein Maschinengewehr im Anschlag und ahmte Schussgeräusche nach. »Uschg, uschg, uschg, ägägägägä, tziu, tziu, tziu. Wam!«

»Ist ja gut«, brummte Max. »Ich wollte was recherchieren.«

Jonas schrie auf: »Am Ende für die Schule? Ich fass es nicht! Geht’s noch?« Max antwortete nicht und lief in leichtfüßigen Sätzen, während Jonas keuchend hinterherstampfte. »Habt ihr immer noch kein Internet?«

»Nein.«

»Wie gruftig ist denn das?«

Eine Stunde später ließ Jonas sich japsend auf die kleine Bank neben seiner Haustür sacken. »Mann, du hast ja vielleicht einen Zahn drauf! Du trainierst heimlich!«

Max grinste und deutete auf den hechelnden Schorsch. »Habt ihr mal ’ne Schüssel Wasser für ihn?«

Jonas erhob sich und kramte in seiner Hosentasche nach den Wohnungsschlüsseln. »Vor allem hol ich dir erst einmal einen Putzlappen, damit du ihm die Pfoten sauber machst. Meine Mutter kriegt einen Anfall, wenn sie sein Wolfskin-Label auf dem Parkett entdeckt.« Jonas nickte in Richtung Anbau, wo die Sanitär- und Heizungsbaufirma der Familie Hofmann untergebracht war. Der Vater war der Chef, die Mutter arbeitete im Büro. In dem kleinen Gartenbereich davor lag ein Teich, um den herum die trockenen Schilfhalme sorgfältig abgeschnitten waren.

»Habt ihr da Fische drin?«, fragte Max.

»Ich denke schon«, sagte Jonas.

»Kann es sein, dass da gerade einer fehlt?«

Jonas musterte Max, als zweifle er eindeutig an dessen Verstand. Max fixierte sein Gegenüber mit schmalen Augen. »Was weiß ich«, brummte Jonas. »Das Fischzeugs interessiert mich nicht.« Er wandte sich zur Tür. Gerade als er den Schlüssel in das Schloss stecken wollte, wurde von innen geöffnet.

Groß und breit stand Tobias, Jonas’ älterer Bruder, vor ihnen. Er musterte die beiden abschätzig. Vor allem an Max blieb sein Blick hängen. »Ah, Besuch«, sagte er wenig begeistert.

Neben ihm schob sich ein schlankes, großes Mädchen in den Türrahmen. Mit einer gekonnten Bewegung schnickte sie ihr langes Blondhaar zur Seite. »Hi«, quiekte sie mit Heidi-Klum-Stimme. Ein kleines Lächeln flog zu Max, was Tobias düster registrierte.

»Hi, Annalena«, erwiderte Max und lachte dabei nicht ihr, sondern Tobias ins Gesicht.

»Eigentlich ist es ganz günstig, dass ich dich treffe«, erklärte Tobias mit reglosem Gesicht. »Ich wollte dir sagen, dass ich deine Unterstützung bei der Sport-und-Spiel-AG ab nächstem Halbjahr nicht mehr brauche.«

»Ach, und wieso auf einmal?«, brauste Max auf.

»Weil Annalena das mit mir machen wird. Ich habe das bereits mit der Schulleitung abgesprochen. Die finden es auch besser, wenn ein Mädchen mit dabei ist.«

Max’ Gesicht wurde dunkelrot. »Und wieso redet man nicht mit mir? Wieso regelst du das einfach?«

Annalena zog sich hinter Tobias zurück. Der legte schützend den Arm um ihre Schultern und lächelte kühl. »Ich habe denen gesagt, dass du keine Zeit mehr hast. Ab Februar muss eh wieder ein neuer Vertrag gemacht werden. Du kannst ja eine andere AG aufmachen. Bei mir jedenfalls bist du raus und wenn du mal überlegst, ist das auch besser so für dich.«

Max trat einen Schritt vor. Jonas hielt ihn am Arm fest. »Wie willst du wissen, was besser für mich ist?«, schrie Max ihn an.

Tobias lächelte in Richtung Annalena. Sie verzog beschwichtigend das Gesicht. »Du musst dich mal davon lösen, alles das machen zu wollen, was Du-weißt-schon-wer auch gemacht hat«, erklärte Tobias betont ruhig. »Das tut dir nicht gut! Du musst eine eigene Persönlichkeit entwickeln! Oder weißt du schon nicht mehr, was das ist?«

Max wollte auf Tobias losgehen, doch Jonas packte ihn an beiden Armen und hielt ihn zurück.

»Tobias, nicht!«, mahnte Annalena leise.

Tobias mimte weiter den wohlmeinenden Pädagogen. »Warum nicht? Das musste doch mal gesagt sein. Ist ja nur zu seinem Besten!«

»Lass uns gehen!«, drängte Annalena. Sanft schob sie Tobias an, und er setzte sich in Bewegung.

»Gut, dann haben wir das ja geklärt«, triumphierte er im Vorübergehen.

Max starrte ihm mit Augen eng wie Schießscharten nach.

»Komm rein!«, sagte Jonas sanft und drückte die Eingangstür weiter auf.

Max bückte sich und zog Schorsch am Halsband zurück. »Danke, kein Bedarf! Ich habe keine Lust, die Luft zu atmen, die der Arsch verfurzt hat«, zischte er.

Kaum war Max um die Ecke verschwunden, kickte Jonas wütend gegen die Tür, dass sie schepperte. Die Mutter klopfte von innen gegen das Bürofenster und drohte mit dem Finger. Jonas schnitt eine finstere Grimasse in ihre Richtung.