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Kapitel 18

Quinn war im Labor und mit weiteren Berechnungen beschäftigt, als ich am Montagmorgen als Erstes in den Weinkeller ging. Er hatte dunkle Augenränder, sein Blick war trüb, und seit Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert. Wo immer er gewesen sein und was immer er gemacht haben mochte, er hatte dadurch keinen inneren Frieden gefunden, wenn man nach seinem Gesichtsausdruck urteilen wollte. Wahrscheinlich hatte er ein bisschen zu viel Zeit mit seinem Trinkkumpanen, Johnnie Walker, verbracht.

»Fühlen Sie sich gut?«, fragte ich.

Sein Blick verriet, dass er meinen feinen Sinn für Humor zu würdigen wusste. »Brix-Werte liegen bei null. Ich pumpe den Vorlaufmost ab, danach wird gepresst.«

Da wir offenbar kein Blatt vor den Mund nahmen, sagte ich: »Samstagnacht ist jemand in Jack Greenfields Weinkeller neben seinem Haus eingebrochen. Jack hat die Einbrecher bei der Arbeit gestört und wurde bewusstlos geschlagen.«

Endlich zeigte Quinn so etwas wie eine Regung. »Im Ernst? Geht es ihm gut?«

»Eine leichte Gehirnerschütterung, aber er ist zu Hause. Eli und ich waren gestern Morgen da, um Sunny zu helfen.« Ich griff nach dem Papier mit seinen Berechnungen. Ohne hochzublicken, sagte ich: »Wer das getan hat, wusste ganz genau, wonach er suchen musste. Nur die allerbesten Weine wurden gestohlen.«

Er nahm mir das Papier aus der Hand. »Sie war es nicht, Lucie.«

»Bis neun Uhr war sie bei Mick Dunne«, sagte ich. »Der Einbruch fand zwischen elf und zwölf Uhr statt.«

»Was hat sie denn bei Mick Dunne gemacht?«

»Zu Abend gegessen. Er engagiert sie als Weineinkäuferin.«

Sein leichtes Lächeln verriet, dass das neu für ihn war. »Ich war schon neugierig, wie lange es dauern würde, bis sie sich zusammentun würden. Mick Dunne ist genau Nics Typ von Klient.« Er zeigte durch das Laborfenster auf die Gärbottiche. »Solange Sie hier sind, können Sie mir mit dem Vorlaufmost helfen. Wir tun ihn vorerst in Tank Nummer sechs.«

Er verließ das Labor, bevor ich etwas sagen konnte, und schob die Pumpe zu einem der Bottiche. Für mich war das Gespräch noch nicht beendet.

Ich ging zu ihm. »Was macht Sie so sicher, dass sie nicht zu Jack gefahren ist, nachdem sie Mick verlassen hat?«

»Weil sie den Rest der Nacht mit mir verbracht hat.« Sein Ton war sachlich, aber immer noch ziemlich scharf. »Geben Sie mir mal bitte ein paar Schellen.«

Ich holte die Schellen. Das verschaffte mir einige Sekunden, um mich zu sammeln, auch wenn ich das Gefühl hatte, er hätte mir gerade den Draht einer Klaviersaite ums Herz geschlungen und würde ihn strammer ziehen, je länger wir redeten. Nicole hatte nicht mit Mick geschlafen. Sie hatte mit Quinn geschlafen.

»Wenn sie die ganze Nacht mit Ihnen verbracht hat, kann sie nicht bei Jack eingebrochen haben, schätze ich.«

Er schob einen Schlauch in den Gärbottich. »Wohl kaum.«

»Dann frage ich mich, wer es getan hat.«

»Ich bin sicher, der Sheriff wird es herausfinden.«

Er steckte einen Schlauch vom anderen Ende der Pumpe in den Edelstahltank Nummer sechs. »Sie glauben, ich würde sie schon wieder in Schutz nehmen, stimmt’s?«

»Das habe ich doch nicht gesagt.«

»Das brauchten Sie auch nicht. Kommen Sie mal mit!« Er ließ den Schlauch, wo er war, und führte mich zu dem langen Tisch. »Schauen Sie sich das an!«

Ein kunstvoll geschnitzter Kürbis mit einer Hexe, die über den Herbstmond flog, lag darauf. Er zog Streichhölzer aus seiner Jeanstasche und zündete die Kerze im Inneren des Kürbisses an. Das orangefarbene Licht warf flackernde Schatten auf ein Gestell mit Weinfässern. Er dimmte die Beleuchtung, und der Effekt war noch gruseliger.

»Nic hat das gemacht. Und das hier auch.« Er holte einen zweiten Kürbis von seiner Werkbank und stellte ihn auf den Tisch.

Er zündete die Kerze an, und plötzlich leuchtete mir ein wütender Freddie the Fox entgegen. Ich erstarrte auf der Stelle, als ich die drohenden Augen und Fangzähne sah. »Mein Gott, Quinn! Warum hat sie ausgerechnet Freddie the Fox geschnitzt?«

»Was reden Sie da?« Er drehte den Kürbis vorsichtig um, damit er ihn besser betrachten konnte. »Das ist doch kein Fuchs. Das ist ein Werwolf. Das erkennt doch jeder.«

Das Blut pochte mir in den Schläfen. »Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich mir sicher. Was ist nur los mit Ihnen?«

»Nichts.«

»Kommen Sie, Lucie. Sie sehen aus, als würden Sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«

»Nein, danke! Mit mir ist alles in Ordnung.« Ich trat einen Schritt zurück. Er hatte recht. Es war ein Werwolf, nicht Freddie. »Entschuldigung! Natürlich ist es ein Werwolf. Er ist sehr gut gemacht. Beide. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so talentiert ist.«

Er lächelte gequält. »Schon als Kind begeisterte sie sich für Halloween. Sie hat die Kürbisse auf dem Markt gekauft und hergebracht, um sie am Samstagabend zu schnitzen. Ging davon aus, dass ich die Messer und Werkzeuge habe, die sie dafür brauchte.«

»Darf ich Sie fragen, wann sie hier ankam?«

Er starrte mich an, antwortete aber einigermaßen bereitwillig. »Um zehn. Halb elf. Ich weiß es nicht. Sie kam einfach.« Er stellte die beiden Kürbisse direkt nebeneinander. »Sie hat bei mir auf der Couch geschlafen. Anscheinend ist Schluss zwischen ihr und Shane.«

Der Draht um mein Herz lockerte sich, und ich fragte mich, weshalb ich mich mehr dafür interessierte, ob sie mit meinem Winzer geschlafen hatte als mit meinem Gelegenheits-Liebhaber.

»Was wird sie denn jetzt machen?«, fragte ich.

»Jack dazu überreden, ihr die bewusste Flasche zu verkaufen, und sich dann den Staub von den Füßen schütteln, wenn sie Atoka verlässt.«

»Finden Sie es schade, dass sie geht?«

Wir gingen zurück zur Pumpe. »Halten Sie mal bitte den Schlauch fest. Ob ich es schade finde? Sie machen wohl Scherze. Nic weiß immer noch, wie sie mich auf die Palme bringen kann.« Er drückte auf den Schalter der Pumpe, und wir beobachteten, wie der Saft aus dem Gärbottich in den Tank floss. »Mann, ich würde ihr sogar den Rückflug bezahlen, wenn auch nicht erste Klasse. Das ist jetzt nämlich ihre Art zu reisen.«

»Nett von Ihnen, sie über Nacht bei sich logieren zu lassen.« Ich musste das Geräusch der Pumpe übertönen.

»Ja, ich bin eben ein netter Bursche.«

»Manchmal.« Ich lächelte ihn an.

Vielleicht war er aber auch erneut der Trottel vom Dienst für sie gewesen. Schließlich war er jetzt ihr Alibi für den Einbruch bei Jack. Benutzte Nicole Quinn ein letztes Mal? Egal, wo sie gewesen war, ich glaubte immer noch, dass sie irgendwie mit diesem Raub zu tun hatte.

»Weshalb meinten Sie, dieser Werwolf sei ein Fuchs?« Er stellte die Pumpe ab und unterbrach meine Gedanken.

»Irgendjemand hat am Samstagmorgen ein ausgestopftes Tier aufgeschlitzt, mit roter Farbe übergossen und mir vor die Haustür gelegt. Freddie the Fox – vielleicht haben Sie ihn mal in einem der Geschäfte in der Stadt gesehen.«

»Habe ich. Jesses, das ist doch krank.«

»Wer das getan hat, wollte mich wahrscheinlich so weit bringen, dass ich das Treffen zur Jagd, das hier morgen stattfindet, absage. Wollte mich einschüchtern, schätze ich.«

»Haben Sie es Amanda oder Shane oder irgendjemand sonst vom Jagdclub erzählt?«

»Nein. Ich wollte sie nicht in Aufregung versetzen. Übrigens«, sagte ich, »Shane kommt nachher, um das Gelände abzureiten. Er will sicherstellen, dass alle Hürden und Sprünge in Ordnung sind. Sie haben Ihrem Freund doch nicht gesagt, er könne heute vorbeikommen und auf die Hirschjagd gehen, oder?«

Er zog meinen Schlauch zum nächsten Bottich. »Nein. Aber, Lucie, Sie hätten es Shane erzählen sollen. Oder jemand anderem. Was geschieht, wenn dieser Spinner versucht, die Sprünge zu sabotieren? Wenn er sie mit Stacheldraht umwickelt oder irgendwo Löcher buddelt, wo niemand es vermutet? Da könnte sich jemand richtig verletzen. Reiter. Pferde. Die Jagdhunde.«

Die Farbe wich mir aus dem Gesicht.

»Rufen Sie Shane an«, sagte er. »Sie müssen ihn erwischen, bevor er herkommt. Mit dem Rest der Bottiche werde ich schon allein fertig. Außerdem kommt gleich Manolo.«

Doch ich konnte Shane nirgends auftreiben, und auch auf seinem Handy war er immer noch nicht erreichbar.

»Ich rufe Amanda an«, sagte ich. »Vielleicht erwischt sie ihn ja.«

»Erzählen Sie ihr alles«, sagte Quinn. »Sie muss es erfahren.«

Ich erreichte sie gerade noch, bevor sie ihr Haus verlassen konnte, um zur Vorstandssitzung eines Krankenhauses zu fahren. Sie unterbrach mich kein einziges Mal, während ich ihr die Geschichte mit Freddie berichtete. Als ich fertig war, sagte sie noch immer nichts.

»Amanda? Bist du noch da?«

»Ja. Ja, natürlich.« Sie klang verwirrt. »Entschuldige, ich überprüfe gerade etwas.«

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Natürlich habe ich das.«

»Kannst du Shane auftreiben?«

»Keine Angst, den kriege ich schon. Aber da fällt mir noch etwas Besseres ein«, sagte sie. »Ich komme selbst vorbei und schau mir die Sache an.«

»Sei vorsichtig.«

»Worauf du Gift nehmen kannst«, sagte sie.

Ich legte auf und erzählte Quinn, was Amanda gesagt hatte.

»Ihre Cousine rief an, während Sie telefoniert haben«, sagte er. »Sie möchte, dass Sie zurückrufen. Es geht um das Mittagessen mit ihr und Ihrem Großvater.«

»Ich habe gerade mit Pépé gesprochen«, sagte Dominique, als ich sie am Telefon hatte, »und ich habe ihn aufgeweckt. Ich hatte gedacht, ihr beide könntet doch zum Mittagessen zu mir kommen. Oder er könnte hier zumindest seinen Morgenkaffee trinken. Aber ich habe keine vernünftige Antwort aus ihm herausholen können.«

»Sein großes Abendessen mit den Freunden vom Marshallplan findet heute Abend statt«, sagte ich. »Ich glaube, er will sich noch einen Schönheitsschlaf gönnen, bevor er heute Nacht wieder feiert.«

»Ja, wahrscheinlich wird er sich wie üblich die ganze Nacht um die Ohren schlagen«, sagte sie. »Na gut, lassen wir ihn schlafen. Willst du nicht kommen?«

»Ja«, sagte ich. »Gibt es irgendetwas Besonderes?«

»Nichts Besonderes. Aber ich habe dich in Kürze nicht mehr gesehen.«

Wenn sie sprachliche Fehler machte, war irgendetwas im Busch.

»Ich komme«, sagte ich.

Kurz vor zwölf verließ ich das Weingut. Bis dahin hatte ich noch kein Lebenszeichen von Amanda oder Shane bekommen, falls sie überhaupt irgendwo auf unserem Grundstück herumritten.

Entgegen meiner Gewohnheit schaute ich in den Rückspiegel, als ich auf die Atoka Road fahren wollte. Rote Farbe bedeckte beide Steinsäulen, die die Einfahrt zum Weingut markierten.

Noch mehr Blut.