13

Graue Wolken bedeckten den Himmel, und ein kalter, trockener Wind fegte über den kahlen Boden der Wüste von Cynesga, als Vanion mit den geschlagenen Streitkräften den Rückzug nach Osten antrat. Gut die Hälfte seiner gepanzerten Ritter war im Kampf gegen Klæls Soldaten gefallen, und nur wenige der Überlebenden waren mit leichten Verletzungen davongekommen. Mit einer Armee war Vanion von Sarna aufgebrochen, nun kehrte er an der Spitze einer Kolonne entmutigter und zu Tode erschöpfter Verwundeter zurück und das nach einer Auseinandersetzung, die vom militärischen Standpunkt betrachtet eigentlich nur ein Scharmützel gewesen war.

Vier Ataner trugen Engessa auf einer Bahre; Königin Betuana, das Gesicht von Leid gezeichnet, schritt an seiner Seite. Vanion seufzte. Engessa atmete kaum noch. Der Hochmeister richtete sich in seinem Sattel auf. Er bemühte sich, Schock und Entsetzen abzuschütteln und klar zu denken. Der Kampf gegen Klæls Krieger hatte sein Heer aus Ordensrittern dezimiert; doch gerade sie waren das Herzstück der Armee und imstande gewesen, einen übermächtigen natürlichen Feind in Schach zu halten. Ohne diese gepanzerten Reiter war die Ostgrenze Tamuls nicht mehr sicher. Vanion stieß eine Verwünschung hervor. Jetzt blieb ihm nur noch, die anderen über die veränderte Lage in Kenntnis zu setzen.

»Ritter Endrik!« rief er dem alten Veteran zu, der ein Stück hinter ihm ritt.
»Übernehmt hier. Ich muß etwas erledigen.«
Endrik ritt heran.

»Führt die Männer weiter nach Osten«, befahl Vanion ihm. »Ich bin bald zurück.« Er spornte sein müdes Pferd zu einem leichten Galopp an und ritt voraus.

Als er sich etwa eine Meile vor der Spitze der Kolonne befand, zügelte er sein Pferd und sprach den Rufzauber.
Nichts tat sich.
Er versuchte es noch einmal, eindringlicher.

Was? Aphraels Stimme in seinem Kopf klang gereizt und ungeduldig. Ich habe schlechte Neuigkeiten, Göttin.

Was kann denn noch alles schiefgehen? Beeil dich, Vanion! Ich bin zur Zeit sehr beschäftigt.

Wir sind in der Wüste auf Klæl gestoßen. Er hatte eine Armee von Riesen dabei, die uns niedergemetzelt haben. Richte Sperber aus, daß wir Samar wahrscheinlich nicht halten können, falls die Cynesganer es belagern. Ich habe mehr als die Hälfte meiner Ritter verloren, und der Zustand der noch übrigen erlaubt es nicht, sie einzusetzen. Tikumes Peloi sind tapfere Männer, aber sie haben keinerlei Erfahrung, was Belagerungen angeht. Wann ist das passiert?

Vor etwa vier Stunden. Kannst du Abriel und die anderen Hochmeister erreichen? Sie dürften inzwischen in Zemoch oder Westastel sein. Sie müssen vor Klæl gewarnt werden. Sag ihnen, sie dürfen sich auf keinen Fall in Kampfhandlungen mit Klæls Truppen einlassen! Wir sind ihnen nicht gewachsen. Falls auch noch die andern Ordensritter überfallen und geschlagen werden, verlieren wir diesen Krieg. Wer sind diese Riesen, von denen du sprichst, Vanion?

Wir hatten keine Zeit, sie zu fragen. Jedenfalls sind sie größer als die Ataner – fast so groß wie Trolle. Sie tragen hautenge Rüstungen und stählerne Gesichtsmasken. Und Waffen, wie die ihren, habe ich nie zuvor gesehen. Und noch etwas – diese Kerle haben gelbes Blut. Gelb? Unmöglich!

Trotzdem ist es gelb. Du kannst ja herkommen und dir meine Klinge anschauen. Ich konnte einige von ihnen erschlagen, als ich Betuanas Rückzug gedeckt habe.
Rückzug? Betuana?
Sie hat Engessa aus dem Getümmel gerettet.
Was ist mit Engessa?

Er war an der Spitze, und Klæls Soldaten bedrängten ihn. Er kämpfte tapfer, hatte gegen die Ungeheuer aber keine Chance. Darauf unternahmen wir einen Sturmangriff, und Betuana hieb sich einen Weg zu Engessa frei. Ich befahl den Rückzug und deckte Betuana, während sie Engessa aus dem Gefahrenbereich schleppte. Wir bringen ihn nach Sarna; aber ich halte es für vergebliche Liebesmüh. Ihm wurde eine Seite des Schädels eingeschlagen. Ich fürchte, wir werden ihn verlieren. Sag das nicht, Vanion. Sag das nie. Es gibt immer Hoffnung.

In diesem Fall nicht sehr viel, Göttin. Wenn einem Menschen beinahe der Schädel gespalten wird, kann man nicht viel mehr für ihn tun, als ihm ein Grab zu schaufeln. Ich werde ihn nicht sterben lassen, Vanion! Wann könnt ihr zurück in Sarna sein? In zwei Tagen, Aphrael. So lange haben wir gebraucht, hierherzukommen. Kann Engessa bis dahin durchhalten? Das bezweifle ich.

Aphrael stieß ein sehr unfeines Wort auf styrisch hervor. Wo seid ihr? fragte sie dann.

Ungefähr sechzig Meilen südlich von Sarna, gut fünfzehn Meilen in der Wüste. Bleibt dort. Ich komme. Ich werde euch schon finden.

Sei Betuana gegenüber behutsam. Sie benimmt sich zur Zeit sehr merkwürdig. Was meinst du damit? Ich habe keine Zeit, Rätsel zu lösen.

Ich weiß es selbst nicht so recht, Aphrael. Betuana ist eine Kriegerin, und ihr ist klar, daß nicht alle Soldaten aus einer Schlacht zurückkehren. Ihre Reaktion auf Engessas Verwundung ist – na ja – sehr ungewöhnlich. Sie ist nicht mehr sie selbst.

Sie ist Atanerin, Vanion. Und Ataner lassen sich sehr von ihren Gefühlen beeinflussen. Halte jetzt deine Kolonne an. Ich bin in Kürze bei euch.

Vanion nickte, als könnte Aphrael ihn sehen; dann wendete er sein Pferd und trabte zu seinen Rittern zurück.

»Irgendeine Veränderung seines Zustands?« fragte er Königin Betuana.

Sie hob ihr tränenüberströmtes Gesicht. »Einmal hat er die Augen geöffnet, VanionHochmeister. Aber ich glaube nicht, daß er mich gesehen hat.« Sie hatte ihre Hand um die Engessas geschlungen.

»Ich habe mit Aphrael gesprochen. Sie wird hierher kommen und sich ihn ansehen. Gebt die Hoffnung noch nicht auf, Betuana. Aphrael hat mich geheilt, und ich war dem Tod näher als Engessa.«

»Er ist ziemlich widerstandsfähig«, sagte sie. »Falls die Kindgöttin seine Wunde heilen kann, ehe es zu spät ist …« Sie konnte nicht mehr weiterreden.

»Er wird es schaffen, Majestät.« Vanion bemühte sich, überzeugter zu klingen, als er war. »Könnt Ihr Euren Gemahl verständigen – über Klæl, meine ich? Er sollte wissen, welch schreckliche Wesen Klæl unter seinen Schwingen verbirgt.«

»Ich werde einen Boten schicken. Soll ich Androl anweisen, nach Sarna zu kommen, statt nach Tosa zu marschieren? Klæl ist jetzt hier, während es noch eine geraume Weile dauern wird, bis Scarpas Armee Tosa erreicht – falls überhaupt, denn es könnte ja sein, daß die Trolle ihm einen Strich durch die Rechnung machen.« »Warten wir, bis ich mit den anderen sprechen konnte. Hat König Androl sich bereits auf den Weg gemacht?«

»Müßte er eigentlich. Androl zögert keinen Augenblick, wenn ich ihn um etwas bitte. Er ist ein guter Mann – und sehr, sehr mutig.« Das hörte sich fast so an, als wollte sie ihren Gemahl gegen eine unausgesprochene Kritik verteidigen, doch Vanion entging nicht, daß sie dabei Engessas fahles Gesicht streichelte.


»Er muß in sehr großer Eile gewesen sein«, murmelte Stragen, der sich noch immer keinen Reim auf Sperbers kurze Nachricht machen konnte.

»Er konnte nie sehr gut Briefe schreiben …« Talen zuckte die Schultern. »Außer damals, als er sich tagelang Lügengeschichten über unser angebliches Tun auf der Insel Tega einfallen ließ.«

»Vielleicht hat er sich dabei verausgabt.« Stragen faltete die Nachricht zusammen, stutzte, und betrachtete sie genauer. »Pergament!« stellte er fest. »Wie ist er zu Pergament gekommen?«

»Wer weiß? Vielleicht erzählt er es uns ja, wenn er zurück ist. Kommt, machen wir einen Spaziergang am Strand. Ich muß mir die Füße vertreten.«

»Na gut.« Stragen griff nach seinem Umhang und stieg mit dem jüngeren Dieb die Treppe hinunter auf die Straße.

Das Südtamulische Meer war ruhig, und der Mond warf seinen silbernen Schein auf die stille, dunkle Wasserfläche.

»Wunderschön«, murmelte Talen, als die beiden den feuchten Sand am Ufer erreichten.
»Ja«, pflichtete Stragen ihm bei.
»Ich glaub', ich hab' eine Idee«, sagte Talen.
»Ich auch«, murmelte Stragen.
»Sprecht!«
»Du zuerst.«

»Na gut. Die Cynesganer sammeln sich an der Grenze, richtig?« »Ja.«

»Ein geschickt verbreitetes Gerücht könnte sie entsammeln.« »Ich glaube, so ein Wort gibt es gar nicht.«

»Sind wir hierher gekommen, um uns über den Wortschatz zu unterhalten? Was werden die Cynesganer tun, wenn sie hören, daß die Ordensritter kommen? Würden sie sich nicht gezwungen sehen, ihnen eine Armee entgegenzusenden?«

»Ich glaube, Sperber und Vanion möchten das Kommen der Ritter mehr oder weniger geheimhalten.«

»Würdet Ihr mir bitte verraten, Stragen, wie man den Aufmarsch von hunderttausend Mann geheimhält? Nehmen wir mal an, ich erzähle Valash, ich hätte aus sehr vertrauenswürdiger Quelle erfahren, daß eine Flotte mit Kirchenbannern auf jedem Schiff die Südspitze von Dakonien umrundet hat und sich Kaftal nähert. Würde das der anderen Seite nicht einige Sorgen bereiten? Selbst, wenn sie von den Rittern wissen, die quer durch Zemoch marschieren, müßten sie dieser Flotte doch Truppen entgegenschicken. Sie dürfen auf keinen Fall die Möglichkeit außer acht lassen, daß die Ordensritter sich ihnen aus zwei verschiedenen Richtungen nähern.« Stragen lachte plötzlich. »Was findet Ihr so komisch?«

»Du und ich sind schon zu lange beisammen, Talen. Wir fangen an, das gleiche zu denken. Ich hatte mir überlegt, Valash vorzuschwindeln, daß die Ataner die ostastelische Steppe überqueren, um durch Nordcynesga auf die Hauptstadt zuzustoßen.« »Guter Plan«, lobte Talen.

»Deiner ebenfalls.« Stragen blinzelte über das mondbeschienene Wasser. »Beide Geschichten sind strategisch glaubhaft. Sie schildern genau die Truppenbewegungen, auf die ein militärischer Führer kommen würde. Was wir wirklich planen, ist ein gleichzeitiger Überraschungsangriff aus dem Osten und dem Westen. Wenn wir Cyrgon weismachen können, daß wir statt dessen aus dem Norden und Süden zuschlagen, locken wir ihn so weit aus seiner Stellung, daß er seine Armeen unmöglich rechtzeitig zurückbringen kann, um sich gegen unsere wirklichen Angriffe zur Wehr zu setzen.« »Ganz zu schweigen davon, daß wir seine Armee spalten.«

»Aber wir müssen vorsichtig sein«, mahnte Stragen. »Meines Erachtens ist nicht einmal Valash so leichtgläubig, daß er diese Geschichten schluckt, wenn wir sie ihm beide gleichzeitig vorsetzen. Wir müssen sie gut verteilen und ihn stückweise damit füttern. Mir wär's am liebsten, er würde diese Geschichte über die Ataner von jemand anderem als mir erfahren.«

»Sperber könnte Aphrael wahrscheinlich veranlassen, dafür zu sorgen«, meinte Talen.

»Falls er überhaupt zurückkommt. Seine Nachricht war ziemlich vage. Trotzdem sollten wir die Dinge ins Rollen bringen. Wir können deine Geschichte ein wenig ändern. Ziehe deine vorgetäuschte Flotte nach Valesien zurück. Cyrgon soll sich erst einmal den Kopf darüber zerbrechen, bevor wir ihm Kaftal als das Ziel der Flotte nennen. Ich lasse durchblicken, daß die Ataner sich in der Nähe ihrer Nordwestgrenze sammeln. Dabei belassen wir es, bis Sperber zurück ist.« Talen mußte plötzlich lachen. »Was ist los?« »Das alles ist beinahe rechtens, nicht wahr?«

»Ja, das könnte man, glaube ich, sagen. Siehst du darin ein Problem?«

»Wenn es rechtens ist, warum macht es mir dann so viel Spaß?«


»Nichts?« fragte Ulath. Er öffnete den Kragen seiner roten Uniformjacke.

»Nicht ein Ton!« antwortete Tynian. »Ich habe den Rufzauber jetzt schon viermal versucht, aber sie rührt sich nicht!«
»Vielleicht ist sie zu beschäftigt.«
»Das wäre natürlich möglich.«

Ulath rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich glaube, ich werde Ritter Gerads Bart jetzt doch abschaben – weißt du, es könnte daran liegen, daß wir uns in der Nichtzeit befinden. Als wir es das erste Mal getan haben – damals in Pelosien – hat nicht einer unserer Zauber gewirkt.«

»Aber hier handelt es sich um eine andere Art von Zauber, Ulath. Ich versuche ja gar nicht, etwas zu tun. Ich möchte nur mit Aphrael reden.«

»Ja, aber du vermischst eine Magie mit der anderen. Du willst dich eines styrischen Zaubers bedienen, während du bis zu den Ohren in einem trollischen steckst.« »Vielleicht ist das des Rätsels Lösung! Ich versuche es noch einmal, wenn wir in Arjun und wieder in der Echtzeit sind.«

Bhlokw schlurfte durch das graue Licht des von Ghnomb erstarrten Augenblicks zu ihnen zurück und kam dabei an einer Schar Vögel vorbei, die reglos in der Luft hing. »Es gibt einige Baue von Menschendingen im nächsten Tal«, berichtete er. »Viele oder wenige?« fragte Ulath.

»Viele«, erwiderte Bhlokw. »Ob die Menschendinge dort Hunde haben?«

»In der Nähe von Menschendingbauen gibt es immer Hunde, Bhlokw.«

»Dann sollten wir uns beeilen.« Der zottige Troll hielt kurz inne; dann fragte er: »Wie nennen die Menschendinge diesen Ort?«
»Ich glaube, es ist Arjun.«
»Das ist der Ort, an den wir wollen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Warum?«

»Die Bösen haben dem Menschending mit Namen Berit befohlen, dorthin zu gehen. Wir sind der Meinung, wir sollten uns in Ghnombs gebrochenem Moment dorthin begeben und dem Vogelpiepsen der Menschendinge lauschen. Vielleicht sagt einer der Bösen, wohin Berit als nächstes gehen soll. Der nächste Ort ist möglicherweise der, wo Anakhas Gefährtin sich befindet. Es wäre gut, das zu wissen.«

Bhlokws pelzige Stirn kräuselte sich, während er sich mühte, diese Darlegungen zu verstehen. »Sind die Jagden der Menschendinge immer so nicht-leicht?«

»Wir Menschendinge haben leider eine besondere Vorliebe für nicht-leichte Dinge.« »Tut das nicht eurem Kopf weh?«

Ulath lächelte, achtete jedoch darauf, dabei nicht die Zähne zu zeigen. »Manchmal ja«, gab er zu.

»Es ist mein Gedanke, daß eine leichte Jagd besser ist als eine nicht-leichte. Die Jagden der Menschendinge sind so nicht-leicht, daß ich manchmal vergesse, warum ich jage. Trolle jagen Dinge-zu-Essen. Die Menschendinge jagen Gedanken.« Ulath staunte über diese Erkenntnis des Trolls. »Was du da sagst, ist richtig«, gestand er. »Die Menschendinge jagen tatsächlich Gedanken. Wir messen ihnen großen Wert bei.« »Gedanken sind gut, U-lat, aber man kann sie nicht essen.« »Wir jagen Gedanken, nachdem unsere Bäuche voll sind.«

»Das macht Trolle und Menschendinge so anders, U-lat. Ich bin ein Troll. Mein Bauch ist nie voll. Laßt uns eilen. Es ist mein Gedanke, daß es gut sein wird zu wissen, ob die Hunde von diesem Ort so gut-zu-essen sind wie die Hunde von dem anderen Ort.« Er machte eine Pause. »Ich will dich nicht beleidigen, U-lat, aber es ist mein Gedanke, daß die Hunde von den Menschendingen mehr gut-zu-essen sind als die Menschendinge selber.« Er kratzte sich mit einer zottigen Pranke an der Wange. »Ich würde immer noch ein Menschending essen, wenn mein Bauch leer ist, aber Hund würde ich lieber essen.« »Dann wollen wir einen Hund suchen.«

»Dein Gedanke ist gut, U-lat.« Die riesige Kreatur streckte die Pranke aus und tätschelte Ulath liebevoll den Kopf, daß der wahrhaftig nicht schwächliche Thalesier fast in die Knie ging.


Behutsam legte die Kindgöttin die Fingerspitzen an die Seiten von Engessas gebrochenem Schädel, und ihr Blick wurde abwesend.
»Nun?« fragte Vanion ungeduldig.
»Dräng mich nicht, Vanion. Das Gehirn ist etwas sehr Kompliziertes.« Sie setzte ihre sanfte Untersuchung fort. »Unmöglich!« murmelte sie schließlich, während sie die Finger zurückzog.
Betuana stöhnte.
»Hör auf zu jammern, Betuana«, tadelte Aphrael sie sanft. »Ich meinte damit nur, daß ich es nicht hier tun kann. Um Engessa zu heilen, muß ich ihn woanders hinbringen.«
Vanion blickte sie fragend an. »Auf die Insel?«

Die Kindgöttin nickte. »Dort habe ich die Dinge unter Kontrolle. Hier befinden wir uns in Cynesga – in Cyrgons Hoheitsgebiet. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er mir die Erlaubnis gäbe, und wenn ich ihn noch so nett bitten würde. Kannst du hier beten, Betuana?«

Die Königin der Ataner schüttelte den Kopf. »Nein. Nur in Atan.«

»Ich werde mit eurem Gott darüber reden. Es ist Zeit, daß er ein bißchen weltoffener wird.« Sie beugte sich wieder über Engessa und legte ihm die Hand auf die Brust. Der Atem des atanischen Generals schien auszusetzen, und plötzlich überzog Rauhreif sein Gesicht und den Körper. »Ihr habt ihn getötet!« rief Betuana mit schriller Stimme.

»Pst, Ruhe! Ich habe ihn nur eingefroren, um die Blutung zu stillen, bis ich ihn zur Insel bringen kann. Die Verwundung selbst ist gar nicht so sehr das Problem, sondern die Blutung, die das übrige Gehirn beschädigt. Das Einfrieren verringert sie, und mehr kann ich derzeit nicht tun. Aber es müßte genügen, ihn nach Sarna zu bringen, ohne seinen Zustand noch weiter zu verschlechtern.« »Es ist hoffnungslos!« klagte Betuana verzweifelt.

»Was redest du da? In ein oder zwei Tagen kann ich ihn wieder auf den Beinen haben – doch zuvor muß ich ihn auf die Insel bringen, wo mir die Zeit untersteht. Mit dem Gehirn wird es keine Schwierigkeiten geben. Aber das Herz ist so … ach, vergiß, was ich gesagt habe, und hör gut zu, Betuana. Sobald ihr, du und Vanion, Engessa nach Sarna gebracht habt, begibst du dich zur atanischen Grenze, so schnell du nur laufen kannst. Sobald du darüber bist, wirfst du dich auf die Knie und betest zu deinem Gott. Er wird stur und eigensinnig sein – das ist er immer! – aber laß nicht locker! Fall ihm so lange auf die Nerven, bis er nachgibt. Ich brauche eine Erlaubnis, Engessa auf meine Insel zu schaffen. Wenn gar nichts anderes hilft, dann versprich ihm, daß ich auch ihm irgendwann einmal einen Gefallen tun werde. Aber übertreib damit nicht. Du mußt immer wieder betonen, daß ich Engessa retten kann, er dagegen nicht!« »Ich werde tun, wie Ihr befehlt, Göttin!« versicherte Betuana.

»Ich habe nicht befohlen, Betuana, nur vorgeschlagen. Ich habe nicht das Recht, dir zu befehlen.« Die Kindgöttin drehte sich zu Vanion um. »Zeig mir dein Schwert. Ich möchte mir dieses gelbe Blut ansehen.«

Vanion zog seine Klinge und streckte sie ihr mit dem Griff voraus entgegen. Sie schüttelte sich. »Halt du es, Lieber. Bei der Berührung von Stahl wird mir übel.« Sie betrachtete blinzelnd die Flecken auf der Klinge. »Seltsam«, murmelte sie. »Das ist gar kein Blut!«

»Es kam aber aus ihren Körpern, wenn wir sie verwundeten!«

»Möglich, aber Blut ist es trotzdem nicht. Es sieht aus wie flüssige Galle. Klæl holt sich seine Verbündeten von weit her. Diese Riesen, mit denen ihr es zu tun hattet, sind nicht von hier, Vanion. Ihresgleichen gibt es auf dieser Welt nicht!«

»Das ist uns sofort aufgefallen, Göttin.«

»Ich spreche nicht von ihrer Größe oder Gestalt. Sie haben offenbar nicht einmal die gleichen inneren Organe wie Menschen und Tiere. Ich vermute, sie besitzen nicht einmal eine Lunge!«

»Jedes Lebewesen hat eine Lunge, Aphrael – außer vielleicht Fische.«

»Das gilt hier, Lieber. Wenn diese Kreaturen statt Blut eine solche Flüssigkeit in den Adern haben, dann ist es ihre Leber, die …« Stirnrunzelnd hielt sie inne. »Hm, es könnte möglich sein«, murmelte sie ein wenig zweifelnd. »Puh, ich möchte die Luft auf ihrer Welt nicht riechen müssen!«

»Dir ist doch klar, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, wovon du redest, oder?«
Aphrael lächelte. »Das macht nichts, Vanion. Ich liebe dich trotzdem.«
»Danke.«
»Ist schon gut.«


»Es könnte gutes Land sein, Freund Tikume.« Kring zupfte an seinem schwarzen Lederwams und ließ den Blick über die felsige Wüste schweifen. »Es ist offenes Land und nicht allzu zerklüftet. Es brauchte bloß Wasser – und einige gute Leute.« Die beiden ritten an der Spitze ihres ungeordneten Trupps aus Peloi-Kriegern. Tikume grinste. »Wenn man es recht bedenkt, Freund Kring, ist das im Grunde genommen alles, was die Hölle wirklich braucht.«

Kring lachte. »Wie weit ist es bis zu diesem cynesganischen Lager?«

»Noch etwa fünfzehn Meilen. Es dürfte ein leichter Kampf werden, Domi Kring. Die Cynesganer sind beritten und kämpfen mit Krummschwertern, so ähnlich wie eure Säbel; aber ihre Pferde sind minderwertig und taugen nicht viel, und die Cynesganer sind zu bequem, mit ihren Schwertern zu üben. Außerdem tragen sie wallende Roben mit weiten, baumelnden Ärmeln, so daß sie sich beim Kampf meist in ihrer eigenen Kleidung verfangen.« Kring grinste wölfisch.

»Sie laufen jedoch recht gut«, fügte Tikume hinzu, »aber sie kommen immer zurück.«
»Ins selbe Lager?« fragte Kring ungläubig.

Tikume nickte. »Das macht es sogar noch leichter. Wir müssen sie nicht einmal suchen.«

»Unvorstellbar! Sind ihre Anführer etwa verrottende Baumstümpfe?«

»Soviel ich gehört habe, erhalten sie ihre Befehle von Cyrgon.« Tikume rieb sich den frisch barbierten Schädel. »Hältst du es für eine Sünde zu sagen, daß sogar ein Gott dumm sein kann?«

»Solange du es nicht von unserem Gott behauptest, hast du meines Erachtens nichts zu befürchten.«

»Also, mit der Kirche möchte ich mich wirklich nicht anlegen.«

»Patriarch Emban ist ein vernünftiger Mann, Domi Tikume. Er wird dich bestimmt nicht verraten, wenn du unfreundliche Dinge über unseren Feind sagst.« Kring richtete sich in den Steigbügeln auf, um über die bräunliche, steinübersäte Weite der Wüste von Cynesga zu spähen. »Ich kann es kaum erwarten«, gestand er. »Es scheint mir eine Ewigkeit her, seit ich zum letzen Mal so richtig gekämpft habe.« Er ließ sich wieder in den Sattel sinken. »Oh, fast hätte ich es vergessen. Ich habe mit Freund Oscagne über die Möglichkeit einer Prämie für cynesganische Ohren gesprochen. Er wollte absolut nichts davon hören.«

»Das ist höchst bedauerlich. Die Aussicht auf eine Belohnung stärkt den Kampfgeist.«

»Es kann sogar zur Gewohnheit werden. Droben in Nordatan haben wir gegen Trolle gekämpft. Ich hatte einem toten Troll bereits ein Ohr halb abgesäbelt, als ich mich plötzlich daran erinnerte, daß es mir niemand abkaufen würde. – Der Hügel dort sieht aber merkwürdig aus, findest du nicht?« Er deutete auf eine beinahe makellose Kuppel, die aus dem Wüstenboden ragte.

»Ja, wirklich ungewöhnlich«, pflichtete Tikume bei. »Es ist überhaupt kein Geröll am Hang – nur Staub.«

»Vielleicht eine Art Staubdüne? In Rendor gibt es Sanddünen, die genauso aussehen. Dort wirbelt der Wind den Sand herum, bis er sich zu solchen runden Hügeln aufgehäuft hat.«
»Verhält Staub sich denn genauso wie Sand?«
»Offenbar. Da vorn haben wir den Beweis.«

Und dann, während sie noch darauf blickten, geriet der Hügel in Bewegung und verwandelte sich in die grauenhafte Fratze Klæls. Das Ungetüm erhob sich schwerfällig, wobei gewaltige Katarakte aus Staub von seinen glänzend schwarzen Schwingen flossen.

Kring riß heftig an den Zügeln. »Ich wußte, daß mit diesem Hügel etwas nicht stimmte!« Er verfluchte seine Unaufmerksamkeit und befahl seinen Männern, Angriffsstellung zu beziehen.

»Diesmal ist er nicht allein gekommen!« rief Tikume. »Sieh doch! Er hat Soldaten unter seinen Schwingen versteckt!«

»Verdammt große Kerle, nicht wahr?« Kring spähte blinzelnd zu den gerüsteten Kriegern, die auf sie losstürmten. »Aber ob groß oder klein – sie sind Fußsoldaten. Das ist uns Vorteil genug, nicht wahr?«

»Und ob!« Tikume grinste. »Das dürfte ein größerer Spaß werden, als hinter Cynesganern herzujagen.«

»Ich frage mich, ob sie Ohren haben.« Kring zückte seinen Säbel. »Falls ja, sollten wir sie vielleicht doch einsammeln. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Freund Oscagne sich doch noch erweichen läßt.«

»Dies herauszufinden, gibt es nur eine Möglichkeit!« Tikume hob seinen Speer und stürmte voran.

Diese Taktik der Peloi schien Klæls Soldaten zu verwirren. Die ungestümen Pferde der Nomaden waren behende wie Rotwild, und daß die östlichen Peloi statt mit dem Säbel mit dem Wurfspieß kämpften, war ein weiterer Vorteil. Die Reiter teilten sich in kleine Gruppen, bildeten Formationen und griffen an. Jede Rotte konzentrierte sich auf ein anderes der in Stahl gerüsteten Ungeheuer, und jeder Peloi stieß seinen Spieß aus nächster Nähe in den Leib eines der Riesen und wich sogleich zur Seite, um dem Gegner kein Verteidigungsziel zu bieten. Nach mehreren solcher Angriffe waren die vorderen Reihen der feindlichen Krieger beinahe gespickt mit Kurzspießen.

Für die gepanzerten Soldaten schien die Lage immer hoffnungsloser zu werden. Sie schlugen mit ihren schweren Streitkolben nach ihren flinken Angreifern, hieben für gewöhnlich jedoch nur durch die Luft und erzielten kaum einen wirkungsvollen Treffer.

»Guter Kampf!« rief Kring seinem Freund nach mehreren Sturmangriffen keuchend zu. »Sie sind zwar riesig, aber nicht schnell genug.«

»Und auch in keiner besonders guten Verfassung«, fügte Tikume hinzu. »Der letzte, den ich aufgespießt habe, hat wie ein undichter Blasebalg geschnauft.«

»Ja, offenbar haben sie wirklich Schwierigkeiten mit dem Atmen, nicht wahr?« pflichtete Kring ihm bei. Plötzlich kniff er die Augen zusammen. »Warte mal! Sag deinen Kindern, sie sollen nur auf die Kreaturen zustürmen, kurz vor ihnen umdrehen und keine Wurfspieße mehr vergeuden!«
»Was soll das, Domi? Was hast du vor?«
»Warst du schon mal im Hochgebirge?«
»Ein paarmal. Wieso?«

»Erinnerst du dich, wie schwer es da oben ist, genug Luft zu bekommen?«

»Ganz am Anfang, ja. Ich hab' mich ziemlich benommen gefühlt.«

»Eben! Ich weiß zwar nicht, wo Klæl seine Soldaten rekrutiert hat; aber sie sind ganz bestimmt nicht von hier. Ich habe den Eindruck, sie sind dichtere Luft gewöhnt. Zwingen wir sie dazu, uns zu verfolgen. Warum sollten wir uns die Mühe machen, jemanden zu töten, wenn die Luft uns diese Arbeit abnehmen kann?«

»Einen Versuch wäre es wert.« Tikume zuckte die Schultern. »Es macht aber bei weitem nicht soviel Spaß.«

»Den können wir uns später mit den Cynesganern machen«, tröstete ihn Kring. »Erst wollen wir Klæls Fußsoldaten zu Tode hetzen. Dann können wir Cyrgons Reiterei niedermachen!«


»Richte dich einfach nach mir«, forderte Stragen Talen auf, als sie die wacklige Treppe zu dem Speicherraum hinaufstiegen. »Ich kenne Valash inzwischen recht gut, so daß ich seine Reaktion ein bißchen besser abschätzen kann als du.« »Wie Ihr meint«, entgegnete Talen schulterzuckend. »Ihr kommt besser mit ihm klar als ich.«

Stragen öffnete die Tür zum Speicherraum. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen. Dann bahnten die beiden sich ihren Weg durch das wirre Durcheinander zu Valashs Ecke.

Der dürre Daziter im Brokatwams war heute nicht allein. Ein hagerer Styriker mit offenen, schwärenden Wunden im Gesicht saß zusammengesackt am Tisch. Der rechte Arm des Mannes baumelte kraftlos an seiner Seite; die rechte Hälfte des mit Geschwüren gezeichneten Gesichts hing ebenfalls schlaff hinab, und das rechte Auge wurde vom Lid fast gänzlich bedeckt. Er murmelte vor sich hin, offenbar ohne sich seiner Umgebung bewußt zu sein. »Jetzt ist keine gute Zeit, Vymer«, sagte Valash.

»Aber es ist außerordentlich wichtig, Meister Valash«, rief Stragen rasch. »Na gut. Aber faßt Euch kurz.«

Beim Näherkommen drehte Talen sich der Magen um. Von dem fast bewußtlosen Styriker ging ein überwältigender Gestank nach verwesendem Fleisch aus.
»Das ist mein Gebieter«, sagte Valash knapp.
»Ogerajin?« fragte Stragen.
»Woher kennt Ihr seinen Namen?«

»Ihr habt ihn einmal erwähnt, glaube ich – vielleicht war es auch einer Eurer Freunde. Ist er nicht zu krank, um auf den Beinen zu sein?«

»Das dürfte Euch nichts angehen, Vymer. Was ist das für eine wichtige Information, die Ihr für mich habt?«

»Nicht ich, Meister Valash. Reldin hat etwas in Erfahrung gebracht.« »Dann rede schon, Junge!«

»Jawohl, Meister Valash.« Talen deutete eine Verneigung an. »Ich war heute in einer Hafenschenke und konnte die Gespräche einiger edomischer Seeleute mit anhören. Sie waren sichtlich aufgeregt; deshalb hab' ich mich unauffällig ein bißchen näher zu ihnen gesetzt, um vielleicht herauszufinden, weshalb sie so außer Fassung waren. Tja, Ihr wißt ja, wie Edomer über die Kirche von Chyrellos denken.« »Komm zur Sache, Reldin!«

»Jawohl, Meister Valash. Ich wollte vorab nur die äußeren Umstände erklären. Jedenfalls war einer dieser Edomer eben erst eingelaufen. Er wies die anderen an, sofort jemanden in Edom zu benachrichtigen – Rebal, glaube ich, sagte er. Offenbar war dieser Seemann gerade erst von Valesien gekommen. Als sein Schiff dort auslief, kam es an einer Flotte vorbei, die sich dem Hafen von Valles näherte.« »Was ist so bedeutungsvoll daran?« fragte Valash ungehalten.

»Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen. Daß dieser Seemann so aufgeregt war, lag daran, daß alle Schiffe besagter Flotte die Banner der Kirche von Chyrellos gehißt hatten und sich überall an der Reling Männer in Panzerrüstung drängten. Er faselte irgend etwas davon, daß die Ordensritter hierher kämen, um ganz Tamuli ihren Glauben aufzuzwingen.« Valash starrte ihn entsetzt und offenen Mundes an.

»Sobald ich das gehört hatte, hab' ich mich davongestohlen. Vymer meinte, es würde Euch vielleicht interessieren; aber ich war mir da nicht so sicher. Es kann uns doch egal sein, wenn Elenier über Religion streiten. Das betrifft uns ja nicht, oder?« »Wie viele Schiffe waren es?« würgte Valash hervor, und die Augen quollen ihm aus den Höhlen.

»So genau war der Seemann nicht, Meister Valash.« Talen grinste. »Ich hatte das Gefühl, daß er gar nicht fähig war, so weit zu zählen. Aber soviel ich verstanden habe, erstreckte diese Flotte sich von Horizont zu Horizont. Wenn diese Männer in Rüstung tatsächlich Ordensritter sind, würde ich denken, daß sie alle an Bord dieser Schiffe sind. Ich habe schon so manches über diese Burschen gehört, und ich möchte ganz bestimmt nicht, daß sie hinter mir her sind. Wieviel, meint Ihr, ist diese Information wert, Meister Valash?« Valash langte geistesabwesend nach seinem Beutel.

»Waren kürzlich irgendwelche Boten aus den Lagern in den Wäldern hier, Meister Valash?« fragte Stragen plötzlich.
»Das dürfte Euch nicht interessieren, Vymer.«

»Wie Ihr meint, Meister Valash. Ich dachte nur, Ihr solltet sie vielleicht warnen, sich so frei heraus in der Öffentlichkeit zu unterhalten. Mir sind da zwei Burschen aufgefallen. Sie sahen aus, als würden sie im Wald hausen. Einer sagte zum anderen, daß sie nichts tun könnten, solange Scarpa keine Anweisungen von Cyrga habe. Wer ist Cyrga? Ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Das ist kein Wer, Vymer«, erklärte Talen ihm, »sondern ein Wo. Cyrga ist eine Stadt drüben in Cynesga.«

»Ach, wirklich?« Stragen spielte den Neugierigen. »Den Namen habe ich noch nie zuvor gehört. Wo liegt diese Stadt? Welchen Weg müßte man nach Cyrga nehmen?« »Der Weg führt dicht am Brunnen von Vigay vorbei!« warf der sieche Ogerajin theatralisch ein.

Valash entrang sich ein würgender Laut, und er schwenkte abwehrend die Hände vor dem Gesicht seines Gebieters, doch Ogerajin wischte sie zur Seite. »Seht zu, daß ihr den Morgen im Rücken habt!« fuhr der Styriker fort. »Meister Ogerajin!« warnte Valash mit quiekender Stimme.

»Ruhe, Bube!« brüllte Ogerajin ihn an. »Ich werde die Frage dieses Reisenden beantworten. Wenn es ihm gefällt, vor Cyrgons Antlitz zu treten, um sein getreuer Diener zu werden, muß er wissen, wie er zu ihm findet. Nachdem der Brunnen von Vigay hinter Euch liegt, folgt dem Weg nordwestwärts in die Wüste, in Richtung der Verbotenen Berge, wohin sich niemand ohne Cyrgons Erlaubnis begeben darf, es sei denn, auf eigene Gefahr. Sobald Ihr diese finsteren Höhen erreicht, sucht die Säulen Cyrgons; denn wenn sie Euch nicht den Weg weisen, wird Cyrga Euch für immer verborgen bleiben.«

»Bitte, Meister!« flehte Valash händeringend. In seinen Augen hatte sein Gebieter sich offensichtlich in einen redseligen alten Irren verwandelt.

»Ich habe dir Schweigen geboten, Bube! Noch ein Wort, und es ist dein Tod!« Ogerajin wandte sich wieder Stragen zu und fixierte ihn mit dem einen ihm verbliebenen Auge. »Laßt Euch nicht von der Salzwüste abschrecken, Reisender, welche die Nomaden nicht zu überqueren wagen. Reitet kühn über das tödliche Weiß, in der nur jene Elenden ihr Leben fristen, die vom Gesetz verdammt wurden, in Fronarbeit das kostbare Salz zu gewinnen.

Am Rande der Salzwüste seht Ihr sie dann vor Euch, tief am Horizont: die dunklen Umrisse der Verbotenen Berge. Und wenn es Cyrgon gefällt, werden seine feurigen weißen Säulen Euch zu seiner verborgenen Stadt führen.

Laßt Euch nicht von der Ebene der Gebeine erschrecken. Die Skelette sind jene der Namenlosen, welche sich bis zum Tod für Cyrgons Auserwählte plagen und der Wüste ausgesetzt werden, sobald sie ihren Zweck erfüllt haben.

Habt Ihr die Ebene der Gebeine hinter Euch, gelangt Ihr zum Tor der Täuschung, welches Cyrga bewacht, die Verborgene Stadt. Das Auge Sterblicher vermag dieses Tor nicht zu erkennen. Grell erhebt es sich als eine von Rissen durchzogene Mauer vor den Verbotenen Bergen und versperrt den Weg dorthin. Ihr braucht jedoch nur den Blick auf Cyrgons weiße Säulen und den Schritt zu der Leere dazwischen zu richten. Traut nicht dem Bild, das Euer Auge Euch vorgaukelt; denn die scheinbar feste Mauer ist wie Dunst und wird Euch den Weg nicht verwehren. Schreitet unbeirrt hindurch und folgt dem dunklen Korridor zum Tal der Helden, in dem Cyrgons ungezählte Regimenter in unruhigem Schlaf des Fanfarenschalls seiner mächtigen Stimme harren, die sie herbeirufen wird, auf daß sie seine Feinde aufs neue vernichten.«

Valash trat einen Schritt zurück und winkte Talen drängend zu, mit ihm zu kommen.

Neugierig folgte Talen dem Daziter.

»Achte nicht auf Meister Ogerajin, Junge!« beschwor Valash Talen. »Er fühlt sich seit einiger Zeit nicht wohl und leidet hin und wieder unter solchen Anfällen.«

»Das habe ich mir bereits gedacht, Meister Valash. Solltet Ihr ihn nicht zu einem Arzt bringen? Er phantasiert, wißt Ihr?«

»Ein Arzt könnte nichts mehr für ihn tun.« Valash zuckte die Schultern. »Nur mach Vymer klar, daß der alte Mann gar nicht weiß, wovon er redet.« Valash schien ungewöhnlich besorgt über Ogerajins Wahnzustände zu sein.

»Das weiß er bereits, Meister Valash. Wenn jemand so geschwollen daherredet, kann man ziemlich sicher sein, daß er nicht mehr richtig im Kopf ist.«

Der sieche Styriker erging sich derweil immer noch in seinen pathetischen Schilderungen. »Jenseits des Tales der Helden werdet Ihr Cyrgons Born, der die Verborgene Stadt mit Wasser versorgt, in der Sonne glitzern sehen.

In der Nähe des Borns, in den von künstlichen Wasserläufen durchzogenen Feldern, werdet Ihr das schwarze Cyrga wie einen Berg innerhalb seiner nachtschwarzen Mauern aufragen sehen. Begebt Euch furchtlos dorthin, hinein in die Stadt der Gesegneten, Cyrga. Steigt die steilen Stufen zum Gipfel dieses vom Dunkel umgebenen Berges hinauf, und dort, an der Krone der bekannten Welt, werdet Ihr inmitten dieser Schwärze das Weiß finden, wo die Säulen aus Kalkstein das Dach des Allerheiligsten tragen, in dem Cyrgon für alle Ewigkeit den heiligen Altar beleuchtet.

Werfet Euch sodann vor dem Antlitz des Herrschers jener Welt auf den Boden und ruft: ›Vanek tyek Alcor! Yala Cyrgon!‹ Und sollte es ihm gefallen, wird er Euch erhören. Gefällt es ihm jedoch nicht, wird er Euch in Staub verwandeln.

Das, Reisender, ist der Weg zur Verborgenen Stadt, die am Herzen des Mächtigen Cyrgon liegt, des Königs und Gottes von allem, was je war und je sein wird.« Dann verzog sich das Gesicht des wahnsinnigen Styrikers zu einer Maske grotesker Heiterkeit, und er begann schrill und durchdringend zu kichern.