29

Der Mond ging auf und tönte den östlichen Horizont mit seinem fahlen Licht silberweiß. Fast sah es aus, als würde nicht die Nacht hereinbrechen, sondern ein bleiches, kaltes Morgengrauen. Die weiße Scheibe erschien und warf ihr gespenstisches Licht über die endlose, öde Salzebene.

»Großer Gott!« entfuhr es Berit, der sich bestürzt umschaute. Was im schwachen Sternenlicht wie runde weiße Steine ausgesehen hatte, entpuppte sich nun als gebleichte Totenköpfe. Sie ruhten zwischen Gebeinen und starrten in stummer Anklage zum Himmel.

»Sieht aus, als wären wir richtig«, bemerkte Khalad. »Die Nachricht, die Sperber für uns hinterließ, erwähnte eine Ebene der Gebeine.«
»Die ist ja schier unendlich!« krächzte Berit.

»Hoffentlich nicht. Wir müssen sie durchqueren.« Khalad hielt an und schaute angespannt nach Westen. »Dort ist er!« Er deutete auf einen schimmernden Punkt widergespiegelten Lichtes in der Mitte einer niedrigen, dunklen Bergkette, die sich ein Stück hinter der gespenstischen Ebene erhob. »Wovon redest du?«

»Unser Orientierungspunkt! Sperber nannte ihn ›Cyrgons Säulen‹: Irgend etwas dort drüben spiegelt das Mondlicht. Wir sollen auf diesen Punkt zureiten.«

»Wer ist das?« zischte Berit. Jemand schritt aus der mit Knochen übersäten Ebene auf sie zu.

Khalad lockerte sein Schwert in der Scheide. »Vielleicht eine weitere Nachricht von Krager«, murmelte er. »Von jetzt an sollten wir besonders vorsichtig sein. Ich glaube, wir nähern uns dem Zeitpunkt, da wir unsere Schuldigkeit getan haben und nicht mehr gebraucht werden.«

Die aus der Wüste kommende Gestalt schien müßig herbeizuschlendern. Als sie näher war, konnten die Freunde die Züge des Fremden erkennen. »Vorsicht, Khalad!« zischte Berit. »Er ist kein Mensch.«

Khalad hatte es bereits selbst gespürt. Es war nichts Greifbares, lediglich das Gefühl einer übermächtigen Präsenz, eine Aura, wie kein Mensch sie besaß.

Die Gestalt sah wie ein ungewöhnlich schöner junger Mann aus. Sie hatte krauses Haar, klassische Züge und sehr große, fast strahlende Augen.

»Ah, da seid ihr ja, meine Herren«, sagte er höflich in makellosem Elenisch. »Ich habe euch überall gesucht.« Er schaute sich um. »Das ist ja ein abscheulicher Flecken, findet ihr nicht? Genau einen solchen Ort stellt man sich als Lebensraum der Cyrgai vor, nicht wahr? Cyrgon ist schrecklich verschroben. Er liebt Häßlichkeit. Seid ihr ihm je begegnet? Ein gräßlicher Bursche! Absolut kein Gefühl für Schönheit!« Er lächelte; es war ein bezauberndes, leicht abwesendes Lächeln. »Meine Base Aphrael hat mich geschickt. Sie wäre gern selbst gekommen, doch sie ist zur Zeit sehr beschäftigt – aber das ist sie eigentlich immer, nicht wahr? Untätigkeit macht sie nervös.« Er runzelte die Stirn. »Sie bat mich, euch etwas auszurichten.« Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Was war es doch gleich? Ich bin in letzter Zeit ziemlich vergeßlich.« Er hob eine Hand. »Nein«, wehrte er ab. »Sagt es mir nicht. Es wird mir gleich wieder einfallen. Es ist allerdings schrecklich wichtig, und wir sollen uns beeilen … Ich werde mich bestimmt gleich daran erinnern, wenn wir uns einstweilen schon auf den Weg machen.« Er blickte sich um. »Meine Herren, habt ihr vielleicht eine Ahnung, wohin wir uns begeben sollen?«


»Es wird nicht funktionieren, Aphrael«, brummte Kalten mürrisch. »Ich habe es sogar versucht, als ich stockbesoffen war, aber da war es auch nicht anders. Ich werde verrückt, sobald ich spüre, wie das Wasser sich über meinem Kopf schließt.« »Versuch es trotzdem, Kalten«, drängte ihn die sehr knapp bekleidete Göttin. »Es wird dich ganz bestimmt entspannen.« Sie drückte ihm den Krug in die Hand. Er roch argwöhnisch daran. »Es riecht gut. Was ist es?« »Wir trinken es auf unseren Festen.«

»Das Bier der Götter?« Seine Augen leuchteten auf. »Wenn das nichts ist!« Er nahm einen vorsichtigen Schluck. »Hmmm!« murmelte er begeistert. »Köstlich!«

»Trink es aus!« wies sie ihn an und beobachtete ihn aufmerksam.

»Mit Vergnügen.« Er leerte den Krug und wischte sich die Lippen ab. »Das ist wirklich gut! Wenn man das Rezept hätte, könnte man …« Er hielt abrupt inne, und seine Augen wurden glasig.

»Legt ihn nieder«, wies Aphrael die anderen an. »Rasch, bevor er steif wird. Ich möchte nicht, daß er verdreht wie eine Brezel ist, wenn ich ihn durch den Tunnel ziehe.«

Talen krümmte sich und hatte beide Hände fest auf den Mund gepreßt, um sein Lachen zu unterdrücken.
»Was ist denn mit dir los?« fragte die Göttin scharf.
»Nichts«, japste er. »Gar nichts.«

»Mit dem werde ich noch so manches erleben«, murmelte Aphrael Sperber zu. »Geht das wirklich?« fragte Sperber, ohne auf ihre Worte einzugehen. »Mit Kalten, meine ich. Kannst du einen Bewußtlosen tatsächlich durch das Wasser ziehen, ohne daß er ertrinkt?«

»Ich halte seine Atmung an.« Sie ließ den Blick über die Gefährten schweifen. »Und daß mir keiner auf die Idee kommt, mir helfen zu wollen!« mahnte sie. »Konzentriert euch darauf, selbst hindurchzutauchen. Im Gegensatz zu euch brauche ich nicht zu atmen, und ich möchte nicht eine Stunde oder länger in dem Becken herumfischen, sobald wir drüben sind, um euch einzeln herauszuholen. Hat sonst noch jemand irgendwelche Probleme, die er mir verschwiegen hat? Gesteht sie mir jetzt – bevor wir alle unter Wasser sind.« Sie blickte Bevier eindringlich an. »Möchtest du mir nicht etwas sagen? Dir macht doch etwas zu schaffen.«

»Nichts von Bedeutung, Göttin«, murmelte er. »Ich komme schon hindurch. Ich schwimme wie ein Fisch.« Doch er vermied es, sie dabei anzusehen.
»Was ist es dann?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen.«

Sie seufzte. »Männer!« Dann stieg sie in den Schacht, der sie zu dem unterirdischen Fluß und der inneren Mauer bringen würde. »Hebt Kalten herunter«, befahl sie. »Wir wollen es angehen.«


»Ich würde wirklich gern etwas dagegen tun«, murmelte Sephrenia Vanion zu, als sie über den Kieshügel am Lager der Sklavenjäger spähten.

»Ich auch, Liebste«, entgegnete der Hochmeister. »Aber ich glaube, wir sollten damit bis später warten. Wenn alles planmäßig verläuft, werden wir sie bereits erwarten, wenn sie in Cyrga anlangen.« Vanion stemmte sich ein wenig höher auf die Ellbogen. »Ich glaube, das da drüben, hinter dem Karawanenpfad, ist die Salzebene.«

»Sobald der Mond aufgegangen ist, werden wir es erkennen«, erwiderte sie. »Hast du von Aphrael gehört?«

»Schon, aber ich werde nicht schlau daraus. Die Echos sind sehr verwirrend, wenn sie an zwei Orten zugleich ist. Soweit ich es deuten kann, spitzt die Lage in Matherion sich zu. Und noch etwas – sie und Sperber schwimmen.« »Schwimmen? Das hier ist eine Wüste, Sephrenia!«

»Das ist mir nicht entgangen. Sie fanden jedenfalls irgendwas, worin sie schwimmen.« Sie hielt kurz inne. »Kann Kalten eigentlich schwimmen?«

»Er planscht ziemlich unbeholfen herum. Aber es gelingt ihm so einigermaßen, sich durchs Wasser zu bewegen. Ein anmutiger Anblick ist es jedenfalls nicht. Warum fragst du?«

»Aphrael hat ein Problem mit ihm … ein Problem, das mit Schwimmen zu tun hat.

Komm, kehren wir zu den anderen zurück, Liebster. Schon der Anblick dieser Sklavenhändler bringt mein Blut in Wallung.«

Sie glitten den kiesigen Hügel wieder hinunter und schritten eine schmale Klamm entlang zu ihren gepanzerten Soldaten.

Der Cyriniker, Ritter Launesse, stand sichtlich eingeschüchtert neben einer wohlbeleibten, kunstvoll gelockten Person mit buschigen Augenbrauen, wuchtigen Schultern und von geradezu furchteinflößender Erhabenheit.

»Sephrenia!« donnerte das offensichtlich nichtmenschliche Wesen mit einer Stimme, die wahrscheinlich noch in Thalesien zu hören war. »Schön, dich wiederzusehen!« »Schön, dich wiederzusehen, Gott Romalic«, säuselte Sephrenia mit dem Anflug eines Lächelns.

»Liebes«, murmelte Vanion, »bitte ihn, die Stimme zu senken.«

»Außer uns kann niemand ihn hören«, entgegnete Sephrenia. »Die Götter reden laut – doch nur zu bestimmten Ohren.«

»Deine Schwester läßt dir Grüße ausrichten«, verkündete Romalic mit Donnerstimme.
»Zu gütig, daß du sie mir überbringst, Gott Romalic.«

»Lassen wir Güte und Höflichkeit einmal beiseite, Sephrenia«, donnerte der massige Gott und strich sich mit gewaltigen Fingern durch den Bart. »Bist du nun bereit, uns allen zu dienen und deinen dir geziemenden Platz einzunehmen?«

»Ich bin unwürdig, Gott Romalic«, erwiderte sie bescheiden. »Gewiß gibt es weisere und besser geeignete Anwärter.«
»Worum geht es?« fragte Vanion.
»Oh, die Sache zieht sich schon lange hin, Liebster«, antwortete sie. »Ich weiche der Entscheidung seit Jahrhunderten aus. Aber Romalic muß es natürlich immer wieder zur Sprache bringen.«
Da fiel es Vanion wie Schuppen von den Augen.

»Sephrenia!« stieß er hervor. »Sie wollen dich als Oberpriesterin haben, stimmt's?« »Es geht mehr um Aphrael, Vanion, weniger um mich. Die Götter hoffen, sie brauchen sich nicht mehr mit ihr auseinanderzusetzen, wenn sie mir dieses Angebot machen. Ich lege gar keinen Wert auf diesen Titel, und sie wollen ihn mir auch nicht wirklich geben. Aber sie haben Angst vor Aphrael, und auf diese Weise versuchen die Götter, sie zu besänftigen.«

»Aphrael mahnt euch zur Eile!« grollte Romalic nun. »Im Morgengrauen müßt ihr allesamt vor den Toren Cyrgas sein, denn dies ist die Nacht der Entscheidung, da wir Cyrgon und sogar Klæl gegenübertreten und sie, so hoffen wir, besiegen werden. In diesem selben Moment bewegt Anakha sich geistgleich durch die Straßen der Verborgenen Stadt, seiner Bestimmung entgegen. Laßt uns eilen!« Er hob die Stimme und donnerte: »Auf nach Cyrga!« »Ist er immer so?« flüsterte Vanion.

»Romalic?« fragte Sephrenia. »O ja. Paßt er nicht wunderbar zu den cyrinischen Ordensrittern. Komm, mein Liebster. Eilen wir nach Cyrga!«


Schwache Lichter zuckten hoch am Himmel, doch das Becken lag in tiefer Dunkelheit, als Sperber auftauchte und endlich wieder tief aus- und einatmen konnte. »Kalten!« hörte er Aphrael. »Wach auf!« Ein Schreckensschrei ertönte, dann ein wildes Platschen.

»Oh, hör auf!« wies die Göttin Sperbers Freund zurecht. »Es ist überstanden, und du bist großartig durchgekommen! – Xanetia-Liebes, dürften wir ein bißchen Licht haben?«

»Selbstverständlich, Göttin Aphrael.« Das Gesicht der Anarae begann zu glühen. »Sind wir alle hier?« erkundigte Aphrael sich leise und schaute sich um. Als Xanetias Leuchten allmählich stärker wurde, sah Sperber, daß die Göttin in scheinbar nur hüfthohem Wasser stand, und daß sie Kalten an seinem Kittel am Nacken hochhielt. »Sperber, würdest du mir bitte helfen?« flüsterte Bevier.

»Ich komme.« Sperber schwamm zu dem Cyriniker hinüber. Dann holten sie gemeinsam den Strick ein, den Bevier durch den Tunnel hinter sich hergezogen hatte. Am anderen Ende des Strickes waren ihre zusammengebundenen Kettenhemden und Schwerter befestigt. »Einen Moment!« warnte Bevier, als der Strick sich plötzlich straffte. »Er ist irgendwo hängengeblieben.« Er nahm ein paar tiefe Atemzüge, tauchte und hangelte sich unter Wasser zurück.

Sperber wartete. Unwillkürlich hielt er ebenfalls den Atem an. Dann kam der Strick frei, und Sperber zog ihn rasch zu sich. Bevier schoß an die Wasseroberfläche und stieß den Atem aus.

»Bist du sicher, daß du nicht von Fischen abstammst?« fragte Sperber.

Bevier lachte. »Oh, ich habe schon immer eine kräftige Lunge gehabt. Meinst du, wir sollten unsere Schwerter herausholen?«

»Fragen wir Aphrael«, entschied Sperber und schaute sich um. »Ich sehe hier nirgendwo eine Möglichkeit, aus dem Wasser zu steigen.«

»Was jetzt?« fragte Talen die Göttin. »Wir schwimmen hier am Grund eines Brunnens herum!« Er blickte die glatten Seiten des Brunnenschachts hinauf. »Da oben sind ein paar Ausbuchtungen, aber ich sehe keine Möglichkeit, wie wir zu ihnen gelangen könnten.« »Hast du es mitgebracht, Mirtai?« erkundigte sich Aphrael.

Die Riesin nickte. »Entschuldigt mich für einen Moment«, bat sie; dann sank sie unter die Wasseroberfläche und zog ihren Kittel über den Kopf. »Was tut sie da?« Talen spähte durch das klare Wasser.

»Sie zieht sich aus«, antwortete Aphrael. »Und sie braucht deine Hilfe nicht. Also halte deine Augen im Zaum.«

»Du läufst die ganze Zeit nackt herum! Warum macht es dir da was aus, wenn wir zusehen, wie Mirtai sich entkleidet?« beklagte er sich.

»Das ist etwas ganz anderes!« erwiderte sie von oben herab. »Also, tu schon, was ich dir gesagt habe!«

Talen strampelte im Wasser herum, bis sein Rücken Mirtai zugewandt war. »Ich werde sie nie verstehen!« brummelte er.

»O doch, das wirst du, Talen«, versicherte sie ihm in geheimnisvollem Tonfall. »Aber jetzt noch nicht. In ein paar Jahren werde ich dir das alles erklären.«

Mirtai tauchte wieder auf und hielt das zusammengerollte Seil in die Höhe, das sie sich unter ihrem Kittel über die Schulter geschlungen hatte. »Ich brauche etwas, worauf ich stehen kann, Aphrael«, sagte sie und hob den Enterhaken, der an einem Ende des Seils befestigt war. »Ich kann den Haken nicht werfen, solange ich im Wasser keinen festen Boden unter den Füßen habe.«

»Also dann, meine Herren«, mahnte Aphrael sittsam. »Blickt nach vorn!«

Sperbers Lächeln blieb in der Dunkelheit verborgen. Talen hatte recht. Aphrael schien sich ihrer eigenen Blöße kaum bewußt zu sein, doch Mirtais Nacktheit war etwas völlig anderes für sie. Er hörte, wie Wasser von der glatten Haut der bronzefarbenen Riesin rann, als sie sich erhob, um unmittelbar auf der Wasseroberfläche zu stehen, wie er vermutete.

Dann vernahm er das Pfeifen des Enterhakens, als Mirtai ihn in immer weiteren Kreisen schwang. Dann verstummte das Pfeifen für einen endlos scheinenden Augenblick. Das Klirren von Stahl auf Stein war von hoch oben zu vernehmen, gefolgt von einem Scharren, als die Hakenspitzen sich eingruben. »Guter Wurf«, lobte Aphrael.

»Zufall«, entgegnete Mirtai. »Normalerweise brauche ich zwei oder drei Würfe.« Sperber spürte flüchtig eine Hand auf der Schulter. »Da!« sagte Mirtai und drückte ihm das Seil in die Hand. »Haltet es, bis ich mich angezogen habe. Dann klettern wir hinauf und suchen Eure Gemahlin.«


»Was, in aller Welt, tust du da, Bergsten?«

Der Patriarch von Emsat fuhr heftig zusammen. Er riß den Kopf herum und starrte den Gott an, der soeben lautlos hinter ihn getreten war.

»Ihr sollt euch doch beeilen, oder habt ihr das vergessen?« rügte Setras ihn. »Aphrael will, daß am Morgen alle an Ort und Stelle sind!«

»Wir sind auf einige von Klæls Soldaten gestoßen, Gott Setras«, grollte Ritter Heldin. »Sie befinden sich in jener Höhle.« Er zeigte auf die gerade noch erkennbare Öffnung auf der gegenüberliegenden Seite der Klamm.

»Warum seid ihr nicht gegen diese Ungeheuer vorgegangen? Ich habe euch doch gesagt, wie ihr es anstellen müßt!«

»Wir haben eine Laterne hineingestellt, aber innerhalb der Höhle befindet sich eine Tür, Setras-Gott«, erklärte Atana Maris.

»Dann öffnet sie, teure Dame!« forderte Setras sie ungeduldig auf. »Wir müssen am frühen Morgen vor Cyrga sein. Aphrael wäre sehr erzürnt über mich, wenn wir zu spät kommen.«

»Wir würden die Tür zu gern öffnen, wenn wir wüßten, wie es geht, Gott Setras«, versicherte Bergsten. »Aber ob wir uns verspäten oder nicht – ich werde nicht von hier wegreiten und diese Ungeheuer hinter mir zurücklassen. Wenn es Aphrael erzürnt, kann ich's auch nicht ändern!« Der gutaussehende, jedoch nicht mit großen Geistesgaben gesegnete Gott war für Bergsten aus irgendeinem Grund ein Ärgernis. »Warum muß ich alles selber tun?« Setras seufzte. »Wartet hier. Ich kümmere mich darum, dann können wir endlich weiterziehen. Wir sind wirklich schon spät dran.« Er schlenderte über die felsige Klammsohle und betrat die Höhle.

»Dieser junge Bursche raubt mir wirklich den letzten Nerv«, murmelte Bergsten. »Ihm etwas erklären zu wollen ist so, als würde man gegen eine Wand reden. Wie kann er nur so …« Bergsten hielt inne, ehe er sich auch noch der Ketzerei schuldig machte. »Er kommt schon zurück«, rief Atana Maris.

»Das hatte ich mir fast gedacht«, brummte Bergsten mit einer gewissen Befriedigung. »Also hatte er mit dieser Tür auch nicht mehr Glück als wir.«

Setras kehrte, eine styrische Weise summend, zu ihnen zurück, als der ganze Berg plötzlich in einer ungeheuren Explosion verschwand, welche die Erde erschütterte. Mit einem erschreckenden Brüllen schossen riesige Flammen hervor, und die Urgewalt schmetterte Bergsten und die anderen zu Boden, während das Feuer tosend nach Aphraels Vetter griff und ihn zu verschlingen schien.

»Du lieber Himmel!« stieß Bergsten hervor und starrte auf die alles verschlingenden, lodernden Flammen.

Da trat Setras völlig unversehrt aus der Feuersbrunst. »Na also«, sagte er sanft, »das war doch gar nicht so schwierig, stimmt's?«

»Wie ist es Euch gelungen, die Tür zu öffnen, Gott Setras?« fragte Ritter Heldin neugierig.

»Das brauchte ich nicht.« Setras lächelte. »Die Bestien haben sie für mich geöffnet.« »Wie ist das möglich?«

»Ich habe angeklopft, mein Junge. Einfach geklopft. Selbst Kreaturen wie diese haben einen Rest von Benehmen und Anstand. Aber, wollen wir jetzt nicht endlich aufbrechen?«


»Sie sind von den anderen Cyrgai sehr gefürchtet«, berichtete Xanetia. »Und alle machen ihnen Platz.«

»Das wäre wirklich sehr nützlich – gäbe es nicht die Unterschiede in der Rasse«, meinte Bevier.

»Solche Unterschiede sind keine unüberwindlichen Hindernisse, Herr Ritter«, versicherte Xanetia ihm. »Sollte es sich als erforderlich erweisen, können Eure Gesichtszüge und die Eurer Gefährten noch einmal verändert werden. Zweifellos kann Göttin Aphrael an ihrer Schwester Stelle die beiden Zauber vereinen, welche euch ein anderes Aussehen verleihen.«

»Wir können uns in wenigen Augenblicken darüber unterhalten«, versprach Flöte. »Zuerst aber sollten wir uns ein Bild davon machen, wie dieser Teil der Stadt angelegt ist.« Die Göttin hatte ihre vertrautere Gestalt angenommen, und zumindest Bevier schien sehr erleichtert darüber zu sein.

»Mir deucht, dieser Berg ist keines natürlichen Ursprungs, Göttin«, sagte Xanetia. »Die Seiten sind von vollkommen gleicher Neigung, eine völlig gleichmäßige Straße windet sich um diese Anhöhe, und die Zugänge zur Kuppe gleichen steinernen Treppen.«

»Sie sind sehr phantasielos, findet ihr nicht?« fragte Mirtai. »Spazieren viele ihresgleichen da draußen herum?«

»Nein, Atana. Es ist spät, und die meisten liegen längst in ihren Betten.«

»Wir könnten es versuchen«, murmelte Kalten. »Wenn Flöte und Xanetia uns wie Cyrgai aussehen lassen, bräuchten wir nur den Berg hinaufzuspazieren!« »Nicht in dieser Kleidung!« gab Sperber zu bedenken.

Talen schlich aus den Schatten und verschwand in dem Durchgang, der zurück zum mittleren Brunnenschacht führte. In vielerlei Hinsicht vermochte der behende junge Dieb sich fast so unsichtbar zu machen wie die Anarae. »Da kommen schon wieder Soldaten«, flüsterte er.

»Diese Patrouillen können sehr lästig werden«, schimpfte Kalten.

»Diese Streife hier ist nicht wie die anderen«, erklärte Talen. »Sie patrouilliert nicht durch die Seitenstraßen. Die Männer steigen zielstrebig die Treppe zur Oberstadt hinauf. Sie tragen auch nicht die gleiche Art von Rüstung.«

»Beschreibt sie, junger Herr Talen«, ersuchte Xanetia ihn mit angespannter Stimme. »Sie tragen Umhänge«, antwortete Talen, »und sie haben eine Art Wappen auf ihrem Brustpanzer. Selbst ihre Helme sind anders.«

»Dann dürften es Tempelwachen sein«, meinte Xanetia. »Jene, von denen ich vor einer Weile sprach. Ich entnahm den Gedanken der wenigen, denen ich begegnete, daß die anderen Cyrgai ihnen aus dem Weg gehen, soweit es möglich ist, und daß sich alle vor ihnen verbeugen müssen, wenn sie ihnen begegnen.«

Sperber und Bevier wechselten einen langen Blick. »Da hast du die Kleidung, die du wolltest, Sperber«, sagte Bevier.
»Wie viele sind es?« wandte Sperber sich an Talen.

»Ich habe zehn gezählt.«

Sperber überlegte kurz. »Dann sollten wir es versuchen«, erklärte er. »Seid so leise wie möglich!« Er führte die Gefährten aus dem Durchgang auf die Straße.


»Himmel, Ulath!« entfuhr es Itagne. »Tut so was nie wieder! Mir wäre fast das Herz stehengeblieben!«

»Verzeiht, Itagne«, entschuldigte sich der thalesische Hüne. »Es gibt leider keine würdevolle Weise, aus der Nichtzeit zu erscheinen. Aber sprechen wir gleich mit Betuana und Engessa.«

Sie ritten zurück, um sich der Königin und ihrem General anzuschließen.

»Ritter Ulath ist soeben mit Neuigkeiten eingetroffen, Majestät«, verkündete Itagne höflich. »Ah! Gute oder schlechte, Ulath-Ritter?« erkundigte sie sich.

»Ein bißchen von beidem, Majestät«, erwiderte er. »Die Trolle befinden sich zwei Meilen östlich von hier.«
»Und was ist die gute Neuigkeit?«

Er lächelte leicht. »Das ist die gute Neuigkeit. Die schlechte ist, daß eine weitere große Einheit von Klæls-Soldaten in einem Hinterhalt südlich von hier lauert. Wahrscheinlich werden sie euch in der nächsten Stunde zu überfallen versuchen. Sie sind uns im Weg – und wir müssen uns beeilen. Sperber und die anderen wollen Ehlana und ihre Kammermaid heute nacht befreien, und Sperber möchte, daß wir uns zur Morgenstunde alle vor der Stadt versammeln.«

»Dann müssen wir also gegen die Klæl-Bestien kämpfen«, stellte Betuana fest. »Das könnte ein ziemlich schwieriges Unterfangen werden«, murmelte Itagne. »Tynian und ich haben uns eine mögliche Lösung ausgedacht«, fuhr Ulath fort. »Aber wir möchten Majestät nicht übergehen, deshalb beschlossen wir, daß ich kurz bei Euch Halt mache und es erst mit Euch bespreche. Klæls Soldaten bereiten sich darauf vor, Euch in einen Hinterhalt zu locken. Ich weiß, Ihr würdet es vorziehen, selbst etwas zu unternehmen, doch wärt Ihr um der Zweckdienlichkeit willen bereit, Euch dieses Vergnügen ausnahmsweise nicht zu gönnen?« »Ich wäre bereit, zuzuhören, Ulath-Ritter.«

»Es gäbe Möglichkeiten, einfach einen Bogen um diesen Hinterhalt zu machen, doch Klæl ist höchstwahrscheinlich imstande, Zeit und Entfernung ebenso zu beeinflussen wie Aphrael und ihre Vettern, und ich glaube nicht, daß wir diese Bestien auf den Fersen haben möchten.« »Wie sieht dann Eure Lösung aus, Ulath-Ritter?«

»Mir steht eine zahlenmäßig sehr starke Streitmacht zur Verfügung, Majestät, und sie ist sehr hungrig. Da wir derzeit zu beschäftigt für einen ausgedehnten Ausflug durch die Wüste sind, könnten wir den Trollen Klæls Soldaten zum Frühstück überlassen.«


Ritter Anosian wirkte erschüttert, als er nach vorn ritt, um mit Kring und Tikume zu reden.

»Was ist los, Freund Anosian?« fragte Tikume den schwarz gepanzerten Pandioner. »Ihr seht aus, als wäre Euch gerade ein Geist erschienen.«

»Schlimmer, Freund Tikume«, erwiderte Anosian. »Ich wurde soeben von einer Gottheit getadelt. Die meisten Menschen überleben so etwas nicht.« »Wieder Aphrael?« fragte Kring.

»Nein, Freund Kring. Diesmal war es ihr Vetter Hanka. Er ist sehr schroff. Die genidianischen Ritter wenden sich an ihn, wenn es um ihre Zauber geht.«

»Wie ist es Euch denn gelungen, ihn zu verärgern?« fragte Tikume. »Was habt Ihr jetzt schon wieder falsch gemacht?«

Anosian verzog das Gesicht. »Meine Zaubersprüche lassen manchmal ein bißchen an Genauigkeit zu wünschen übrig«, gestand er. »Aphrael ist meist so großzügig, mir diesen Fehler nachzusehen. Ihr Vetter leider nicht.« Er schauderte. »Gott Hanka wird unseren Vormarsch ein bißchen beschleunigen.«
»Ach.«
»Wir müssen morgen früh an den Toren Cyrgas sein.«
»Wie weit ist es denn bis dorthin?«

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Anosian. »Und unter den gegebenen Umständen hielt ich es nicht für ratsam, zu fragen. Hanka will, daß wir von hier aus nach Westen reiten.«

Tikume runzelte die Stirn. »Wenn wir nicht wissen, wie weit die Stadt entfernt ist, wie können wir da sicher sein, daß wir am Morgen dort sind?«

»Oh, wir werden schon rechtzeitig eintreffen, Freund Tikume«, versicherte Anosian ihm. »Aber wir sollten jetzt lieber aufbrechen. Gott Hanka ist bekannterweise sehr hitzköpfig. Wenn wir nicht bald westwärts reiten, ist ihm zuzutrauen, daß er uns einfach beim Schlafittchen packt und uns von hier nach Cyrga wirft.«


Der Tempelwächter nahm eine kriegerische Haltung an – eine ziemlich steife, förmliche Pose, wie man sie mitunter auf dem Fries eines nicht sonderlich begabten Bildhauers sehen mag. Kalten schlug dem Mann das Schwert aus der Hand und schmetterte ihm die Faust an die Seite des Helmes. Der Wächter taumelte nach hinten und fiel schwer auf die Kopfsteine. Er plagte sich, wieder aufzustehen, als Kalten ihm ins Gesicht trat. »Nicht so grob, Kalten!« rügte Sperber ihn heiser.

»Tut mir leid. Es überkam mich wohl plötzlich.« Kalten bückte sich und zog ein Lid des liegenden Wächters zurück. »Er wird bis mittags schlafen.« Dann richtete er sich auf und schaute sich um. »Sind das alle?«

»Das war der letzte«, wisperte Berit. »Sie liegen mitten auf der Straße. Schaffen wir sie weg. Bald geht der Mond auf, und dann wird es in diesem Becken taghell!« Es war ein kurzer, grausamer Kampf gewesen. Sperber und seine Freunde hatten sich von einer dunklen Seitenstraße aus von hinten auf den ahnungslosen Trupp gestürzt. Sie hatten ihren Erfolg zu einem großen Teil dem Überraschungseffekt zu verdanken. Hinzu kam, daß die Soldaten für feierliche Zeremonien ausgebildet waren und nicht für den Nahkampf. Sperber fand, daß die Cyrgai zwar beeindruckend aussahen, daß ihre Ausbildung im Laufe der Jahrhunderte aber so in Ritualen erstarrt und wirklichkeitsfern geworden war, daß es eher eine Art Tanz glich, als der Vorbereitung auf eine bewaffnete Auseinandersetzung. Da die Cyrgai die Grenze nicht überschreiten konnten, die der styrische Fluch gezogen hatte, waren sie seit zehntausend Jahren nicht mehr in einen richtigen Kampf verwickelt gewesen und daher hoffnungslos unvorbereitet auf sämtliche gemeinen kleinen Kniffe, zu denen es im Nahkampf von Zeit zu Zeit unweigerlich kommt.

»Ich verstehe immer noch nicht, wie wir das durchziehen wollen«, keuchte Talen, während er einen reglosen Wächter zurück in den Schatten zog. »Ein Blick wird den Torwächtern zeigen, daß wir keine Cyrgai sind.«

»Das haben wir bereits besprochen, während du die Lage ausgekundschaftet hast«, entgegnete Sperber. »Xanetia und Aphrael werden ihre Zauber vereinen, so wie die Anarae und Sephrenia es in Matherion getan haben. Dann werden wir so sehr wie Cyrgai aussehen, daß man uns durchs Tor läßt – erst recht, wenn die übrigen Cyrgai so große Angst vor diesen Tempelwächtern haben, wie Xanetia gesagt hat.« »Da dieses Thema gerade zur Sprache kommt«, warf Kalten ein, »sollt ihr wissen, daß ich mein eigenes Gesicht zurückhaben will, sobald wir uns an diesen Torwächtern vorbeigeschwindelt haben! Die Wahrscheinlichkeit, daß wir heute nacht den Heldentod sterben, ist groß, und ich möchte meinen eigenen Namen auf dem Grabstein! Und sollten wir durch einen glücklichen Zufall doch Erfolg haben, will ich Alean nicht erschrecken, wenn ich mich ihr mit dem Gesicht eines Fremden nähere. Nach allem, was sie durchgemacht hat, steht ihr zu, mein richtiges Ich zu bewundern.«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, erklärte Sperber sich einverstanden.